Sandra Winzer: Frau Cunningham, lassen Sie uns über Ihren künstlerischen Werdegang sprechen. Wie kam es zu dem Moment, dass Sie sagten: »Mit meiner Osteoporose werde ich Kunst und Tanz machen und genau das in meine künstlerische Arbeit einbinden«?

Claire Cunningham: Es war ein längerer Entwicklungsprozess. Ich wollte schon immer Sängerin werden, das war meine Sehnsucht, und die Behinderung war schon immer ein Teil meines Lebens. Früh aber bemerkte ich wiederkehrenden Ableismus in der Gesellschaft; eine Perspektive, die einzelne Körper im Vergleich zu anderen als minderwertig beschreibt.

Ich selbst fühlte mich damals nicht wohl in meinem Körper. Der Gesang war ein Weg, Menschen nicht die Möglichkeit zu geben, zu sehen, wie ich mich bewege und den Unterschied meines Körpers zu anderen nicht darzustellen. Ich würde auf die Bühne gehen, ein Lied singen und wieder runtergehen. Hier ging es nur um den Klang, nicht um die Bewegung.

Später zeichnete sich ein Wechsel in meiner Denkweise ab. Mir war klar: Die Krücken werde ich niemals los, sie sind Teil meines Lebens und meines Körpers. Ich realisierte, dass ich als Sängerin nie ausreichend Geld verdienen würde, und wollte mein Repertoire als Künstlerin erweitern. Dass ich weiter Performance machen würde, war mir klar, also überlegte ich, was ich tun könnte. Gerade im Oberkörper habe ich viel Kraft, weil ich, seit ich 14 Jahre alt bin, Krücken nutze. Diese Stärke wollte ich mir zunutze machen.

Zunächst beschäftigte ich mich viel mit akrobatischer Performance, das brachte mich zum Tanz. Ich begann mit Coaches sowie Choreografinnen und Choreografen zu arbeiten. Diese Arbeit weckte mein Interesse daran, wie mein Körper funktioniert und wie er sich mit den Krücken bewegt.

Anders als die Gesellschaft es mir einzureden versuchte, realisierte ich, dass es kein Problem darstellt, wie ich mich bewege. Aus Langeweile und Neugier heraus fing ich an, kleine Tricks und Balanceübungen mit den Krücken auszuprobieren. So ging es immer weiter.

In einem Interview sagten Sie, »Die Krücken sind eine Erweiterung meines Körpers«. Hat es gedauert, bis Sie die Krücken als Teil von sich angenommen haben – von einem Hilfsmittel hin zu einer zentralen Rolle?

Ja, ich würde definitiv sagen, dass die tänzerische Arbeit die Art, wie ich auch selbst meine Krücken betrachte, beeinflusste. Als Teenager sah ich die Krücken eher als reines Werkzeug. Mit dem Tanz änderte sich meine Denkweise. Es gab einen besonderen Moment, in dem ich die Improvisation im Tanz für mich entdeckte. Manchmal improvisiert man gemeinsam mit anderen Tänzerinnen und Tänzern. Die Haut berührt sich, man muss aufeinander eingehen. Also dachte ich: Was wäre, wenn ich auf meine Krücken genauso tänzerisch reagieren würde, wie auf eine andere Person? Das war ein wichtiger Moment für mich, weil ich begann, sie nicht mehr auf konventionelle Weise, vertikal unter meinen Armen, zu nutzen. Ich fing an, sie auf den Boden zu legen und nahm mir Zeit, mit ihnen zu spielen und sie sanft zu behandeln. Mir wurde klar, wie wichtig sie für mich sind. Damit waren die Krücken nicht mehr nur ein Objekt für mich. Ich sah nun auch die Möglichkeit, durch sie zu fühlen.

Kam es so zu der von Ihnen benannten »Crip-Technik«?

Ganz genau. Bei dieser Technik gibt es verschiedenste Arten, die Krücken im Tanz zu nutzen und ihr Potenzial in Kombination mit meinem Körper zu erkennen. Ich fing an, gewisse Regeln zu entwerfen, wie ich mit den Krücken arbeiten möchte – einen bestimmten Stil, der sich vom Tanzstil anderer Menschen, die mit Krücken tanzen, unterscheidet.

Inwiefern unterscheidet sich Ihr Stil von dem der anderen Tänzerinnen und Tänzer?

Bei mir ist eine unausgesprochene Regel, dass ich die Gummifüße der Krücken nicht vom Boden abhebe. Etwas in mir findet es wichtig, dass dieser Teil der Krücken immer in Bodenkontakt bleibt. Würde ich die Füße vom Boden trennen, hätte ich das merkwürdige Gefühl, dass die Krücken ein Stück Leben verlieren würden. Für mich sorgt der Bodenkontakt für Lebendigkeit. Es gibt wunder schöne Tanztechniken, bei denen die Tänzerinnen und Tänzer die Krücken durch die Luft schweben lassen. Ich persönlich wende aber eine andere Technik an. Jeder entwickelt für sich andere Interessen und Richtungen beim Tanz.

