Die meisten Kinder sprechen ihre ersten Wörter im Alter von neun bis 18 Monaten. Monatelang bleibt es bei einigen wenigen Wörtern. Danach beschleunigt sich das Wortschatzwachstum – mit wechselnden Phasen von schnellerem und langsamerem Fortschritt. Im Alter von vier Jahren ist ein Basiswortschatz erreicht.  

Schon mit der ersten Beschleunigung des Wortschatzwachstums geschieht ein entscheidender Schritt: Die Kinder beginnen, Wörter zu kombinieren. Zwischen 17 bis 28 Monaten produzieren sie ihre ersten Zweiwortsätze. Das ist der Beginn des Aufbaus einer Grammatik und damit eines Systems zur Kombination von Wörtern und Morphemen, zu dem – soweit wir wissen – nur Menschen fähig sind. Eine Grammatik ermöglicht uns, immer neue Sätze zu bilden. Sie wird daher als kreativ und zentrales Element der Sprache betrachtet. In der Kindersprache dominieren zunächst Kombinationen von kleinen Wörtern und Substantiven wie etwa »da Auto«, »Hund weg«. Schon bald folgen Zweiwortsätze mit Subjekt und infinitem Verb wie in »du holen«, aber auch solche mit konjugiertem Verb »Hund bellt«. Aus diesen werden schnell Mehrwortsätze, in denen oft monatelang die infiniten Verbformen überwiegen. Dann jedoch erfolgt, entweder allmählich oder etwas abrupt, ein Anstieg von Mehrwortsätzen mit finitem Verb, gefolgt von Sätzen mit Hilfsverb plus Infinitiv. Das alles geschieht zwischen 24 und 34 Monaten. Besonders bemerkenswert ist, dass die Kinder kaum Fehler bei der Verbstellung machen. So steht das konjugierte Verb in Zweitstellung und Infinitive in Endstellung.  

Parallel zum Aufbau der Syntax erfolgt der Aufbau der Flexion. Die wesentlichen Paradigmen sind: Plural der Substantive, Genus (grammatisches Geschlecht), Kasus an Artikeln und anderen Artikelwörtern und die Konjugation der Verben. Alle Flexionsmarkierungen beginnen zwischen 21 und 30 Monaten. Die Präsensformen des Verbs und das grammatische Geschlecht der Substantive sind mit 34 bis 36 Monaten erworben, während die Pluralbildung, das Partizip des Verbs und insbesondere die Kasusmarkierung bis zur Schulzeit noch mehr oder weniger fehlerhaft bleiben können. Bis zum Alter von vier Jahren, haben die Kinder eine grundlegende Grammatik erworben.  

 

Lernmechanismen 

Zur Erklärung der erstaunlichen Schnel-ligkeit und Mühelosigkeit, mit der kleine Kinder die Grammatik ihrer Muttersprache erwerben, wird das aus der Ethologie stammende Konzept der »sen-siblen Phase« herangezogen. Eine sensible Phase ist eine begrenzte Zeitspanne während der Entwicklung, in der ein Organismus eine erhöhte Sensibilität gegenüber einer bestimmten Art von Erfahrung hat. Auf die menschliche Sprache angewandt umfasst diese Zeitspanne die ersten vier Lebensjahre. In dieser Zeit wirkt sprachliche Erfahrung besonders stark auf das Gehirn, sodass Sprache sehr schnell gelernt wird. Danach lässt die erhöhte Sensibilität für sprachliches Lernen sehr allmählich nach. Für die Annahme einer sensiblen Phase für sprachliches Lernen spricht, dass Kinder in den unterschiedlichsten Sprachen und Kulturen in den ersten vier Jahren eine grundlegende Grammatik ihrer Muttersprache erwerben.  

Ein weiterer wichtiger Lernmechanismus ist die Analogiebildung beim Aufbau von Flexionssystemen. Interessanterweise geben uns die Fehler der Kinder Aufschluss über den Lernprozess. Beim Erwerb von Plural und Genus nutzen Kinder Regelhaftigkeiten in den Lautmustern des Substantivs. Beim Erwerb der Pluralmarkierung gruppieren sie Wörter mit gleichem Auslaut zusammen und bilden ein abstraktes Schema: »Blume-n«, »Lampe-n«, »Puppe-n« wird zu: Wörter auf -e erhalten -n. »Oma-s«, »Sofa-s« wird zu: Wörter auf Vollvokal erhalten -s. Auf der Basis dieser Regelhaftigkeiten produzieren Kinder dann »Tier-e-n«, »Hund-e-n«, aber auch »Tiger-s« und »Bagger-s«, da ein -er am Wortende wie ein kurzes -a klingt.  

