Ludwig Greven spricht mit dem Leiter des Humboldt Forum über die mangelnde Repräsentanz Ostdeutscher in großen Kultureinrichtungen, über Brüche und Kompetenzen, das neue Interesse an Kunst aus der DDR und über die Vorteile in der Diskussion mit dem Globalen Süden

Ludwig Greven: Sie sind einer der wenigen Ostdeutschen, die eine große deutsche Kultureinrichtung leiten. Weshalb ist das 34 Jahre nach der Wiedervereinigung immer noch so?

Hartmut Dorgerloh: Das ist auch in vielen anderen Bereichen leider so, an den Hochschulen, den Gerichten, in großen Unternehmen, der Politik und eben auch in der Kultur. Wobei ich da zum Glück auch nicht allein bin. Es gibt Kollegen mit DDR-Biografie, die große westdeutsche Einrichtungen leiten wie meine Kommilitonen Frank Matthias Kammel das Bayerische Nationalmuseum und Bernhard Maaz die Pinakotheken in München, und Kolleginnen wie Ulrike Lorenz, die erst im Westen Karriere gemacht hat und nun Präsidentin der Stiftung Weimarer Klassik ist. Aber insgesamt war 1989 eine scharfe Zäsur, die dazu geführt hat, dass viele Westdeutsche Führungspositionen im Osten übernommen haben. Zum Teil, weil es dort politisch belastete Leitungen gab, zum Teil aber auch, weil wir als nachrückende Generation nicht die Netzwerke hatten, nicht die internationalen Erfahrungen haben konnten und nicht so viel publiziert hatten. Vor allem jedoch auch, weil die Auswahlkommissionen überwiegend westdeutsch besetzt waren. Die kannten uns gar nicht.

Gibt es inzwischen auch ein Netzwerk ostdeutscher Kulturmenschen?

Ein explizites Netzwerk von Leuten in führenden Positionen gibt es meines Wissens nicht. Aber ich spreche das offensiver an, weil es eine besondere und meines Erachtens auch gute Situation in Deutschland ist, dass wir diese unterschiedlichen Erfahrungen haben.

Sollte man bei der Besetzung von Führungsposten in der Kultur verstärkt darauf achten, dass Ostdeutsche angemessen und gleichberechtigt berücksichtigt werden?

Je weiter die friedliche Revolution und die Einheit zurückliegen, desto weniger ist die ostdeutsche Prägung bei den Menschen spürbar. Wobei das schon mehrere Generationen braucht. Ich gehe davon aus, dass zunehmend Personen mit ostdeutscher und auch osteuropäischer Biografie in Führungspositionen kommen. Das finde ich sehr gut. Beim Humboldt Forum haben übrigens alle drei Vorstände eine Ostbiografie. Das ist etwas Besonderes. Aber die Herkunft allein ist natürlich kein entscheidendes Kriterium. Es geht um die Eignung und da müssen wir uns nicht verstecken.

Aber es geht schon auch um die unterschiedlichen Perspektiven und die Erfahrungen des Umbruchs und der Transformation.

Es gibt einen einzigen Bereich der Kulturarbeit, in dem nach 1990 in allen neuen Ländern Ostdeutsche in Führungspositionen kamen. Das ist die Denkmalpflege. Das hatte gute Gründe. Sie kannten nämlich die Kulturlandschaft. In der DDR-Zeit waren sie in der zweiten Reihe und übernahmen danach als Landeskonservatoren die Verantwortung. Wie wichtig das war, sieht man an der äußerst gelungenen Wiederherstellung der Kulturlandschaften überall im Osten. Die Rettung der Innenstädte, der Schlösser oder der Kirchen wäre ohne Menschen, die aus der DDR kamen, die die Gegebenheiten und Mentalitäten ebenso gut kannten wie den Denkmalbestand, kaum möglich gewesen. In einer sehr harten und schwierigen Zeit in den 1990er Jahren haben da die fünf ostdeutschen Chefs in den Landesdenkmalämtern sehr Beeindruckendes geleistet. Aber bis heute hat kein Ostdeutscher ein westdeutsches Landesdenkmalamt geleitet.

