Sie leben in Polen, Rumänien und auch tausende Kilometer entfernt in Kasachstan: deutsche Minderheiten. War es für sie bis 1989/90, bis zum Zusammenbruch des Ostblocks, schwierig, zum Teil verboten, die eigene Sprache und Kultur zu pflegen, konnten die deutschen Minderheiten ab 1989/90 an die Öffentlichkeit treten, eigene Vereine gründen und sich an der Entwicklung im jeweiligen Land beteiligen. Unterstützung erfahren sie dabei auch aus der Bundesrepublik. Anlässlich des 30. Jubiläums des Entsendeprogramms des Instituts für Auslandsbeziehungen (ifa) sprach Behrang Samsami mit Karoline Gil über die derzeitige Situation der deutschen Minderheiten vom östlichen Europa bis Zentralasien, über die Ausgestaltung des Entsendeprogramms und die vielfältigen Auswirkungen des Ukraine-Krieges für die Arbeit vor Ort.

 

Behrang Samsami: Frau Gil, es gibt deutsche Minderheiten, die in Mittel- und Osteuropa und bis nach Zentralasien leben. Von wem sprechen wir konkret?

Karoline Gil: Es geht um Menschen mit einem persönlichen deutschen Hintergrund, die in historischen Siedlungsgebieten leben und Nachfahren derjenigen sind, die in den vergangenen Jahrhunderten im östlichen Europa und Zentralasien gelebt haben bzw. leben; z. B. waren sie vor hunderten von Jahren als Fachkräfte eingeladen, sich niederzulassen.

Wir sprechen bei den Minderheiten von Deutschen, die aufgrund von Grenzverschiebungen oder auch aufgrund der Tatsache, dass diese Gebiete infolge des Zweiten Weltkriegs zu anderen Ländern kamen, vor Ort geblieben und so zur Minderheit geworden sind.

Die Deutschen in Zentralasien sind auch dort, weil ihre Vorfahren im Zweiten Weltkrieg aus den bis dato von ihnen bewohnten Regionen – etwa dem Wolgagebiet – in den Osten deportiert wurden. Viele von ihnen – Stichwort Aussiedler und Spätaussiedler – sind dann nach Kriegsende, vor allem aber nach dem Ende der Sowjetunion in die Bundesrepublik gezogen.

Was alle Gebiete eint, in denen deutsche Minderheiten leben, ist, dass sie infolge des Eisernen Vorhangs jahrzehntelang vom westlichen Europa abgeschnitten waren. Die deutschen Minderheiten verbindet die gemeinsame Sprache, Kultur und Geschichte.

 

Wie groß ist die Zahl der deutschen Minderheiten?

Dazu gibt es sehr unterschiedliche Zahlen: Entweder nimmt man die Zahl der registrierten Mitglieder der Vereine der deutschen Minderheiten oder die Zahlen, von denen die Verbände der deutschen Minderheiten selbst sprechen. Alternativ kann man sich auf Volkszählungen beziehen, wenn in diesen nach der ethnischen Zugehörigkeit gefragt wird. Je nach Erhebung haben die Zahlen eine gewisse politische Färbung. Aber wir können aktuell von 1 bis 1,5 Millionen Menschen von Mittel- und Osteuropa bis Zentralasien sprechen – gemäß den Zahlen, von denen das Bundesministerium des Innern und für Heimat ausgeht. Vor 1989/90 bzw. 1991 war die Anzahl wesentlich höher, bevor ungefähr 2,3 Millionen Spätaussiedlerinnen und -aussiedler, vor allem aus Kasachstan, in die Bundesrepublik kamen. Zur Wendezeit ging man in Rumänien noch von ca. 200.000 Siebenbürger Sachsen aus. Heute sind es wohl noch um die 30.000 Personen.

 

Welche Rolle und Bedeutung kommen deutschen Minderheiten in ihrem Herkunftsland zu?

Gerade in Rumänien – um ein Beispiel zu geben – spielt die deutsche Minderheit in der Kommunalpolitik, aber auch auf Landesebene eine sehr wichtige Rolle. Staatspräsident dort ist derzeit Klaus Johannis, ein Siebenbürger Sachse. Die deutsche Minderheit ist im Land trotz ihrer heute geringen Zahl präsent und engagiert sich vielfältig. Ihre Sprache, Religion und Kultur pflegt sie selbstbewusst. Sie steht auch in einem bereichernden, friedlichen Dialog mit der Mehrheitsgesellschaft, was beiden Seiten zugutekommt und zur Verständigung beiträgt.

 

Können Sie das erläutern?

Die deutschen Minderheiten können das Bild der Mehrheitsgesellschaft über Deutschland durch den direkten Austausch vor Ort positiv beeinflussen. Der Dialog erlaubt der Minderheit, eine »Übersetzungsfunktion« zu leisten und sorgt idealerweise für ein bereicherndes Zusammenleben. Die deutsche Minderheit kann ein Türöffner für den Dialog mit der Mehrheitsgesellschaft sein und begünstigt die politischen, kulturellen, aber auch wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den Ländern. Gerade in den Beziehungen zu Deutschland spielen auch familiäre Bindungen eine wichtige Rolle.

 

Kommen wir zum Entsendeprogramm des ifa, das 2024/25 sein 30-jähriges Jubiläum feiert. Worum geht es dabei?

Das Entsendeprogramm ist eines unserer Hauptinstrumente zur Unterstützung der deutschen Minderheiten. Wir fördern Kulturmanagerinnen und Redakteure aus Deutschland bei den Institutionen der deutschen Minderheiten von Mitteleuropa bis Zentralasien. Es gibt 17 Stellen, beispielsweise in Oppeln, der »Hauptstadt« der deutschen Minderheit in Polen, und in Temeswar in Rumänien.