Wie kann Tanz als Mittel gegen Diskriminierung helfen?

Tanz verkörpert das Potenzial und das Wissen darüber, dass in der Welt unterschiedlichste Körper gemeinsam existieren. Wenn wir immer nur gleich geformte Körper sowie Tänzerinnen und Tänzer auf den Bühnen erleben, sehen wir einen sehr begrenzten demografischen Ausschnitt des Lebens. Eine Behinderung lässt Raum, Zeit und Kommunikation anders erleben. Nichtbehinderte Menschen nutzen bestimmte Systeme für Bewegung und Kommunikation, Systeme, die jemand entwickelt hat. Wir müssen oft andere Wege gehen, um etwas Bestimmtes tun zu können. Choreografie ist in diesem Fall für mich auch ein Erlebnis von Raum, Zeit und Kommunikation. Behinderte Menschen können dafür sorgen, dass diese Kunstform wächst. Es gibt so viele außergewöhnliche Erfahrungen, die im Tanz auf den Bühnen enthüllt werden können.

Haben Sie Diskriminierung erlebt?

Glücklicherweise wurde ich nie auf aggressive Weise diskriminiert, was vielen anderen Kolleginnen und Kollegen leider passiert ist. Ich habe Diskriminierung eher auf unterschwellige Weise erlebt. Ich erinnere mich an Momente in meiner Jugend, in denen mir geraten wurde, dass ich keine Musik, sondern Kunst machen sollte. Das Argument war, dass ich dabei ja nur an einem Schreibtisch sitzen müsste. Zu dieser Zeit konnte ich noch nicht beschreiben, was an dieser Sichtweise falsch war. Ich fühlte aber, dass daran etwas nicht richtig für mich ist. Solche Argumente trieben mich noch stärker hin zur Musik. Sie vernachlässigten, losgelöst von dem, was ich möchte, meine Perspektive und waren eher darauf ausgerichtet, dass andere sich wohlfühlen. Das empfinde ich als Diskriminierung. Diese Art von Ableismus will mir zeigen, was mir erlaubt ist zu tun. Menschen werden durch solche Perspektiven unterschwellig darauf konditioniert, dass sie bestimmte Dinge nicht tun können oder sollten.

Mit sechs Jahren ging ich zum Ballettunterricht. Ab einem bestimmten Punkt war es mir nicht möglich, die gleichen Dinge mit meinem Körper zu tun wie die anderen Schülerinnen und Schüler. Hier fehlte mir die Erfahrung, dass jemand überlegt, wie eine Übung oder ein Tanz so verschoben werden können, dass sie auch für mich möglich werden. Bei mir blieb die Erfahrung zurück: Ich kann nicht tanzen, also gehöre ich nicht in diese choreografische Welt. Ich glaube, mich überrascht es am meisten, dass ich tatsächlich nun auf der Bühne gelandet bin. (lacht)

Sie erforschen experimentelle Tanztechniken. Ihre Arbeit als Choreografin berücksichtigt den nichtnormativen Körper und Sie sagen, dass Sie traditionelle Tanztechniken bewusst ablehnen. Warum das und – provokant gefragt: Ist das nicht auch eine Form der Diskriminierung?

Niemand hört es gern, wenn behinderte Menschen sagen: Nichtbehinderte Menschen haben hier keinen Zugang. Andersherum aber war es so viele Jahre in Ordnung. Ich habe realisiert, dass die klassischen Tanztechniken auf nichtbehinderten Körpern beruhen und eine bestimmte Ästhetik aufrechterhalten. Ich lehne nicht die Prinzipien hinter diesen Tanztechniken ab, sondern eher die Kodierung, die sagt: »So und nicht anders muss es aussehen.« Wichtiger ist für mich die Intention hinter einer bestimmten Tanztechnik. Was ist die Absicht, was versucht die Technik mit unserem Körper zu tun? Das sollte wichtiger sein als die Umsetzung an sich. Ich glaube daran, dass viele Tanztechniken mit vielen unterschiedlichen Körpern umgesetzt und dargestellt werden können. Viele klassische Tanztechniken aber wurden um einen normativen Körper herum entwickelt. Das macht sie unerreichbar für andere. Ich wünsche mir, dass darüber nachgedacht wird, wie Techniken geöffnet werden können, und dass das Ergebnis nicht immer gleich aussehen muss. Wer heute eine Tänzerin oder ein Tänzer sein möchte, darf Techniken offener anwenden. Das alles öffnet den zeitgenössischen Tanz und lässt neue Momente zu. Es geht um die Öffnung gewisser Grenzen, die bislang gesetzt schienen. Menschen vergessen zu fragen: Worauf hat diese Technik ursprünglich mal reagiert? Was ist ihre Absicht? Ich möchte möglichst vielen Menschen meine Arbeit zugänglich machen.