Braucht es auch auf anderen Feldern mehr ostdeutsches Selbstbewusstsein?

In den 1990er Jahren habe ich oft gehört: Man merkt gar nicht, dass du aus dem Osten kommst. Das war als Lob gemeint. Ja, man kann aus gutem Grund selbstbewusst sein. Wir kommen aus dem Osten und haben deshalb einen anderen Erfahrungs horizont, zum Beispiel konkret bei der Arbeit im Humboldt Forum mit Blick auf Tansania, Namibia, Angola, Vietnam oder Chile, weil die Beziehungen der DDR zu diesen Ländern ganz anders waren. Auch das Verhältnis zum Kolonialismus. Ich erfahre momentan bei einem Projekt, das wir mit Kollegen des Nationalmuseums in Tansania machen, dass meine Herkunft aus der DDR wertschätzend wahrgenommen wird und dass das Türen anders öffnen kann. Das ist etwas, was wir in den Dialog mit dem Globalen Süden einbringen. Da begegnen uns Menschen, für die Deutschland die DDR war. Das ist eine Stärke Deutschlands, der man sich bewusster sein sollte, auch im Vergleich zu anderen europäischen Kolonialmächten, die diese Doppelstaatlichkeit nach 1945 nicht hatten.

Spielt es heute überhaupt noch eine Rolle, wo jemand geboren wurde?

Themen, die mit der DDR zu tun haben, nicht nur das kulturelle Erbe, erhalten im Moment eine neue Aufmerksamkeit. Gerade hat das Haus der Geschichte eine Ausstellung über Heavy Metal in der DDR eröffnet. Das Hygienemuseum befasst sich mit seiner Zeit in der DDR und das Haus der Kulturen der Welt widmet sich dem Ostphänomen der »Bruderländer«, um nur einige Beispiele zu nennen. Im Humboldt Forum beschäftigen wir uns in diesem Jahr zentral mit dem Palast der Republik und den verschiedenen Erinnerungsrealitäten, die diesem Ort eingeschrieben sind. Viele stellen auf einmal fest, dass es in der DDR sehr viel mehr gab, als man nach 1990 wahrnehmen wollte und was einen spezifischen Beitrag für die Kunst- und Kulturgeschichte in Deutschland bildet. Damals hieß es, die Museumslandschaft im Osten muss erst mal auf westdeutschen Standard gebracht werden. Nun entdeckt man, dass es viele spannende künstlerische Positionen aus der DDR gibt. Warum wurden diese so lange nicht gezeigt oder gehört oder angekauft? Das gilt auch für andere Sparten. In Konzertprogrammen tauchen wieder Werke von DDR-Komponisten auf. Das war lange nicht zu hören. Und wenn sich Dirk Oschmann an der Universität in Leipzig mit DDR-Literatur beschäftigt, stößt er auf großes Interesse wie ich auch, wenn ich mich in meinen Lehrveranstaltungen mit DDR-Architektur befasse. Vor allem seitens der zweiten und dritten Generation, die gar keine unmittelbare biografische Verbindung mehr mit diesen Themen haben.

Vielleicht liegt es ja gerade daran, dass diejenigen, die an den Kämpfen und Umbrüchen nach der Wende und Einheit beteiligt waren, langsam abtreten.

Für viele Künstlerinnen und Künstler aus der DDR war es tragisch, dass viele nach 1990 völlig in Vergessenheit gerieten und erst jetzt zum Teil wiederentdeckt werden. Da gab es einen großen Verlust an Wissen und auch an Kunstwerken, die nicht sorgfältig bewahrt oder einfach entsorgt wurden. Jetzt merkt man endlich, wie wichtig Orte wie das Museum Utopie und Alltag in Beeskow und Eisenhüttenstadt waren und sind und dass Nachlässe oder Archive aus der DDR-Zeit überdauert haben. Inter national besteht schon länger großes Interesse daran.

Die DDR wurde eben komplett abgewickelt. Wird sie nun restauriert?