 

Was machen die Kulturmanagerinnen und Redakteure?

Sie führen Kultur-, Bildungs-, Jugend- und Medienprojekte durch. Das tun sie aber nicht allein. Die jeweiligen Institutionen vor Ort, die Kulturmanagerinnen bzw. Redakteure und die Vertreterinnen des ifa erarbeiten gemeinsame Ziele und lernen voneinander. Wir schauen also alle zusammen, mit welchen Projekten wir zur Innovation und Weiterentwicklung beitragen können. Es geht auch darum, wie der »andere Blick aus Deutschland«, den die Kulturmanagerinnen und Redakteure mitbringen, vor Ort übersetzt werden kann, sodass ein Mehrwert entsteht – für die deutschen Minderheiten und für den Dialog mit der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft. Unser Ziel ist, dass die Institutionen der deutschen Minderheiten ein attraktives Programm haben, für die Mehrheit sichtbar sind und auch für das heutige, aktuelle Deutschland stehen.

 

Was wäre ein solches Projekt in Europa?

In Oppeln sitzen die Verbände der deutschen Minderheiten in Polen, darunter auch der Bund der Jugend der deutschen Minderheiten (BJDM), der kürzlich sein 30-jähriges Jubiläum feierte. Unsere Kulturmanagerinnen sind hier stark in die Organisation eines Leuchtturmprojekts eingebunden: das internationale Sommercamp. Dieses bringt jährlich bis zu 70 Jugendliche der deutschen Minderheiten aus aktuell elf Staaten zusammen und findet stets in einem anderen Land statt; dieses Jahr in Polen. Es soll den länderübergreifenden Austausch stärken und den Jugendlichen das Kennenlernen von deutschen Minderheiten aus anderen Ländern sowie den Austausch in deutscher Sprache ermöglichen.

 

Kommen wir auf die aktuellen Geschehnisse im Osten Europas zu sprechen. Welche Folgen hat der Krieg in der Ukraine für Ihre Arbeit?

Es gab zwischen Deutschland und der Ukraine, aber auch mit Russland viele Initiativen im Bereich des zivilgesellschaftlichen Austauschs. Bevor im Februar 2022 der russische Angriffskrieg begann, hatte die Coronapandemie bereits dafür gesorgt, dass der Austausch mit Russland schwieriger geworden war. Der Krieg hat die Situation noch viel stärker verändert. Wir hatten zuvor drei Kulturmanagerinnen und -manager in Russland, in St. Petersburg, Omsk und Moskau. In der Ukraine hatten wir eine Kulturmanagerin in Transkarpatien. Mit der Einstellung des Programms geht der persönliche Austausch vor Ort verloren. Die jahrelang aufgebaute Zusammenarbeit und die Impulse für Demokratie verlieren an Kraft. Trotzdem ist es wichtig, dass der Kontakt bestehen bleibt. Die deutsche Minderheit in der Ukraine leistet enorme Arbeit für die gesamte Gesellschaft, gerade auch was humanitäre Hilfe und die Unterstützung von Binnenflüchtlingen betrifft. Die aufgebauten Netzwerke nach Deutschland oder in andere Länder, in denen deutsche Minderheiten leben, konnten gleich nach Beginn des Krieges aktiviert werden. Sie werden auch beim Wiederaufbau der Ukraine eine große Rolle spielen.

In Russland ist die Lage eine andere: Die deutsche Minderheit kann ihrer Sprach- und Kulturarbeit nur zum Teil nachgehen. Viele wollen aufgrund der aktuellen politischen Situation dort eher nicht als Angehörige der deutschen Minderheit auffallen. Denn Deutschland ist als »unfreundlicher Staat« von der Russischen Föderation kategorisiert worden. Aber wir versuchen, den Kontakt zur Minderheit dort nicht abreißen zu lassen. Es ist ein seidener Faden.

 

Blicken wir noch auf Zentralasien. Welche Bedeutung hat das Gebiet Ihres Erachtens?

Wenn wir an die weitere Unterstützung der Zivilgesellschaft und das zugehörige Entwicklungspotenzial denken, spielt Zentralasien eine wichtige Rolle. Kasachstan etwa ist das größte Binnenland der Erde. In den Staaten Zentralasiens leben viele ethnische Gruppen nahe beieinander. Mit Blick auf das Umfeld haben wir direkte Kontakte nach Russland, China und Afghanistan. Die Region wird geopolitisch und aufgrund ihrer Rohstoffe wichtiger – nicht zuletzt auch infolge des Krieges zwischen Moskau und Kyjiw, denn inzwischen leben Russinnen und Russen auch im Exil in Zentralasien. Auch hier gibt es die Chance, über die deutschen Minderheiten in den Dialog zu treten, um die Gesellschaften hinsichtlich Demokratie und Menschenrechte positiv zu verändern.

 

Vielen Dank.

 

Mehr dazu

Das Entsendeprogramm des ifa bietet Kulturmanagerinnen und Redakteuren die Möglichkeit, Organisationen deutscher Minderheiten zu unterstützen und neue Erfahrungen zu sammeln. Die Arbeitsaufenthalte im östlichen Europa oder Zentralasien dauern zwischen einem und fünf Jahren. Ziel des Entsendeprogramms ist es, die Organisationen vor Ort in ihrer kulturellen Brückenfunktion zwischen Minderheit und Mehrheit zu stärken und zu einem modernen und lebendigen Deutschland- und Europabild beizutragen. Mehr dazu finden Sie hier.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2024.