Auch beim Erwerb der Genus Markierung folgen die Kinder den Klangmustern. Substantive mit Konsonant Kombinationen am Wortanfang und Wortende und solche, die auf -en, -el und -er enden, tendieren dazu, maskulin zu sein. Beispiele sind: »der Zwerg«, »der Wagen«, »der Eimer«, »der Igel«. Bei Ausnahmen gebrauchen die Kinder die Artikel gelegentlich fehlerhaft. Und nicht nur das: Sie gebrauchen den maskulinen Artikel. So produzieren sie »der Brett«, »der Butter«, »der Fohlen«. Die Kinder folgen damit der Regelhaftigkeit.  

So geben uns die Fehler der Kinder Aufschluss über ihren Lernprozess. Beim Lernen durch Analogiebildung führt die Orientierung an Klangmustern besonders bei der Genus-Zuordnung zu einem schnellen Erwerb des Systems, jedoch sowohl bei Plural und Genus ebenso zu Fehlern. Diese verschwinden, wenn Ausnahmen und weitere Regelhaftigkeiten erworben werden. Dabei unterstützt auch die Häufigkeit, mit denen die Wörter des Basisvokabulars gebraucht werden. 

 

Individuelle Unterschiede 

Der frühkindliche Spracherwerb ist durch eine extreme individuelle Variabilität gekennzeichnet. Repräsentative Normierungsstudien in vielen Sprachen inklusive Deutsch zeigen, dass der Altersunterschied zwischen Kindern auf dem gleichen Sprachstand bis zu elf Monate betragen kann. So können eineinhalbjährige und zweieinhalbjährige Kinder den gleichen Sprachstand aufweisen und erreichen dennoch bis zum Alter von vier Jahren eine grundlegende Grammatik. Der Grund für dieses scheinbare Paradox ist, dass Entwicklungsverläufe auch beim gleichen Individuum stark schwanken. Anfänglich langsame Kinder werden schneller und umgekehrt. Ehemals gültige Phasenmodelle, nach denen jedes Kind im gleichen Alter bestimmte sprachliche Errungenschaft erwirbt, sind seit Langem überholt. Wir können nur Altersspannen angeben, in denen das Lernen bestimmter Paradigmen beginnt, und Altersspannen, wann das Paradigma erworben ist – so wie ich es hier im ersten Abschnitt dargestellt habe. 

 

Einflüsse auf den Spracherwerb 

Beim Erwerb einer Sprache interagieren der Aufbau neuronaler Systeme und die Erfahrung mit Sprache. Das Produkt sind die typischerweise bei Erwachsenen beobachteten neuronalen Aktivitätsmuster zur Verarbeitung von Grammatik und Semantik. Die stärksten Umwelteinflüsse sind die Eltern-Kind-Interaktion und die häusliche Lernumwelt. Förderlich auf den Spracherwerb wirken sprachlich vermittelte Erfahrungen – auch mit Büchern und außerhäuslichen Ereignissen – und eine kindgerichtete Sprache, die dem kognitiven Niveau des Kindes angepasst, aber dennoch strukturell und im Vokabular abwechslungsreich ist. Soziale Benachteiligung oder Migrationshintergrund allein wirken nicht per se negativ, sondern nur, wenn andere Faktoren wie geringes Interesse an sprachlicher Interaktion mit dem Kind oder ungenügender Zugang zu Deutsch hinzukommen. Umgekehrt ist höherer Bildungsstand nicht per se förderlich, sondern eher dann, wenn die Eltern-Kind-Interaktion sensibel gegenüber den Interessen und dem Kommunikationsbedürfnis des Kindes ist. 

Es mag ernüchternd klingen, aber der beste Rat an Eltern und Betreuer von Kleinkindern ist, mit abwechslungsreicher Sprache und echtem Interesse an der Kommunikation mit dem Kind zu reden.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 2/2024.