Was ist genau unter Oral History zu verstehen? »Oral History« ist ein feststehen-der Begriff, der wörtlich übersetzt »mündliche Geschichte« bedeutet. Oral History wurde ab Ende der 1960er Jahre in Europa immer bekannter und sprach erst mal einen übersichtlichen Kreis von westeuropäischen Forscherinnen und Forschern unterschiedlicher Disziplinen an: Entschlossen legten sie den Fokus ihrer jeweiligen Forschungen auf die Stimmen der »Unsichtbaren« und der unterdrückten sozialen Gruppen (Arp, Leo, Maubach, 2019). Die Historikerinnen und Historiker fangen damals ihrerseits mitunter mit naiv angehauchten Absichten an, die »Geschichte von unten« erzählen zu wollen. Das erste groß angelegte Oral-History-Projekt in der Bundesrepublik Deutschland, »Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet 1930-1960« (LUSIR), wurde ein paar Jahre später 1980 unter Leitung von Lutz Niethammer an der Universität/Gesamthochschule Essen gestartet. Interviewt wurden damals Personen aus der Wirtschaft, dem Mittelstand und der Arbeiterschaft im Ruhrgebiet über ihre Faschismuserfahrungen (Niethammer, von Plato, 1985). Über die Jahre hinweg haben Oral Historians die methodischen Vorwürfe eines Mangels an Repräsentativität durch eine zu hohe Subjektivität systematisch und unermüdlich widersprochen, was zu einer Professionalisierung der Methode und deren Etablierung innerhalb der deutschen Historikerzunft führte. Sie ist heute ein wichtiger methodischer Baustein in vielen Forschungsprojekten und wird auch gern in Qualifikationsarbeiten angewandt. 

Zum Kern der Oral History gehören lebensgeschichtliche Interviews: Damit bilden Historikerinnen und Historiker eine neue historische Quelle. Durch das Zuhören und Befragen von Personen, die gewisse biografische Merkmale aufweisen, ist es möglich, sich bestimmten Aspekten einer Geschichte bzw. eines biografischen Themas anzunähern. Manchmal ist es gar der einzige Weg, um etwas über die Vergangenheit in Erfahrung zu bringen. Oral History stellt somit eine sinnvolle und unersetzliche Ergänzung zu den schriftlichen Quellen in Archiven dar, die meistens die Perspektive der Institutionen und der Macht darlegen, deren sogenannte Objektivität, dadurch geschmälert werden, dass auch sie von Menschen produziert wurden. Damit einhergehend birgt in jedem Oral-History-Projekt eine subversive Kraft. Unbestreitbar bringt die selbst erhobene mündliche Quelle neue Aspekte ans Licht, die die angenommene historische Erzählung nuancieren und manchmal sogar widersprechen.  

Doch wie geht das? Wie werden gute, wissenschaftliche lebensgeschichtliche Interviews geführt? Worauf muss geachtet werden? Aus methodischer Sicht sind Oral-History-Interviews sehr aufwendig, weil sich die Forscherin bzw. der Forscher im Idealfall viel Zeit lassen soll, um geeignete Interviewpartnerinnen und Interviewpartner zu finden und in einem vertraulichen und geschützten Rahmen deren gesamte Biografie zu erfragen. 

Mit der Methode des »narrativen Interviews« (Schütze, 1977) werden Lebensgeschichten erhoben. Diese zielt darauf hin, den Interviewten so viel Gestaltungsfreiheit wie möglich zu lassen, sodass er/sie allein Schwerpunkte und Gewichtungen der eigenen Lebensgeschichte setzt. Die interviewte Person kann ihre Erinnerungen nach eigenen Prioritäten nur entfalten, wenn das Interview offen geführt wird. Dabei rekrutiert die/der Forschende auf seine Kompetenz des aktiven Zuhörens. Zuhören bedeutet laut Duden »(etwas akustisch Wahrnehmbarem) hinhörend folgen, ihm seine Aufmerksamkeit zuwenden« bzw. »anhören; mit Aufmerksamkeit hören; hörend in sich aufnehmen«. Aktiv zuzuhören bedeutet so viel wie eine Erzählung »in sich aufzunehmen«, d. h. in die Selbsterzählung und Weltanschauung seines Gegenübers einzutauchen. Es ist ein subtiler, komplexer Prozess, der eigenen Regeln folgt. 

Die Forscherin bzw. der Forscher sollte erst nach dem Ende des freien narrativen Teils Fragen stellen, die einem besseren Verständnis des Erzählten dienen bzw. die noch nicht angesprochen wurden, wobei geschlossene Fragen, Suggestivfragen, Doppel- oder Mehrfachfragen definitiv vermieden werden sollten. Um das Ziel, Offenheit herzustellen, zu erreichen, sollten die Fragen klar und einfach formuliert werden, nicht wertend klingen und respektvoll bleiben. Die Kunst der Frage besteht darin, erzählgenerierende Fragen zu stellen, damit sich die bzw. der Interviewte eingeladen fühlt, selbst erlebte Anekdoten und Geschichten, persönliche Erinnerungen aus damaligen Erfahrungen zu erzählen. Dabei sind grundsätzliche Typen von Fragen zu unterscheiden und zu beherrschen, die von Erzählstimuli zu Aufrechterhaltungsfragen, Steuerungsfragen, Zurückspiegeln, Paraphrase, Angebot von Deutungen gehen (Libera, 2004). Antworten, die Meinungen, intellektuelle Positionen oder Überzeugen verraten, liefern wenig biografische Dichte mit und bleiben in lebensgeschichtlichen Interviews zweitrangig. Mit Aufklärung von Widersprüchen sollte man wachsam umgehen. Die spätere Auswertungsarbeit setzt sich dann unter anderem mit dem Erzählfluss, der Narration und der vom Interviewten gegebenen Einordnung mancher Aspekte seiner Biografie. Eine permanente Reflexionsarbeit der Forscherin bzw. des Forschers im Forschungsverlauf umkreist Fragen von Prozessen menschlicher Wahrnehmung, Speicherung und Erinnerung wie selektive Aufmerksamkeit, Verdrängungsmechanismen, Speicherleistungen des Gehirns. 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 2/2024.