Sandra Winzer im Gespräch mit der Veranstalterin, Autorin und Aktivistin Rike van Kleef zu Geschlecht und Geschlechtergerechtigkeit in der Pop-Festivalbranche.

Sandra Winzer: Frau van Kleef, in Ihrer Studie »Wer gibt hier den Ton an?« zeigen Sie, dass die These »Männer regieren die Festivalbühnen« keine gefühlte Wahrheit ist. Was haben Sie herausgefunden?

Rike van Kleef: Ich habe die Bühnenprogramme untersucht und mir die Genderverteilung in den Line-ups angeschaut. Heraus kam, dass ein Großteil der Programmpunkte vornehmlich an Männer oder rein männlich besetzte Bands vergeben wird. Insbesondere bei den Headline-Auftritten ist das der Fall, also bei den besonders begehrten Uhrzeiten und damit einhergehend auch den besonders gut bezahlten und beworbenen Auftritten im Rahmen eines Festivalprogramms. Die Wahrscheinlichkeit, als rein männlicher Act in einer solchen Headline-Position zu spielen, ist 8,8-mal so hoch wie für Musiker*innen anderer Genderidentitäten. Es stehen also summa summarum deutlich mehr Männer auf den Festivalbühnen als beispielsweise Frauen und nicht binäre Personen.

Sie haben also nicht nur den Anteil von Männern und Frauen verglichen, sondern auch jenseits der Binarität gesucht …

Ja, das war mir sehr wichtig. Im wissenschaftlichen Arbeiten müssen wir präzise sein. Da es im Leben und auf den Bühnen nicht nur Männer und Frauen gibt, war diese Herangehensweise für mich nur folgerichtig. Aber nicht nur der wissenschaftliche, auch der menschliche Aspekt dieser Herangehensweise ist mir sehr wichtig. Nach wie vor haben wir das große Problem, dass in Wissenschaft und Gesellschaft immer noch mehrheitlich ausschließlich von Männern und Frauen gesprochen wird. Dadurch werden Menschen anderer Genderidentitäten, beispielsweise nicht binäre oder genderfluide Menschen, unsichtbar gemacht. Es war mir ein besonderes Anliegen, das nicht zu tun. In meinen Arbeiten sollen all diese Menschen sichtbar sein, weil sie nun mal existieren.

Wie kamen Sie 2021 darauf, das Thema »Gendergerechtigkeit auf deutschen Festivalbühnen« zu untersuchen?

Als politischer Mensch kann ich nicht gut mit Ungerechtigkeiten umgehen. Ich blicke selbst auf Erfahrungen in der Musikindustrie zurück, die ich heute als sexistisch und diskriminierend beschreiben würde. Schon zu Beginn meines Studiums war mir klar, dass ich mich mit dem Thema wissenschaftlich auseinandersetzen würde. Mit Kolleginnen haben ich außerdem den queerfeministischen Verein »fæmm e. V.« gegründet, in dem sich FLINTA-Personen aus der Branche beispielsweise zu ihren Arbeitserfahrungen austauschen und gegenseitig unterstützen können. Das Engagement bei fæmm brachte mich zu Panels und Diskussionsrunden. Immer wieder stieß ich auf Menschen, die der Meinung waren, dass Sexismus in der heutigen vermeintlich progressiven Musikindustrie nur eine gefühlte Wahrheit und kein Problem mehr sei. Es zeigte sich, dass sich hier zwei Wahrnehmungen konträr gegenüberstehen, also wollte ich das Thema wissenschaftlich fundiert prüfen. Da es kaum Zahlen und Fakten zu dem Thema gab, wollte ich diese selbst beschaffen.

Welche sexistischen oder diskriminierenden Erfahrungen mussten Sie erleben?

