Fünf Jahre nachdem deutsche Soldaten im Zweiten Weltkrieg Terror über Europa und die Welt gebracht hatten, begannen im Herbst 1950 im Kloster Himmerod in der Eifel unter strenger Geheimhaltung die ersten Gespräche eines 15-köpfigen Expertengremiums rund um Wolf Graf von Baudissin über die Wiederbewaffnung westdeutscher Streitkräfte. Mit der »Himmeroder Denkschrift« entstand die Blaupause für den Aufbau der Bundeswehr und mit ihr die Konzeption der Inneren Führung. Nie wieder sollten deutsche Streitkräfte zu einem »Staat im Staate« werden, sondern eine Armee »überzeugter Staatsbürger«, die fest auf dem Boden des Grundgesetzes steht – demokratisch legitimiert und kontrolliert. Die Errichtung einer komplett neuen Truppe als klarem Bruch zur Wehrmacht war für die Teilnehmer von Himmerod Grundvoraussetzung für die Wiederbewaffnung Deutschlands. Es sollten noch weitere fünf Jahre vergehen, bis schließlich am 12. November 1955, vor dem Hintergrund des sich zuspitzenden Kalten Krieges, die ersten 101 Soldaten in den Dienst der neu geschaffenen Bundeswehr gestellt wurden. Seither ist die Bundeswehr geleitet von drei Prinzipien, welche das Fundament der deutschen Streitkräfte bilden.

Soldatinnen und Soldaten sind als »Staatsbürgerinnen und Staatsbürger in Uniform« dem demokratischen Rechtsstaat verpflichtet, gleichzeitig gelten für sie die Grund- und Menschenrechte. Eine Einschränkung dieser Rechte darf nur auf Basis eines Gesetzes erfolgen. Militärischer Befehl und Gehorsam verlangen von ihnen nicht bedingungslos zu gehorchen, sondern Befehle aus eigener Einsicht zu befolgen, dabei kritisch zu denken, zu hinterfragen und dem eigenen Gewissen folgend zu handeln.

Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee. Über Budget, Personalstärke und Auslandseinsätze entscheiden allein die Abgeordneten des Deutschen Bundestages. Dabei ist neben dem Verteidigungsausschuss (Art. 45a GG) ein wesentliches Element der parlamentarischen Kontrolle das Amt der oder des Wehrbeauftragten (Art. 45b GG). Als Hilfsorgan des Parlaments wachen die jeweiligen Wehrbeauftragten über die Grundrechte der Soldatinnen und Soldaten sowie über die Einhaltung der Grundsätze der Inneren Führung. Dabei lag der Fokus bis zur Aussetzung der Wehrpflicht im Jahr 2011 besonders auf den Wehrpflichtigen. Im Jahr 2022 kam die Wehrbeauftragte in 4.000 Vorgängen, darunter 2.343 persönliche Eingaben, ihrem Kontrollauftrag nach. Hinzu kamen 70 angemeldete und unangemeldete Truppenbesuche im In- und Ausland.

Die Innere Führung an sich – als dritte Säule der modernen Bundeswehr – ist heutzutage vor allem im Vergleich zu anderen Armeen ein Charakteristikum. Als ethisches Koordinatensystem bestimmt sie das Spannungsfeld zwischen staatsbürgerlicher Selbstständigkeit und Freiheit der Soldatinnen und Soldaten sowie militärischer Ordnung.

Innere Führung basiert auf dem Prinzip der Wertschätzung und Anerkennung der individuellen Persönlichkeit, unabhängig vom Geschlecht. Dennoch bedurfte es für die vollständige Öffnung der Bundeswehr für Frauen vor über 20 Jahren erst einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs. Seither bringen die Soldatinnen ihre Fertigkeiten, Perspektiven und Erfahrungen in alle Bereiche der Bundeswehr ein und haben sie positiv verändert. Trotz der langen Zeitspanne sind die im Gesetz zur Gleichstellung von Soldatinnen und Soldaten festgelegten Quoten immer noch nicht erreicht. Der Anteil der Soldatinnen lag im Jahr 2022 bei lediglich 13,21 Prozent. Die Bemühungen, die Gleichstellung der Geschlechter in der Bundeswehr voranzutreiben, reichen bei Weitem nicht aus. Dies zeigt sich insbesondere bei Betrachtung der Spitzenpositionen. Die wenigen gern mit Vorzeigekarrieren präsentierten Soldatinnen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass Frauen auf den Führungsebenen nach wie vor durchgehend deutlich unterrepräsentiert sind. Das betrifft selbst den Sanitätsdienst, in dem sie seit 1975 Dienst leisten und der Frauenanteil seit Jahren hoch ist. Generell gab es im Jahr 2022 in der gesamten Bundeswehr lediglich drei Soldatinnen in einem Generalsrang, während über 200 männliche Soldaten diese Ränge bekleiden.

Stets gültig und in ihrem Wesen nach zeitlos, ist das Konzept Innere Führung ein Spiegel der Gesellschaft im Wandel. So trägt sie dem jeweiligen Stand der politischen, gesellschaftlichen und sozialen Entwicklung in der Bundesrepublik Rechnung. Insbesondere in den Anfangsjahren der Bundeswehr musste sich die Innere Führung im Ausbildungsalltag der Soldaten bewähren. Nicht selten waren noch aus der Wehrmacht übernommene Methoden gebräuchlich, Todesfälle junger Soldaten in der Ausbildung machten bundesweit Schlagzeilen. Das damals noch neue Konzept der Inneren Führung wurde von Vorgesetzten teilweise als »Verweichlichung« ihrer Untergebenen abgestempelt und Fürsorgepflichten nicht in dem Umfang wahrgenommen, wie sie in einem Rechtsstaat erforderlich sind. Mit dem Zentrum Innere Führung als zentrale Denkfabrik innerhalb der Bundeswehr wurden moderne Ausbildungs- und Führungsgrundsätze, wie beispielsweise das Hinterfragen von Befehlen sowie der Sinnhaftigkeit von Einsätzen, als Instrument der Verwirklichung der Inneren Führung umgesetzt. »Moderne Menschenführung« ist zur Realität in der Bundeswehr geworden. Einzelne noch vorkommende Verfehlungen im Vorgesetztenverhalten werden nicht geduldet. Sie haben disziplinare Untersuchungen und eine entsprechende Ahndung zur Folge.