Welche Fragestellungen stehen für Sie als Hochschullehrerin im Mittelpunkt?

Ich möchte noch mehr Zeit damit verbringen, die Idee der Crip-Technik zu verbreiten. Ich bin sehr interessiert daran, noch mehr Wissen auch von anderen behinderten Künstlerinnen und Künstlern aufzusaugen. Zu verstehen, warum sie etwas so oder so machen. Ich möchte verbreiten, dass Menschen mit Beeinträchtigung in der Welt existieren. In meiner Arbeit nenne ich das »Crip-Navigation«. Die verschiedenen Tanztechniken gehen auf Reisen, denn all diese Menschen haben eine unglaubliche Art und Weise, die Welt zu navigieren. Mein Team und ich verbreiten Informationen zur von uns so benannten »Ästhetik des Zugangs«. Es geht darum, wie Künstlerinnen und Künstler Methoden für mehr Zugänglichkeit in ihre Arbeit einfließen lassen. Dabei möchte ich alle Elemente künstlerisch-tänzerischer Arbeit beachten – vom barrierefreien Proberaum bis hin zur E-Mail-Kommunikation: Wie kann Tanzperformance noch zugänglicher für alle werden? Dafür möchte ich mich einsetzen.

Was möchten Sie Ihren Studierenden mitgeben?

Ich lade sie dazu ein, ihre eigenen Fragen zu stellen. In Bezug auf die Ethik, wie wir Künstlerinnen und Künstler mit- und untereinander arbeiten und wie wir uns auf das Publikum einlassen können, um Menschen in unserer Arbeit wirklich willkommen zu heißen. Ich möchte den Studierenden Methoden mitgeben, die es ihnen möglich machen, auch auf sich selbst als Künstlerinnen und Künstler zu achten.

Wie kann man aus Ihrer Sicht Kulturakteure stärken und Diskriminierung reduzieren?

Es geht viel um Präsenz und Sicht barkeit. Vor allem das Erkennen einer Art und Weise, wie Dinge umgesetzt werden. Wir dürfen hinterfragen, warum Dinge so sind, wie sie sind und prüfen, ob sie aktualisiert oder geöffnet werden sollten. Das hat auch viel mit Formalien und Deadlines zu tun. All solche Dinge sollten wir für mehr Barrierefreiheit aufweichen. Wir als Gesellschaft müssen verstehen: Das Problem ist nie das Individuum, das Dinge anders tut. Es ist das System selbst. Das historisch-eingefahrene Modell von behinderten Menschen hat vieles geprägt, was Betroffenen die Welt schwer macht. Gemeinsam müssen wir diese Perspek tive erweitern.

Was wünschen Sie sich für die Entwicklung des Tanzes?

Ich wünsche mir ein noch breiteres Sortiment an Body-und-Mind-Erfahrungen, und dass ihnen mehr Raum in künstlerischen Programmen geschenkt wird. Die Arbeiten sollen Diversität ausstrahlen und von unterschiedlichsten Menschen gestaltet werden: von behinderten Menschen, People of Color, von übergewichtigen Menschen oder Aktivistinnen und Aktivisten. Ihre Perspektive war bislang nicht präsent genug in unseren künstlerischen Ausdrucksformen. Oft wurde ihre Sicht von Menschen beschrieben, die die jeweiligen Erfahrungen nie selbst gemacht haben. Es gibt noch so viel mehr über die Welt zu erleben und zu verstehen.

Vielen Dank.

Zu den Begriffen

Ableismus ist ein am englischen Wort »ableism« angelehnter Begriff, der aus der US-amerikanischen Behindertenbewegung stammt. Er beschreibt die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung, indem Menschen an bestimmten Fähigkeiten gemessen und auf ihre Beeinträchtigung reduziert werden.

Behinderte Menschen: Diese Begriffswahl beruht auf dem sozialen Modell von Behinderung, welches davon ausgeht, dass Behinderung entsteht, weil in der Gesellschaft unterschiedliche Fähigkeiten und Voraussetzungen von Menschen nicht berücksichtigt werden. Es hat sich aus den politischen Emanzipationsbewegungen der britischen Behindertenbewegung entwickelt und versteht Behinderung als gelebte Erfahrung von Barrieren. Das HZT arbeitet mit dem Begriff »Behinderte Menschen« in Kontrast zu »Menschen mit Behinderung«.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 4/2024.