Was macht Gebärdensprache aus? Sandra Winzer spricht mit dem tauben Dolmetscher und Vorstandsmitglied im Berufsverband der tauben GebärdensprachdolmetscherInnen Markus Meincke über die Entwicklung, Praxis und aktuelle Präsenz von Gebärdensprache in Deutschland. Das Interview fand per Video-Meeting statt. Meincke antwortete in Gebärdensprache, sein hörender Kollege Daniel Rose, staatlich geprüfter Dolmetscher für Gebärdensprache und Kind gehörloser Eltern, dolmetschte den Austausch. 

 

Sandra Winzer: Die Deutsche Gebärdensprache ist eine natürlich entstandene Sprache mit umfassendem Vokabular und eigenständiger Grammatik. Jede Gebärde besteht aus einem Zusammenspiel von Handformen, Kopf- und Körperhaltung, auch die Mundgestik ist wichtig. Ist die Sprache international gleich?  

Markus Meincke: Jedes Land hat eine eigene Gebärdensprache, sogar Dialekte innerhalb Deutschlands. Von Wochentagen bis hin zu Farben gibt es regionale Unterschiede von Bundesland zu Bundesland. Etwa 60 bis 70 Prozent der Gebärden sind deutschlandweit einheitlich, während Gebärden, wie z. B. die für »Montag«, je nach Region variieren. Die Gebärdensprache umfasst mehr als nur Gestik, Mimik oder Körpersprache, sie ist eine eigenständige und vollwertige Sprache. Es ist auch wichtig, die historische Entwicklung zu beachten. Bis 1880 war in Europa die Gebärdensprache für taube Menschen selbstverständlich und wurde in den Schulen unterrichtet. Danach, nach dem Mailänder Kongress, auf dem hörende Lehrer beschlossen, dass in den Schulen für taube Menschen nur noch in Lautsprache unterrichtet werden soll, begann der allgemeine Abstieg für taube Menschen. Lediglich die USA hatten sich dieser Strömung nicht angeschlossen. Erst ab 1980 wurde auch in Deutschland damit begonnen, die Gebärdensprache zu erforschen.  

 

Unterschiedliche Dialekte, aber auch Jugendsprache werden gebärdet. Wie erlernen Sie Dialekte, die Sie vorher noch nicht kannten? 

Meincke: Wenn taube Menschen ausschließlich zu Hause blieben und kaum soziale Kontakte pflegten oder wenig soziale Medien nutzten, würde die Identifizierung von Dialekten tatsächlich erschwert. In der Zeit der deutschen Teilung hatte die Gebärdensprache im Osten deutliche russische Einflüsse, während im Westen andere Prägungen vorherrschten. Taube Menschen treffen sich oft bei Großveranstaltungen wie Sport- oder Kulturveranstaltungen, bei dem schnell die Herkunft erkannt werden kann – sei es Berlin, Bayern oder NRW. Die Aktivität der tauben Menschen spielt eine entscheidende Rolle, und heutzutage tragen soziale Medien erheblich dazu bei, neue Gebärden zu erlernen. 

 

Syntax und Grammatik der Gebärdensprache unterscheiden sich durchaus vom gesprochenen Wort. Insofern ist eine sinngemäße Übersetzung der wörtlichen vorzuziehen. Haben Sie ein markantes Beispiel? 

Meincke: In der Deutschen Gebärdensprache (DGS) wird die Syntax grundlegend anders aufgebaut. Im Deutschen steht das Verb an zweiter Stelle im (Haupt-)Satz. In der DGS steht es am Satzende. So gebärdet man nicht »Ich kaufe einen Apfel«, sondern »Apfel kaufen«. 

 

Wie drücken Sie unterschiedliche Emotionen aus? 