Mit großer Sorge ist derzeit zu beobachten, wie in allen gesellschaftlichen Bereichen extremistische Kräfte die freiheitliche und pluralistische Gesellschaft – mit Demokratie, Rechtsstaat und der Achtung der Menschenwürde – bedrohen und gefährden. Auch wenn die absolute Mehrheit der Soldatinnen und Soldaten fest auf dem Boden des Grundgesetzes steht, ist die Bundeswehr nicht frei von derartigen Verfehlungen. Deswegen ist es umso wichtiger, immer wieder deutlich zu machen, dass Rechtsextremismus in der Truppe keinen Platz hat. Freie Meinungsäußerung endet in der Kaserne, aber auch in den sozialen Medien bei Hass, Rassismus und Antisemitismus. Umfassende Reformprozesse in der Bundeswehr haben in den letzten Jahren die Sensibilität gegenüber Rechtsextremismus um ein Vielfaches gesteigert. Dazu zählen auch Schulungen hinsichtlich der Gefahren und Risiken beim Umgang mit den sozialen Medien, welche die Bundeswehr immer mehr in das Ausbildungsprogramm integriert. Die Soldatinnen und Soldaten müssen wissen, dass die Meldung jedweder Art von (rechts-)extremen Vorkommnissen keinen Verrat darstellt, sondern vorbildliche Kameradschaft und gelebte Innere Führung ist. Die gleichen Maßstäbe sind an die in der Bundeswehr nicht zu tolerierenden Verstöße gegen die sexuelle Selbstbestimmung anzulegen.

Ganz neuen Herausforderungen sowohl in der Einsatzrealität als auch in der Inneren Führung steht die Bundeswehr durch den völkerrechtswidrigen und brutalen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine gegenüber. Der Bundeskanzler sprach in seiner Regierungserklärung am 27. Februar 2022 vor dem Deutschen Bundestag von einer Zeitenwende. Der deutschen Gesellschaft und insbesondere den Soldatinnen und Soldaten drängt sich erstmals seit Langem wieder die Frage auf, wie sie sich selbst wohl verhalten würden und welche Werte für sie wichtig sind, um für sie einzustehen und sie zu verteidigen.

Landes- und Bündnisverteidigung ist wieder Kernauftrag unserer Streitkräfte. Die Bundeswehr muss sich daher neuen Aspekten der Personalbetreuung und Personalführung, zur Einsatzbereitschaft, zu Familie, Kriegsangst und Traumata stellen und im Rahmen der Inneren Führung nach Lösungen suchen. Entscheidender Faktor dabei ist und bleibt eine gelungene Kommunikation. Denn weiterhin stehen die Soldatinnen und Soldaten im Zentrum dieses Konzepts. Das fordert vor allem auch die Vorgesetzten, insbesondere die Disziplinarvorgesetzten, in ihren Führungsaufgaben. Die Aufgabenhäufung und die dadurch verursachten Belastungen machen es für diese jedoch immer schwerer, jeder einzelnen Soldatin und jedem einzelnen Soldaten die erforderliche Aufmerksamkeit zu schenken. Umso wichtiger, und auch das muss Innere Führung leisten, ist eine Bundeswehr, die ihren Aufträgen entsprechend personell ausgestattet ist.

So bitter es ist, der Krieg gegen die Ukraine hat dazu geführt, dass die Bundeswehr ein hohes Maß an gesellschaftlicher, politischer und medialer Aufmerksamkeit erfährt. Vielen Menschen ist bewusst, dass und wofür sie die Bundeswehr brauchen. Sie sprechen mit Respekt von den Soldatinnen und Soldaten. Das sollte ermutigen, auch die Erinnerungskultur mehr als bisher zu stärken und in die Breite der Gesellschaft zu tragen. Gedenken darf keine Phrase bleiben. Verschiedene Gedenk- und Erinnerungsorte der Bundeswehr – wie z. B. das Ehrenmal der Bundeswehr beim Bundesministerium der Verteidigung, der Wald der Erinnerung am Schwielowsee und die Gedenkstele unmittelbar vor dem Verteidigungsausschuss – sind angemessene Orte für ein würdevolles Gedenken. Dabei darf keine Distanz zwischen der Bundeswehr, dem Deutschen Bundestag und der Gesellschaft entstehen. Innere Führung betrifft alle und muss daher durch eine gute Diskussionskultur, welche von allgemeiner Wertschätzung und gegenseitigem Interesse getragen wird, in der breiten Gesellschaft als solche mehr wahrgenommen werden.

Das Konzept der Inneren Führung ist und bleibt ein Erfolgsmodell. Sie ist das Markenzeichen der Bundeswehr – einer selbstbewussten Truppe, die von anderen Streitkräften international geachtet wird und für Pflichtbewusstsein, Kameradschaft, Disziplin, Loyalität, Toleranz, Gerechtigkeit und Vielfalt steht.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2023.