Haben Sie auch das Gefühl, dass gefühlt alle gefühlt ständig das Wort »gefühlt« verwenden? Dann sind Sie Zeugen eines Sprachwandelprozesses geworden. Dass sich jede lebendige Sprache immerzu wandelt, liegt in der Natur der Sache: Kulturelle Artefakte passen sich stets an die Kontexte an, in denen sie verwendet werden, an die Erfordernisse der Umgebung ebenso wie an Moden und Trends. Das gilt für Kleidung oder Gebrauchsgegenstände genauso wie für Sprache. Wenn wir sagen, dass Sprache sich wandelt, ist das natürlich eine Vereinfachung: Wir sind es nämlich, die Sprache verändern, durch kreativen Sprachgebrauch, aber auch, indem wir bestehendes Sprachmaterial neu interpretieren. Im oben erwähnten Beispiel von »gefühlt« kommt beides zusammen: Eine bestehende Wortform, wie sie in Äußerungen wie »Es ist gefühlt 15 Grad« vorkommt, wird neu gedeutet und kreativ auf Kontexte ausgedehnt, in denen es weniger um physische Wahrnehmung als um subjektive Einschätzungen geht. Solche Sprachwandelprozesse finden andauernd statt – und führen in der Summe dazu, dass das Deutsch von vor 500 oder gar 1.000 Jahren für uns heute wie eine Fremdsprache anmutet.
»Die« deutsche Sprache gibt es dabei streng genommen gar nicht. Nicht nur, weil das Deutsch von Luther ein anderes ist als das von Goethe oder Jelinek, und das wiederum ein anderes als das von Walther von der Vogelweide. Sondern auch, weil es sich beim deutschen Sprachraum um ein Dialektkontinuum handelt. Dass es eine überregionale Standardsprache gibt, ist eine vergleichsweise junge Entwicklung, die einerseits damit zusammenhängt, dass die Welt sprichwörtlich kleiner geworden ist – vom Buchdruck über moderne Transportmittel bis hin zu neuen Medien haben viele Entwicklungen dazu geführt, dass heute die Hamburgerin mit dem Münchener ebenso problemlos in Austausch treten kann wie mit der Lübeckerin. Die Grenzen zwischen Dialekt und Sprache sind dabei fließend: So gilt das Niederdeutsche als eigene Sprache.
Allen überregionalen Ausgleichstendenzen zum Trotz ist unsere Sprache im Alltag nach wie vor stark regionalsprachlich gefärbt. Selbst bei Menschen, die von sich glauben, perfektes Hochdeutsch zu sprechen – das übrigens entgegen einer weitverbreiteten Legende nicht mit der regionalen Varietät der niedersächsischen Landeshauptstadt zu verwechseln ist, sorry Hannover! –, schleichen sich immer wieder subtile Regionalismen ein, und sei es auch nur, dass jemand in die »Kürche« statt in die »Kirche« geht.
In der Forschung zur deutschen Sprachgeschichte wird der Beginn dessen, was wir als »Deutsch« bezeichnen, um das Jahr 750 herum angesetzt. Natürlich ist dieser Zeitpunkt ebenso willkürlich wie alle anderen Epochengrenzen, aber er ist nicht unmotiviert. In diese Zeit datieren die ältesten überlieferten Texte des Althochdeutschen. Die Sprachbezeichnung »Deutsch« geht dabei zurück auf das althochdeutsche Wort »thiutisk«, das sich als »das eigene Volk betreffend, volkssprachlich« übersetzen lässt. In der gängigen Periodisierung der deutschen Sprachgeschichte folgen dem Althochdeutschen in 300-Jahres-Schritten das Mittelhochdeutsche (1050-1350), das Frühneuhochdeutsche (1350-1650) und das Neuhochdeutsche (ab 1650). In der althochdeutschen Periode lag die literarische Tätigkeit vor allem in Händen von Geistlichen oder geistlich Gebildeten. In der mittelhochdeutschen Periode findet sich zunehmend weltliche Dichtung, etwa in Form von Minnesang und Heldenepik. Mit der höfischen Literatur entstanden, oft in Anlehnung an französische Vorbilder, einige der wichtigsten Texte der frühen deutschen Literaturgeschichte. Das Frühneuhochdeutsche fällt in mehrfacher Hinsicht in eine Zeit des Umbruchs: Reformation, Buchdruck oder Gründung des »Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation« sind nur einige Schlagworte, die auch in engem Zusammenhang mit dem aufkommenden Streben nach einer überregionalen Standardsprache stehen. Diese Tendenz setzt sich im Neuhochdeutschen fort, das unter anderem geprägt ist durch ein verstärktes Bemühen um eine Kodifizierung des Deutschen durch Regelwerke zu Grammatik und Rechtschreibung. Einige Forschende setzen ab dem 20. Jahrhundert eine weitere Sprachstufe, das Gegenwartsdeutsche, an. Dies ist insofern sinnvoll, als sich das Deutsch von 1650 vom heutigen Deutsch doch recht deutlich unterscheidet, was sich teilweise auch mit gesellschaftlichen und technologischen Umbrüchen in Verbindung bringen lässt, und hat zugleich den angenehmen Nebeneffekt, dass sich der erwähnte 300-Jahres-Rhythmus für die Periodisierung der deutschen Sprachgeschichte aufrechterhalten lässt.