Als Architekturhistoriker und Denkmalpfleger habe ich erlebt, wie schwierig es in den Jahren nach 1989 war, auch nur kleinste Reste der Berliner Mauer zu erhalten. Man wollte die Mauer nicht, also sollte alles schnell weg. Ich finde das symptomatisch für den gesamten Umgang mit der DDR. Die Position, dass man so etwas teilweise erhält, auch als Mahnmal, damit so etwas nie wieder passiert, dass man eine Stadt so brutal teilt, war damals überhaupt nicht mehrheitsfähig.

Das Humboldt Forum soll ein Ort des Austauschs, der Diversität und Vielstimmigkeit sein. Prädestiniert Sie Ihre eigene Lebensgeschichte für diese Aufgabe?

Da gäbe es sicher noch andere. Aber ich stelle fest, dass es mir vielleicht aufgrund meiner Erfahrungen leichtfällt, anderen zuzuhören. Ich bin quasi mit dem »Neuen Deutschland« und der »Tagesschau« groß geworden. Wenn man das verinnerlicht hat, weiß man, es gibt in der Regel nicht nur eine Meinung. Das hilft mir in meiner Aufgabe, wenn es gilt, die verschiedenen Perspektiven zusammenzubringen und zu sagen, ich höre dir erstmal zu, vielleicht hörst du mir dann auch zu. Und ich gestehe dir zu, dass du eine begründete andere Meinung hast.

Ein Schwerpunkt des Humboldt Forums auch aufgrund der entsprechenden Sammlungen ist die Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus und dem kolonialen Erbe. Manche betrachten auch die Wiedervereinigung als Kolonialisierung der ehemaligen DDR durch den Westen, Sie haben ja Beispiele genannt. Gibt es da Parallelen?

Ich bin mit diesem Begriff in dem Kontext sehr vorsichtig. Aber was es schon gab und gibt, ist so ein Überlegenheitsgefühl. Diese Grundhaltung des Westens, die anderen müssen erstmal von uns lernen, die müssen so denken und handeln wie wir, denn wir bringen das richtige System. Da gibt es durchaus Parallelen mit dem Kolonialismus. Ich würde aber nicht sagen, dass das identisch ist. Ich bin jedenfalls froh, dass ich in einem demokratischen Gemeinwesen auf der Basis des Grundgesetzes lebe, mit Rechtsstaatlichkeit, Meinungs- und Kunstfreiheit. Das würde ich nicht als Kolonialismus bezeichnen, sondern als Überwinden einer Diktatur. Es wäre allerdings gut gewesen, wenn die Wiedervereinigung, oder besser die friedliche Revolution, dazu genutzt worden wäre, auf beiden Seiten Neues zu schaffen, beispielsweise eine neue, gemeinsame Verfassung.

Als Ausdruck der Kolonialisierung kritisieren einige bis heute, dass der Palast der Republik abgerissen und durch den Nachbau des Hohenzollernschlosses ersetzt wurde, einem Monument der imperialen, kolonialen Epoche. Als Denkmalpfleger hätten Sie doch eigentlich dafür sein müssen, den Palast als zentrales Symbol der DDR und ihrer Architektur und als Erinnerungsort vieler ihrer Bürger zu erhalten, die dort Jugendweihe feierten oder in der Disko waren.

Ich glaube, wenn es heute noch einmal die Debatte gäbe, würde sie anders ausgehen. Auch unter ökologischen Gesichtspunkten. Aber man hat damals mit Zweidrittelmehrheit im Bundestag und auch mit vielen Stimmen von Ostabgeordneten so entschieden. Ich hatte sehr viel Sympathie für Überlegungen, den Palast nicht eins zu eins zu erhalten, aber ihn weiterzubauen. Oder das, was nach der Asbestsanierung noch da war, zu nutzen, etwa für die Wiederherstellung einer historischen Gebäudekubatur. Da hat es andere Möglichkeiten gegeben. Wir merken jedenfalls bei unserer Arbeit, dass es wichtig ist, diese historische Phase nicht zu verdrängen. Und dafür wollen wir mit unserem Themenschwerpunkt »Hin und weg. Der Palast der Repu blik ist Gegenwart« ab Mitte Mai einen Beitrag leisten.

Vielen Dank.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 4/2024.