Als Kind hatte Jürgen Dusel ein Sehvermögen von etwa vier Prozent, mittlerweile ist er blind. Heute ist der 1965 in Würzburg geborene Jurist Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen. Der Vater von zwei erwachsenen Kindern ist nach einem Jura-Studium in Mannheim und Heidelberg als Volljurist bei der Hauptfürsorgestelle des Landes Mecklenburg-Vorpommern in Rostock ins Berufsleben gestartet. Bevor er 2018 als Nachfolger von Verena Bentele vom Bundeskabinett zum Behindertenbeauftragten der Bundesregierung bestellt wurde, leitete er unter anderem die Heimaufsicht und das Integrationsamt des Landes Brandenburg, zuletzt war er als Landesbehindertenbeauftragter Brandenburgs tätig.

Jürgen Dusels Weg ist einzigartig und gleichzeitig ein Beispiel für gelungene Inklusion und Teilhabe. Dass sein Weg zur Inklusion maßgeblich durch Musik geprägt wurde, ist vielleicht Zufall – auf jeden Fall aber bemerkenswert. Nach der Blockflöte, die fast jedes Kind in der Grundschule in die Hand gedrückt bekommt, begann er im Alter von fünf Jahren Klavier zu spielen. »Irgendwann haben meine Eltern realisiert, dass ich das absolute Gehör habe.« Sie förderten seine Begabung und meldeten ihn an der Musikschule Mannheim an. Das sehbehinderte Kind in der Musikschule adäquat zu unterrichten, war Anfang der 1970er Jahre durchaus eine Herausforderung für Schule und Lehrkräfte.

Dusel erinnert sich an »großartige Musiklehrer«: Eine engagierte Lehrerin ließ ihn klassische Stücke spielen – »Mozart, Haydn-Tänze und was die Kinder dann so lernen«. Dann kam ein spanischer Musiklehrer in sein Leben, der Improvisation, Komposition und Jazz unterrichtete. Das Ergebnis war, dass Dusel in verschiedenen Bands spielte: »Bei den Schulbands war es wurscht, ob man gut sehen kann oder nicht. Entscheidend war, dass man gut zusammenspielt. Das hat tatsächlich dazu geführt, dass ich nach dem Abitur überlegt habe, ob ich nicht Musiker werden will.«

Bekanntermaßen entschied er sich dann doch für ein Jurastudium. Heute sagt er selbst: »Seitdem weiß ich, dass nur die kreativen Juristen die guten Juristen sind.« Dass Dusels musikalische Ausbildung ein Erfolg war, hat sicher auch dazu beigetragen, die vielen Herausforderungen anzunehmen und zu meistern, denen ein sehbehinderter Mensch während der Ausbildung und auch später begegnet.

Dusel sagt: »Ich hatte Eltern, die mich unterstützt haben. Das wissen wir jetzt auch aus Studien: Eltern spielen eine zentrale Rolle. Das war 1965, als ich geboren wurde, genauso wie 2025. Daran hat sich leider nicht viel geändert.«

Im Grundschulalter besuchte er eine Förderschule für sehbehinderte Kinder in Mannheim. Als die weiterführende Schule anstand, wünschte er sich, auf eine Regelschule zu gehen. »Ich hatte einfach keine Lust mehr, jeden Morgen 45 Minuten mit dem Bus zur Schule zu fahren, obwohl die Distanz eigentlich nur etwa sieben Kilometer betrug, weil wir alle anderen Kinder eingesammelt haben. Einerseits war das verlorene Zeit, andererseits wollte ich es einfach mal ausprobieren – und ich wurde auch hier von meinen Eltern unterstützt.«

Seine Eltern erkundigten sich an Gymnasien in Mannheim, doch überall hieß es, ein sehbehindertes Kind könne man den Lehrkräften nicht zumuten. Es ging also nicht darum, wie Unterricht gestaltet werden könnte, damit Teilhabe möglich ist – man verwies sofort auf die Blindenstudienanstalt in Marburg. Dort, so wurde gesagt, gebe es kleine Klassen, gut ausgebildete Lehrkräfte und besseres Schulmaterial.