Ich erlebte kleinste Mikroaggressionen, aber auch körperliche Übergriffe. Ich wurde unterbrochen, musste mich stärker beweisen als männliche Kollegen. Teilweise wurde ich nicht ernst genommen, musste mehr liefern. Als Tourmanagerin erlebte ich, dass sich ein Tontechniker weigerte, mit mir zu sprechen. Mein ehemaliger Chef vermittelte mir, ich hätte sowieso keine Daseinsberechtigung in dieser Industrie, wenn er mich nicht unter seine Fittiche nähme. Dieses Gefühl zog sich durch. Gewisse Jobs wurden mir gar nicht erst zugetraut. Oft brauchte ich eine andere Person, die mich nachdrücklich empfahl. Es gab aber auch Situationen, in denen mir ein Geschäftspartner an den Hintern griff und umstehende männliche Kollegen das nicht problematisch fanden. Oder Situationen, in denen besagte männliche Kollegen »Witze« über meine Sexualität machten. Dieses breite Spektrum an größeren und kleineren Übergriffigkeiten ist Bestandteil meines Arbeitslebens und meiner Lebensrealität und Spiegel unserer sexistischen und diskriminierenden Gesellschaft.

Ist Ihr persönliches Netzwerk divers?

Dadurch, dass ich mich viel mit Diversität beschäftige und aktiv dahingehend netzwerke, befinde ich mich natürlich in einer besonderen Situation. Ich pflege unheimlich viel Austausch mit FLINTA-Kolleg*innen, Schwarzen Kolleg*innen und Kolleg*innen of Color, queeren Kolleg*innen usw. Dadurch ist mein Netzwerk sehr divers und ich fühle mich darin sehr wohl. In diversen Gruppen zu arbeiten, bringt viele Vorteile und neue Perspektiven mit sich. Zum Glück wachsen FLINTA-Netzwerke aktuell exponentiell. Wir schaffen eigene Empfehlungslisten, Telegram-Gruppen, teilen Jobs und Erfahrungen miteinander. Das genieße ich sehr.

Welche Lösungsansätze empfehlen Sie für mehr Gendergerechtigkeit auf deutschen kulturellen Bühnen?

Es kommt immer darauf an, welche Akteur*innen man mit den jeweiligen Lösungsansätzen anspricht; Menschen in unterschiedlichen Positionen haben unterschiedliche Möglichkeiten inne. Der wohl wichtigste Ansatz liegt im Erkennen des Problems. Wir müssen uns zuhören und ein Gespür für Gendergerechtigkeit bekommen. Erst dann lassen sich Handlungen ableiten.

Das, was auf der Bühne stattfindet, hängt eng mit der Teamaufstellung zusammen. Würden die Teams in Kulturstätten diverser werden, würden automatisch mehr Perspektiven und Netzwerke eingeladen – somit könnte sich auch über das entsprechende Team hinaus eine weitere Diversifizierung einschleichen.

Ich würde mir wünschen, dass sich Programmgestalter*innen aktiv darum bemühen, ihren Horizont zu erweitern und nicht immer die nächstgelegene Wahl zu buchen, die möglicherweise der ohnehin männliche Kollege empfohlen hat. Ich plädiere dafür, bei der Suche nach Programmpunkten, Mehraufwand und Zeit zu investieren. Das Programm wird dadurch nicht nur diverser, sondern auch spannender.

Unterstützer*innen, Medienpartner*innen und Fördermittelgebende sollten die Frage stellen, inwiefern sich die empfangende Entität mit dem Thema Diversität auseinandergesetzt hat. Ich erwarte nicht, dass ab morgen alle Headline-Positionen auf Festivals gender gerecht gestaltet sind. Ich erwarte aber, dass Menschen und Institutionen, die Gelder empfangen, ihre eigene Verantwortung hinsichtlich Diversität erkennen und ernst nehmen und einen Mindestaufwand diesbezüglich vorweisen.

Ihre Untersuchung begann 2021, herausgekommen ist die Studie im Mai 2022. Als Sie die Ergebnisse mit Zahlen untermauert in der Hand hielten – was machte das mit Ihnen?

