Deutschland ist ein mehrsprachiges Land. Dies ergibt sich nicht aus einer Vielzahl von Amts- und Verkehrssprachen, wie z. B. in der Schweiz, sondern aus der individuellen Mehrsprachigkeit eines erheblichen Teils der Bevölkerung. Diese Form der Mehrsprachigkeit bezieht sich auf die Fähigkeit einer Person, sich in mehr als einer Sprache mündlich und/oder schriftlich zu verständigen. Vor allem durch Migration sind viele Sprachen in unser Land gekommen, die von den nachfolgenden Generationen oft ohne formalen Unterricht in der Familie gelernt werden. Daher sind viele Kinder in Deutschland bereits mehrsprachig, wenn sie in die Kita oder Schule kommen. Sie lernen das Deutsche entweder parallel zu einer anderen Sprache oder sukzessiv, spätestens aber mit Eintritt in die Kita oder Schule. Der genaue Anteil der mehrsprachig aufwachsenden Menschen in Deutschland lässt sich anhand der verfügbaren Bevölkerungsstatistiken (Migrationshintergrund, Staatsangehörigkeit, im Haushalt überwiegend gesprochene Sprache) nicht exakt bestimmen. Repräsentative Sprachensurveys zeigen aber, dass – mit regionalen Unterschieden – etwa 30 bis 50 Prozent der Schülerinnen und Schüler beim Übergang in die Grundschule neben Deutsch mindestens eine weitere Sprache im Alltag verwenden.  

Aus der Perspektive der postmigrantischen Gesellschaft ist die sprachliche Vielfalt in Deutschland insbesondere durch die sogenannten Herkunftssprachen wie Türkisch, Russisch, Polnisch, Arabisch, Kurdisch, Griechisch, Serbisch, Kroatisch, Bosnisch und viele andere geprägt. Hinzu kommen die in formalen Kontexten erworbenen Fremdsprachen.  

Mehrsprachigkeit und sprachliche Vielfalt spiegeln sich in allen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens wider. Durch kulturelle und gesellschaftliche Transformationsprozesse sind auch Herkunftssprachen sichtbarer geworden. Sie sind in Kultur, Musik, sozialen Netzwerken und »urban landscapes« präsent, und ihre Verbreitung und Nutzung wird durch die Kultur der Digitalität beschleunigt. Sie werden oft kreativ verwendet, und jugendsprachliche Varietäten sind durch Einflüsse des Arabischen z. B. »yalla«, Türkischen z. B. »hayvan« oder Zazaischen z. B. »babo« geprägt. 

Trotz der offensichtlichen Präsenz von Mehrsprachigkeit in Deutschland wird die individuelle Mehrsprachigkeit in der Schule oft auf wenige – meist europäische – Nationalsprachen reduziert. Programme, in denen Fachunterricht in Deutsch und einer Partner-/Herkunftssprache erteilt wird, sind selten, obwohl die Wirksamkeit einer solchen »Zwei-Wege-Immersion« international seit Langem bekannt ist. Angebote wie der herkunftssprachliche Unterricht, der vor allem in Randstunden und außerhalb des regulären Unterrichts stattfindet, sind eher marginale Wahlmöglichkeiten; ob man daran teilnimmt oder nicht, ist für die Bildungsbiografie irrelevant, da er nur in Einzelfällen den fremdsprachlichen Leistungen gleichwertig ist.  

Damit verbunden ist die weitverbreitete Annahme, Einsprachigkeit sei die Norm in unserer Gesellschaft. Dies führt unter anderem dazu, dass mehrsprachige Lernende nur auf Deutsch schreiben lernen und in ihrem Alltag mit Formen des Linguizismus konfrontiert werden (»Auf dem Schulhof wird Deutsch gesprochen«). Immer wieder werden Debatten im Kontext von Schulleistungen geführt, in denen Mehrsprachigkeit problematisiert wird, wenn es sich nicht um Deutsch-Französische oder Deutsch-Englische handelt. Dabei liegen seit Jahrzehnten empirische Befunde vor, die belegen, dass mehrsprachiges Aufwachsen keine Belastung darstellt, unabhängig davon, um welche Sprachen es sich handelt. Vielmehr zeigen Studien, dass mehrsprachige Lernende ihre Sprachenkenntnisse und Sprachlernerfahrungen für Lernprozesse nutzen können. Dafür müssen aber Lehrpersonen Lernorte und Lerngelegenheiten so gestalten, dass mehrsprachige Ressourcen didaktisch genutzt werden können. Bislang sind die dafür notwendigen spracherwerbs- und mehrsprachigkeitsdidaktischen Grundlagen im Lehramtsstudium jedoch bei Weitem noch nicht flächendeckend implementiert. Ob Studierende während ihres Studiums entsprechende Kompetenzen erwerben, hängt derzeit vor allem davon ab, in welchem Bundesland sie studieren, oder von der intrinsischen Motivation praktizierender Lehrpersonen, diese in Fortbildungsangeboten zu erwerben. 

Deutschland als Einwanderungsland zu begreifen bedeutet auch, sprachliche Bildung mehrsprachig zu denken. Die vorhandenen mehrsprachigen Ressourcen der Lernenden müssen für Bildung und Arbeitsmarkt nutzbar gemacht werden. Internationale Fachkräfte nehmen sehr genau wahr, wie hierzulande mit Menschen mit internationaler Geschichte – und ihren Sprachen – umgegangen wird (»Zu Hause wird Deutsch gesprochen«). Derzeit bevorzugen vor allem Hochqualifizierte bei der Rekrutierung andere Länder. 

Das Selbstverständnis, Mehrsprachigkeit als Norm zu begreifen, ist nicht nur aus postmigrantischer Perspektive wichtig, sondern auch ein Pfeiler, um Deutschland in Zukunft für qualifizierte Arbeitskräfte attraktiv zu machen und dem demografischen Wandel zu begegnen. 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 2/2024.