Was man jedoch verschwieg: Der Schulbesuch war mit einer Internatsunterbringung verbunden – für Dusel keineswegs wünschenswert. Seine Eltern zogen schließlich von Baden-Württemberg nach Südhessen, wo eine Gesamtschule ihr Kind aufnahm. »Für mich war das ein Segen, weil ich an einer Schule mit vielen unterschiedlichen Kindern war – und ich habe dort Abitur gemacht. Ich hatte Freunde, wir sind um die Häuser gezogen, ich war im Schwimmclub, bei den Pfadfindern – ich habe alles mitgemacht, was die anderen auch gemacht haben. Das war für mich wichtig.«

Man sieht, einerseits braucht es gesetzliche Regelungen – das große Versprechen unserer Demokratie, dass niemand ausgeschlossen wird, muss in Gesetzen verankert werden. Für eine echte Inklusion aber braucht es andererseits Menschen, meint Dusel: »Familien, Lehrkräfte, Nachbarn oder wer auch immer Kinder stark macht und motiviert. Menschen dürfen nicht nur nach ihren angeblichen Defiziten bemessen werden, sondern nach dem, was sie können. Und das treibt mich bis heute an.«

Mit den gemeinsamen Teilhabeempfehlungen des Deutschen Kulturrates und des Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen konnte Dusel 2024 das Ergebnis eines dreijährigen Austauschs mit Institutionen aus dem Kultur- und Mediensektor, mit Expertinnen und Experten der inklusiven Kulturszene sowie mit Selbstvertretungen von Menschen mit Behinderungen gemeinsam mit dem Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates Olaf Zimmermann der Politik übergeben – damals unter anderen der Staatsministerin Claudia Roth und der Vorsitzenden des Kulturausschusses, Katrin Budde. Auch seine aktuelle Amtszeit steht unter dem Motto: »Demokratie braucht Inklusion.« Dusel sagt dazu: »Das große Versprechen unserer Demokratie ist, dass alle Menschen teilhaben können. Es ist schön, wenn man das verspricht – aber besser ist es, wenn man das Versprechen auch hält.«

Zwar beginne unsere Verfassung mit dem wunderbaren Satz: »Die Würde des Menschen ist unantastbar«, und Artikel 3 enthalte das Benachteiligungsverbot »Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden«. Doch zwischen dem geschriebenen Wort und der Realität, der sich Menschen mit Behinderungen gegenübersehen, klaffe, so Dusel, eine deutliche Lücke. »Menschen mit Behinderungen werden weiterhin strukturell und systematisch benachteiligt. Das sieht man zum Beispiel bei der Zugänglichkeit zu Kunst und Kultur, zum Gesundheitssystem, zum Arbeitsmarkt oder zur Mobilität. Es reicht nicht, nur schöne Worte zu machen. Demokratie und Inklusion gehören zusammen – aber das braucht Taten, Maßnahmen, Gesetze. Und man merkt: Die Menschen, die ein Problem mit der Demokratie haben, haben meist auch ein Problem mit der Inklusion.«

Kunst und Kultur spielen in Dusels Arbeit eine zentrale Rolle. Das Kleisthaus in der Mauerstraße 53 in Berlin-Mitte ist nicht nur sein Amtssitz, sondern auch ein Veranstaltungsort – der allerdings gerade renoviert wird. »Kultur im Kleisthaus« ist die Kulturmarke des Beauftragten der Bundesregierung, hier geht es um Kunst, Kultur, Demokratie und Inklusion. Zu Gast waren bereits Igor Levit, Claudia Roth, der Hornist Felix Klieser oder der Aktivist Raul Krauthausen.

Jedes Jahr am 27. Januar, dem Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, legt der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen am Gedenk- und Informationsort für die Opfer der nationalsozialistischen »Euthanasie«-Morde – dem Mahnmal an der Tiergartenstraße 4 in Berlin – einen Kranz nieder.

»Es ist wichtig«, betont Dusel, »sich zu erinnern, um die Strukturen und Geschehnisse der Gegenwart besser zu verstehen. Ich warne vor denen, die das Geschehene tabuisieren oder – noch schlimmer – relativieren und verleugnen. Das ist gefährlich und verhöhnt die Opfer. Und ich warne vor denen, die heute wieder anfangen, Bevölkerungsgruppen zu verunglimpfen oder an den Rand zu drängen. Es reicht nicht, sich nur gegenseitig zu versichern, dass man auf der richtigen Seite steht – wir müssen auch etwas dagegen tun. Wir müssen unsere Demokratie verteidigen und dafür eintreten.«

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2025.