Seit Dezember 2022 führt der Deutsche Kulturrat zusammen mit dem Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, Jürgen Dusel, Werkstattgespräche durch. Die Werkstattgespräche dienen dazu, Diskussionen zu führen und Informationen zu sammeln, um in der zweiten Jahreshälfte 2024 Teilhabeempfehlungen für den Kulturbereich zu formulieren. Teilhabeempfehlungen, in denen es darum gehen soll, wie Kulturorte barrierefreier werden – was deutlich mehr ist, als einen Fahrstuhl einzubauen −, wie mehr Menschen mit Behinderungen eine Ausbildung in Kulturbetrieben absolvieren oder ein künstlerisches Studium aufnehmen können und wie der Arbeitsmarkt Kultur offener für Menschen mit Behinderungen wird.
Ende März 2024 fand das dritte Werkstattgespräch statt, im Mittelpunkt stand das Thema Ausbildung. Expertinnen und Experten haben Daten und Fakten zur Ausbildungssituation in verschiedenen Bereichen vermittelt. Beeindruckt haben mich vor allem drei Beiträge von Künstlerinnen und Künstlern, die sich vor allem durch eines auszeichneten: Normalität, Pragmatismus und Lebensfreude. Der Drehbuchautor und Regisseur Leonard Grobien berichtete von seinem Studium an der ifs Köln und seinem bisherigen beruflichen Werdegang, von der schmerzlichen Ablehnung an der Filmhochschule Babelsberg und augenzwinkernd, dass, wenn er heute seine Bewerbungsunterlagen liest, er sich damals wohl auch nicht genommen hätte. Er schilderte seine erfolgreiche Arbeit als Serienautor und seinen Traum, einen großen, wirklich großen, erfolgreichen Film zu machen. Der Journalist und Schauspieler Jan Kampmann berichtete von pragmatischen Wegen in seinem Volontariat bei einem öffentlich-rechtlichen Sender, von Dreharbeiten und dem Mut, Neues zu wagen. Die Schauspielerin Anna Zander begeisterte bei ihrem Bericht über die Inszenierung von »Mutter Courage« in Augsburg, in der sie Kattrin, die Tochter der Mutter Courage, spielt. Alle drei steckten mit ihrer Begeisterung für ihre künstlerische Arbeit, mit Entdeckerfreude und vor allem der Lust auf Neues an. Alle drei haben Misserfolge, Scheitern, Enttäuschung wegstecken müssen. Alle drei haben eine Behinderung und wurden behindert, beim Zugang zur künstlerischen Ausbildung, beim Ausüben ihres Berufes. Alle drei haben sich vor allem nicht unterkriegen lassen, sie haben sich selbst ermächtigt, sie gehen ihren künstlerischen Weg.
Selbstermächtigung, oder wie aktuell zumeist gesagt: Empowerment, ist Kern künstlerischer Arbeit. Wer bekommt als Künstlerin oder Künstler, speziell als Urheberin oder Urheber, schon einen Arbeitsauftrag auf dem Silbertablett präsentiert? Die meisten beauftragen sich selbst, sie arbeiten sehr oft ungewiss, ob sich überhaupt jemand dafür interessiert, ob die künstlerische Arbeit auf Resonanz stößt. Selbstzweifel, manchmal auch Verzweiflung, für die meisten ein sehr geringes Einkommen und Rückschläge gehören zu dieser Arbeit dazu. Künstlerinnen und Künstler ermächtigen sich aber noch auf andere Weise selbst. Sie treten für ihre Interessen ein, sie schließen sich zu Netzwerken zusammen, sie engagieren sich in Gewerkschaften, sie streiten für angemessene Vergütung, für bessere Arbeitsbedingungen, sie setzen sich gegen Ungerechtigkeiten zur Wehr. Und vieles gerät dadurch in Bewegung, wie z. B. aktuell zu sehen ist an der Festlegung von Honoraruntergrenzen für freiberuflich arbeitende Künstlerinnen und Künstler, die in mit öffentlichen Mitteln geförderten Kulturprojekten arbeiten.
Aber nicht nur Künstlerinnen und Künstler stoßen Veränderungen an. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Kultureinrichtungen verändern diese. Im letzten Jahrzehnt haben Kulturvermittlung und kulturelle Bildung spürbar an Bedeutung gewonnen. Neue Publikumsgruppen wurden und werden in den Blick genommen und mancherorts wird bei der Programmplanung die Vermittlung direkt einbezogen.
Und auch kommerziell arbeitende Kulturunternehmen ändern sich. Da sie unmittelbar auf den Markt reagieren müssen, um wirtschaftlich überleben zu können, sind sie oftmals noch flexibler als Kultureinrichtungen. Sie haben die vorhandenen Zielgruppen im Blick, zielen aber stetig darauf ab, neue zu erschließen und zu erreichen. Bei der Gewinnung und dem Halten von Arbeits- und Fachkräften gehen sie vor allem sehr pragmatisch vor.
Die deutsche Gesellschaft ist divers – das ist eine Binsenweisheit. Die 83,2 Millionen in Deutschland lebenden Menschen haben verschiedene Geschlechter, ganz unterschiedliche Hintergründe, Hautfarben, Vorlieben, Einschränkungen oder Beschränkungen. Manche sind eher konservativ, andere eher progressiv. Manche suchen das Neue, andere halten gerne am Bewährten fest.
Je mehr Diversität in der Gesellschaft wahrgenommen und thematisiert wird, desto stärker wird deutlich, dass nicht alle den gleichen Zugang haben, dass Menschen an der Ausübung ihrer Arbeit behindert werden, dass im Kulturbereich nach wie vor ein Gender-Show-Gap und Gender-Pay-Gap besteht, dass Ältere beim sprichwörtlich »alten Eisen« einsortiert werden, dass Jüngere sich falsch wahrgenommen fühlen, dass Menschen auf ihre familiäre Migrationsgeschichte reduziert werden und vieles anderes mehr. Dabei kann niemand auf nur ein Merkmal reduziert werden, jede einzelne Person kann, je nach Zusammenhang, zu unterschiedlichen Gruppen zugeordnet werden.
Diversität ist anstrengend und kann manches Mal ziemlich »nerven«. Insbesondere dann, wenn es darum geht, den unterschiedlichen Gruppen eine angemessene Repräsentanz zu geben und die gewohnten Pfade zu verlassen. Dazu gehört auch, die eigenen Privilegien bzw. den erreichten Status zu hinterfragen. Bestehende Hürden und rechtliche Hindernisse müssen gegebenenfalls überwunden werden, damit Talente ihren Weg gehen können. Quoten sind manchmal das letzte Mittel, um zu erreichen, dass Diversität tatsächlich umgesetzt wird.
Diversität ist aber vor allem sehr bereichernd – gerade auch in künstlerischer Hinsicht. Ungewohnte Sichtweisen und Ausdrucksformen lassen uns aufmerken, sie wecken unser Interesse und im besten Fall begeistern sie uns. Mit Empathie lassen sich viele Hindernisse überwinden und vor allem mit dem Ansatz, es einfach mal auszuprobieren und zu machen. Die drei Künstlerinnen und Künstler haben den Raum und die Anwesenden beim eingangs erwähnten Werkstattgespräch zum Leuchten gebracht. Sie haben gezeigt, was Selbstermächtigung und Diversität im Kulturbereich erreichen kann.