Zunächst war ich natürlich erleichtert, mit der Arbeit fertig zu sein. Ein Stück weit hatte ich die Ergebnisse erwartet, weswegen sie mich zunächst nicht stark emotionalisierten. Ausnahmen wie die Beobachtung, dass bei »Rock am Ring« 100 Prozent der Headline-Programmpunkte männlich waren, waren natürlich dennoch bemerkenswert. Schnell stellte sich bei mir der Impuls ein, mit diesen Ergebnissen an die Öffentlichkeit gehen zu wollen. Diese Daten fehlten bislang, umso wichtiger war es, sie zu verbreiten. Die Debatte um Geschlechtergerechtigkeit und Diversität wird bisweilen extrem emotional geführt. Der Diskurs wendet sich oft gar gegen Betroffene. Ich dachte: »Auch wenn unseren Empfindungen nicht geglaubt wird und unsere Betroffenheit nicht ausreicht, jetzt habe ich endlich die Fakten auf meiner Seite.« Das wollte ich teilen, damit andere diese Fakten nutzen und darauf aufbauen können.

Was wünschen Sie sich in Sachen Gendergerechtigkeit auf kultu rellen Bühnen in Deutschland idealerweise?

Im Idealfall bewegen wir uns in die Richtung, dass Teams, Entscheidungspositionen und damit auch Programme diverser besetzt werden. Damit meine ich nicht nur die Einbindung von FLINTA- Personen und Männern, sondern auch etwa von Schwarzen Menschen und People of Color oder Menschen mit Behinderungen oder Mobi litätseinschränkungen. Es gibt so viele Menschen, die fantastische Kunst und Musik machen, aber viele von ihnen können ihren Job nicht so ausführen, wie sie es gerne würden. Außerdem wünsche ich mir, dass Themen wie Elternschaft und Queerness präsenter besprochen werden oder die Zunahme antisemitischer oder antimuslimischer, rassistischer Diskriminierung in der deutschen Kulturszene. Es gibt so viele Diskriminierungsaspekte, mit denen wir uns als Gesellschaft bislang nur unzureichend auseinandergesetzt haben. Die Kulturlandschaft in Deutschland ist nach wie vor sehr cis-heteronormativ und männlich. Ich wünsche mir, dass das eher früher als später aufbricht. Wir als Kulturschaffende sollten auf der einen Seite Identifikationsflächen bieten und das abbilden, was ist, also ein realistisches Abbild unserer bereits diversen Gesellschaft präsentieren. Gleichzeitig sollten wir unsere Sichtbarkeit nutzen, um positive Vorbilder zu sein und Visionen und Utopien zu schaffen.

Wenn wir Prozesse auf, hinter und vor den Bühnen anstoßen wollen, können wir nicht außer Betracht lassen, dass insbesondere der Veranstaltungssektor, dazu gehört auch der Livemusik-Bereich, in den letzten Jahren stark von diversen Krisen getroffen wurde. Zuerst kam die Coronapandemie, dann die Inflation und Wirtschaftskrise. Menschen und Unternehmen stehen steigenden Lebenshaltungs- und Produktionskosten gegenüber. Ohnehin schon prekär beschäftigte Personen und Menschen, die unter Existenzängsten leiden, haben jetzt noch größere Probleme, sich im Beruf zu halten. Ich wünsche mir, dass Menschen es sich leisten können, von ihrer Kulturarbeit leben zu können – und zwar in einem gerechten Umfeld, in dem sie ihr wirkliches Potenzial ausschöpfen können.

Ein weiterer Aspekt: Viele Menschen fühlen sich bei dem Begriff »Gender« bereits provoziert. Das verhindert den Diskurs und sorgt dafür, dass wir nicht über eine Problembeschreibung hinauskommen. Wir haben noch einen langen Weg vor uns, wissenschaftliche Fakten können aber helfen, einen produktiven Diskurs zu gestalten, der uns dabei unterstützen kann, unsere Ziele zu erreichen.

Gutes Schlusswort. Vielen Dank.

Der Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 4/2024.