Meincke: Emotionen in der Gebärdensprache werden durch Mimik vermittelt. Bei Fragen wie »Geht es dir gut?« zieht man die Augenbrauen nach oben – damit wird die Satzart markiert. Die Augen und der Mund reflektieren dabei die Stimmung. Bei einer Antwort wie »so lala« könnten die Augenbrauen etwa nach unten gezogen werden. Manchmal werden die Gebärden mit Handbewegungen unterstützt, z. B. bei einem begeisterten »Mir geht’s spitze«. Die Gebärde bleibt gleich, aber Augen, Mund und Mimik variieren – je nach Stimmung.  

 

Nutzen Sie Füllwörter? Oder ist das eher eine Sache des gesprochenen Wortes? 

Meincke: Fachbegriffe werden zum Teil umschrieben, und Füllwörter kommen eher selten zum Einsatz. Es gibt sie in der DGS natürlich auch, aber nicht so, wie man es aus der Lautsprache gewohnt ist. Beim Dolmetschen durch Dolmetschenden wird das Translat in der Regel länger, da die Gebärde in einem vollständigen Satz übertragen wird. Gebärdensprache ist visueller und darüber hinaus dreidimensional.  

Ein Beispiel finden wir im deutschen Satz »Mir läuft das Wasser im Mund zusammen«. Hier wird der Finger durch eine kurze Bewegung von Mundwinkel zum Kinn geführt. Die Dolmetschenden müssen diese Gebärde im Gesprochenen in einen wohlgeformten Satz dolmetschen. 

 

Die Gebärdensprache ist seit Anfang der 2000er Jahre offiziell linguistisch anerkannt. Auch die Ausbildung für Dolmetschende hat sich stetig entwickelt. Was sind die wichtigsten Bausteine der Ausbildung? 

Meincke: Die Ausbildung für hörende Gebärdensprachendolmetschende existiert bereits seit einiger Zeit. Hingegen gibt es die Ausbildung für taube Dolmetschende erst seit etwa 2011, und sie erstreckt sich über zwei Jahre. Persönlich habe ich die taube Dolmetscherausbildung in Österreich absolviert, da ich die Österreichische Gebärdensprache (ÖGS) zusätzlich für mich erlernen wollte. Österreich ist ein deutschsprachiger Raum, und trotzdem gibt es signifikante Unterschiede. In der Ausbildung werden verschiedene Dolmetsch-Techniken und -Strategien erlernt. Nicht nur die Gebärdensprache selbst, sondern auch die Kultur und ihre vielfältigen Facetten werden vermittelt. Das erfordert ein tiefes Verständnis und eine innere Auseinandersetzung mit der Kultur, um sie authentisch zu übertragen. 

 

Herr Meincke, Sie sind Dolmetscher und selbst gehörlos. Herr Rose, Sie sind hörend und ebenfalls staatlich geprüfter Gebärdensprachedolmetscher. Inwiefern unterscheidet sich Ihre Arbeitsweise? Arbeiten gehörlose Dolmetschende »besser« – etwa weil sie wissen, was es für eine gute Übersetzung, wie gute Lichtverhältnisse etc., braucht? 

Daniel Rose: Das Dolmetschen erfordert weit mehr als nur Gebärdensprachkompetenz und sprachliches Talent. Es erfordert die Fähigkeit, schnell zwischen verschiedenen Sprachen und Kommunikationskanälen zu wechseln. Eine intensive Ausbildung im simultanen Dolmetschen und die Fertigkeit, unterschiedliche Grammatik und Syntax fließend zu beherrschen. Es ist eine anspruchsvolle Aufgabe, die sowohl Können als auch Praxiserfahrung braucht. 

Meincke: Taube Dolmetschende sind besonders qualifiziert, um mit kognitiv eingeschränkten tauben Menschen und tauben Menschen mit Migrationshintergrund zu arbeiten. Insbesondere wenn es um taube Menschen mit geringen Deutschkenntnissen geht, können hörende Dolmetschende an ihre Grenzen stoßen, weil viele taube Menschen aus anderen Ländern kaum Mundbild benutzen. Taube Dolmetschende sind aufgrund ihrer kulturellen Sensibilität und Sprachkompetenz prädestiniert für diese Zielgruppe. 