Selbstverständlich stellen Periodenbezeichnungen wie »Althochdeutsch« oder »Frühneuhochdeutsch« nur grobe Wegmarken dar, mit deren Hilfe sich die hochdynamische Geschichte eines in sich alles andere als homogenen Dialektkontinuums besser verstehen lässt. Wie vielfältig die Wandelprozesse sind, die sich durch die gesamte deutsche Sprachgeschichte ziehen, lässt sich an einem einfachen Beispiel illustrieren, dem ersten Satz des St. Galler Paternoster (um 800), einer Übersetzung des Vaterunsers: »Fater unseer thu pist in himile« lesen wir dort. Im Vergleich zum heutigen Deutschen fallen zunächst Unterschiede auf der graphematischen Ebene auf, also auf der Ebene der Schrift – »Fater« mit F statt mit V beispielsweise. Andere Unterschiede zum heutigen (Standard-)Deutschen betreffen die lautliche Ebene: Da es sich um einen oberdeutschen Text handelt, finden wir statt des stimmhaften »b« ein stimmloses »p« im Wort »bist«. Das Doppel-e in »unseer« zeigt an, dass dieses e lang war; erst im Mittelhochdeutschen ist hier eine Kürzung eingetreten. Auf der grammatischen Ebene fällt auf, dass das Wort »Himmel« ohne Begleiter auskommt – es heißt schlicht »in Himmel«, ohne den bestimmten Artikel, der sich in der gegenwartsdeutschen Version in dem Wörtchen »im« versteckt. Das liegt daran, dass solche Begleiter im heutigen Deutschen zumeist die Funktion erfüllen, grammatische Merkmale wie Kasus und Numerus auszudrücken: »der Himmel – des Himmels – den Himmel – dem Himmel – die Himmel« etc. Im Althochdeutschen lassen sich die Kasusformen zumeist noch durch ihre Endungen unterscheiden: Nominativ (und Akkusativ) »himil«, Genitiv »himiles« oder »himilas«, Dativ »himile« oder »himila«, um nur das Paradigma für den Singular zu nennen. Im Laufe der deutschen Sprachgeschichte wurden unbetonte Nebensilben jedoch immer stärker reduziert und sind teilweise ganz geschwunden. Dadurch sind, wie im Fall von »Himmel«, viele Kasusformen zusammengefallen. In der Folge wurden Begleiter, wie eben beispielsweise bestimmte und unbestimmte Artikel, in immer mehr Kontexten genutzt und damit obligatorisch: »in Himmel« erscheint uns heute falsch oder, wie man in der Linguistik sagt, ungrammatisch.
Dieses Beispiel zeigt auch, wie unterschiedliche Wandelprozesse ineinandergreifen können. Ein Wandel auf lautlicher Ebene kann weitreichende Konsequenzen auch für die Grammatik einer Sprache nach sich ziehen. Natürlich setzt nicht jeder Sprachwandelprozess eine solche Kettenreaktion in Gang. Aber kein Sprachwandelprozess findet völlig isoliert von anderen Faktoren statt. Diese Faktoren können auch kultureller Natur sein. Das ist oft der Fall, wenn es um Bedeutungswandel geht. Beispielsweise bedeutete das Wort »krank« ursprünglich einfach »schwach«. Was wir heute als »krank« bezeichnen, hieß bis ins Frühneuhochdeutsche hinein noch »siech«. Nun ist es aber so, dass Krankheit bis heute mit bestimmten kulturellen Tabus behaftet ist. Daher greifen wir bis heute gern zu Euphemismen, also zu beschönigenden Bezeichnungen – sagen beispielsweise, dass eine Person »angeschlagen« ist oder »geschwächt«. Das Wort »krank« hat seine Karriere ebenfalls als ein solcher Euphemismus begonnen und dadurch im Lauf der Zeit seine Bedeutung verändert.
Um zu erklären, wie und warum sich eine Sprache wandelt, müssen wir daher immer auch einen Blick auf die kulturellen Begleitumstände werfen. Diese Interaktion zwischen Sprache und gesellschaftspolitisch-kulturellem Kontext zeigt sich übrigens auch im Bereich der metasprachlichen Reflexion, die viele auffälligere Sprachwandelprozesse begleitet. Die Kritik an Anglizismen beispielsweise durchzieht seit vielen Jahrzehnten die Feuilletons – meist mit den gleichen Argumenten, mit denen etwa im 19. Jahrhundert Gallizismen, also Lehnwörter aus dem Französischen, gegeißelt wurden. Ein weiterer Dauerbrenner der Sprachkritik ist die Kritik an vermeintlich »falschen« grammatischen Formen – »wegen dem« statt »wegen des« – oder festen Wendungen – »das macht Sinn« statt dem angeblich richtigeren »das ergibt Sinn«. Diese Kritik zeigt deutlich, dass Sprache in mehrfacher Hinsicht identitätsstiftend ist: Mit dem Gebrauch einer bestimmten Sprache oder eines bestimmten Dialekts können wir die Zugehörigkeit zu einer Gruppe signalisieren, und durch den Gebrauch vermeintlich »besserer« sprachlicher Formen können wir uns von anderen Personen abgrenzen. Zu der Frage, inwieweit das Prestige sprachlicher Formen auch zum Sprachwandel beiträgt, gibt es allerdings bislang noch recht wenig Forschung. Auch die Frage, inwieweit die Normierung von Sprache etwa durch kodifizierte Grammatikregeln die Entwicklung einer Sprache beeinflusst und Sprachwandel möglicherweise ausbremst, ist bislang nur in Ansätzen erforscht. Klar ist allerdings, dass Sprachwandel niemals aufhört – auch wenn einige Sprachwandelprozesse für die Sprachbenutzenden gefühlt auffälliger sein mögen, während sich andere eher »unter dem Radar« vollziehen.