In seiner Regierungserklärung vom 5. Dezember 2023 sagte der bayerische Ministerpräsident Markus Söder: »Für Bayern steht fest: Mit uns wird es kein verpflichtendes Gendern geben. Im Gegenteil: Wir werden das Gendern in Schulen und Verwaltungen sogar untersagen.« Das ist insofern überraschend, als zwei Jahre zuvor sein eigener Wissenschaftsminister anlässlich einer in eine ähnliche Richtung gehenden Äußerung Söders gar keine klaren Belege für die hier unterstellte Verpflichtung zum Gendern beibringen konnte (siehe Tagesspiegel vom 19.9.2021). Es stellt sich hier die grundsätzlichere Frage, welche Wirkung Verpflichtungen und Verbote in sprachlichen Angelegenheiten überhaupt haben können. Denn: Die Wirkkräfte, die Sprachwandel erzeugen – bzw. verlangsamen oder gar verhindern –, sind vielfältig; sie interagieren in komplexer Weise miteinander. Staatliche steuernde Eingriffe in Sprachwandelprozesse sind extrem selten erfolgreich. Im Folgenden sollen die wichtigsten dieser Wirkkräfte bzw. Akteure, die bei sozial/kulturell bedingtem Sprachwandel eine Rolle spielen, besprochen werden. 

Während die allermeisten längerfristigen Sprachwandelprozesse ablaufen, ohne dass sich die Sprachteilhaberinnen dessen bewusst sind, z. B. Umschichtungen im Satzbau oder subtile Bedeutungsverschiebungen bei einzelnen Wörtern, gibt es manchmal auch sprachliche Veränderungen, die in den jeweiligen Gesellschaften mit kultureller/sozialer/politischer Bedeutung aufgeladen werden. Dazu zählen unter anderem der Fremdwortgebrauch – den man z. B. in Frankreich mittels des »Loi Toubon« von 1994 versucht, in öffentlichen Diskursen einzuschränken – oder auch die Entwicklungen hin zu geschlechtergerechtem/-sensiblem Sprachgebrauch, die in den letzten Jahren in sehr vielen europäischen Gesellschaften stattgefunden haben. 

Die Frage, wie auf die Geschlechtsidentität von Personen Bezug genommen wird, ist im Wesentlichen eine grammatische. Welches Pronomen: »er« oder »sie« oder »…«? Welche Endung: »Lehrer« oder »Lehrende« oder »Lehrer*innen« oder »…«? Gerade an den Formen mit Genderstern oder Ähnlichem, z. B. Doppelpunkt im Wortinneren, entzünden sich die ideologisch aufgeladenen Kämpfe, wobei es gerade diese Formen sind, die im engeren Sinne reguliert werden können. Sie beinhalten nämlich ein spezielles orthografisches Element – und einzig dafür hat der die Orthografie regulierende Rat für deutsche Rechtschreibung ein Mandat: Die amtliche Rechtschreibung ist im deutschsprachigen Raum als solche geregelt – nichts anderes aber. Weder grammatische Strukturen noch Wortwahl unterliegen offiziellen Regelungen. Der häufig konsultierte Duden kann als privatwirtschaftliches Unternehmen im Grunde nur Hinweise geben, auch wenn er qua Reputation landläufig als mit besonderer Autorität ausgestattete Norminstanz betrachtet wird. Er verzeichnet die üblichen Formen und gibt entsprechende Empfehlungen. 

Eine in der Praxis sehr wichtige Norminstanz stellen Lehrpersonen dar, sowohl in Schulen als auch in Universitäten, da sie durch ihre tägliche Beobachtung und Kommentierung der Lernenden deren sprachliches Verhalten mit mehr oder weniger Erfolg beeinflussen. Gerade im Zuge der Korrektur und Bewertung sprachlicher Leistungen kommt ihnen eine wichtige sprachwandelbezogene Funktion zu: Einerseits fungieren sie als Hüter der Tradition, indem sie die Sozialisationsprozesse auf genau diese ausrichten; andererseits können sie selbst vorbildhaft wirken und dadurch die Legitimität neuer Formen erhöhen, indem sie sie tolerieren oder sogar empfehlen. Bei gesellschaftlich derart umstrittenen Phänomenen wie dem geschlechtergerechten Sprachgebrauch werden sie aber gut beraten sein, in alle Richtungen tolerant und mäßigend zu wirken, solange nicht abzusehen ist, welche Formen sich im derzeitigen Wandel wirklich durchsetzen werden. Eine weitere Gruppe von Menschen, die gewissermaßen als Transmissionsriemen für sprachliche Wandelprozesse fungieren, sind Medienschaffende jedweder Couleur, insofern auch sie als Modellsprecher- und -schreiber:innen mit großer Reichweite vorbildhaft wirken können. 

Wünschenswert wäre es, dass bei gesellschaftlich relevanten Themen auch die jeweilige fachliche Expertise eine gewichtige Stimme erhält: Im Falle des geschlechtergerechten Sprachgebrauchs kommen Argumentationen, die auf kognitionswissenschaftlicher oder psycholinguistischer Faktenbasis basieren, interessanterweise kaum zu Wort. Vielmehr wird der Mediendiskurs durch eine Reihe von Personen geprägt, deren Expertentum nicht über jeden Zweifel erhaben ist, denn auch besonders sprachsensible Sprachnutzer:innen sind eben genau dies: Nutzer:innen. Der in der öffentlichen Wahrnehmung häufig entstehende Eindruck, »die Wissenschaft« – genau wie »die Gesellschaft« – sei sich in der Ablehnung sprachlicher Neuerungen einig, ist unvollständig, solange man nicht auch die Sprachwissenschaftlerinnen und Sprachwissenschaftler hört, die die psychosozialen Effekte studieren, die mit den verschiedenen Formen einhergehen.  

Die im Hinblick auf Sprachwandel alles entscheidende Gruppe von Menschen ist natürlich die Gesamtheit aller Deutschsprachigen. Vor dem Hintergrund dessen, was die oben genannten Akteure tun und sagen, entscheidet jede Sprachnutzerin und jeder Sprachnutzer in jeder einzelnen kommunikativen Situation, welche der im Prinzip zur Verfügung stehenden Formulierungen er/sie verwendet. Jede Wahl, wie auch immer sie ausfällt, wird von den Gesprächspartner:innen als zeichenhaft interpretiert: Man wird als konservativ, geschlechtersensibel, cool, sympathisch oder unsympathisch wahrgenommen. Je nach Gegenüber fallen diese Wertungen natürlich unterschiedlich aus. Falls die Mehrheit der Menschen die Sprecher:innen, die keine geschlechtersensible Sprache verwenden, als unsympathisch empfindet und so deren soziales Ansehen mindert, werden sich die neueren Formen mittelfristig in der Sprecher:innengemeinschaft verbreiten, wird der Sprachwandel also stattfinden – und andernfalls eben nicht.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 2/2024.