 

Für welche Einsatzbereiche wird Ihre Arbeit angefragt? 

Meincke: Die finanziellen Ressourcen spielen eine entscheidende Rolle. Die Bereitschaft, taube wie auch hörende Dolmetschende zu finanzieren, variiert. Die UN-Behindertenrechtskonvention sieht die sprachliche Barrierefreiheit vor, z. B. bei Behörden. Das führt dazu, dass taube Dolmetschende vermehrt auf barrierefreie Webseiten zu sehen sind. Auch in Bereichen wie Medizin, Gerichtsverfahren, Polizei und Theater wird unsere Arbeit angefragt. Leider bleibt oft ungeklärt, wer die Kosten dafür übernimmt. 

 

Beobachten Sie eine Veränderung der Nachfrage in den letzten Jahren? Ist Gebärdensprache präsenter geworden – gibt es eine Art neues Bewusstsein hierfür? 

Meincke: Ja. Es ist erfreulich, zu sehen, dass sich das Bewusstsein bezüglich der Barrierefreiheit für Ertaubte, Schwerhörige, Gehörlose und taube Menschen entwickelt hat. Die Tatsache, dass Gebärdensprachendolmetschende bei öffentlichen Veranstaltungen von der Stadt teilweise als selbstverständlich betrachtet werden, zeigt diese positive Entwicklung. Und es unterstreicht die Notwendigkeit, allen Menschen den Zugang zu Veranstaltungen und zur hörenden Gesellschaft zu ermöglichen. 

 

Ist Gebärdensprache in den USA medial präsenter? 

Meincke: Absolut. Die historische Entscheidung des Mailänder Kongresses 1880 hat die Entwicklung der Gebärdensprache in Europa leider insgesamt negativ geprägt. Die USA hingegen hielt die Wahrung der Gebärdensprache aufrecht. Amerika setzt nach wie vor auf Antidiskriminierung, indem es jede Sprache unter-stützt. Gebärdensprache ist dort allgegenwärtig.  

In Deutschland hingegen sind Gebärdensprachdolmetschende bei öffentlichen Reden, wie bei Olaf Scholz, oft nur online verfügbar und selten im linearen Fernsehen zu sehen. Dies steht im Kontrast zu Ländern wie Spanien oder Portugal, wo Dolmetschende ganz selbstverständlich eingeblendet werden. Es gibt in Deutschland noch eine gewisse Scham, die überwunden werden sollte. 

 

Wie wichtig ist es Ihnen, sich auf Ihr Gegenüber im Vorhinein einzustellen? 

Meincke: Sehr wichtig. Die Individualität eines jeden Menschen, unabhängig von der Hörfähigkeit, ist von großer Bedeutung. Die Anerkennung von Persönlichkeiten und individuellen Sprachregistern ist entscheidend. Wir wollen die Ziel- und Ausgangssprache so verdolmetschen, dass taube Menschen in ihrer spezifischen Gebärdensprache optimal erreicht werden können. 

 

Wo sehen Sie Entwicklungsbedarf – was wünschen Sie sich für Ihr Berufsfeld? 

Meincke: Mein Traum wäre eine selbstverständliche Präsenz sowohl hörender als auch tauber Dolmetschenden in Deutschland. Auch das Ungleichgewicht im Verhältnis von etwa 800 hörenden Gebärdensprachdolmetschenden zu ca. 150 tauben Dolmetschenden zeigt, dass es mehr Ausbildungsmöglichkeiten braucht. Eine vermehrte Ausbildung würde nicht nur das Bewusstsein für Gebärdensprache stärken, sondern auch dazu beitragen, eine stärkere Vertretung von tauben Dolmetschenden zu erreichen. 

 

Vielen Dank. 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 2/2024.