Dem Reformator und Bibelübersetzer Martin Luther wird nachgesagt, dass er mit seiner Übersetzung des Neuen Testaments aus dem Griechischen in das Frühneuhochdeutsche dem Volk auf das Maul schauen wollte. D. h., er wollte die Heilige Schrift so übersetzen, dass sie für die Bevölkerung, die weder Griechisch noch Latein oder Hebräisch konnte, verständlich war, und die Übersetzung sollte so sein, dass die Leseunkundigen allein vom Hören die Texte im Ohr behielten. Einige Sätze aus der Luther-Bibel, insbesondere aus dem zu Heiligabend gelesenen Lukas-Evangelium, sind so eingängig, dass sie den meisten Nichtchristen und Christen bekannt sind, wie etwa »Es begab sich aber zu der Zeit …« oder auch »Siehe, ich verkündige Euch große Freude«. Sie sind im Ohr und klingen vertraut.
Luthers Bibelübersetzung war mehr als eine Übertragung eines antiken Textes in eine andere, seinerzeit moderne Sprache. Luther war Wortschöpfer, war Sprachschöpfer. Seine Bibelübersetzung ist ein Kernelement des Protestantismus. Jede und jeder soll selbst Zugang zu den Heiligen Schriften haben. Reformation ist Emanzipation.
Luther nutzte bei seiner Übersetzung die sich im 16. Jahrhundert etablierende Sächsische Kanzleisprache, die als Frühneuhochdeutsch ein erstes Standarddeutsch war. Die süddeutschen Ausprägungen des Deutschen wurden dort in der Schriftsprache erst im 18. Jahrhundert vom Neuhochdeutschen abgelöst.
Anfang des 17. Jahrhunderts wurde in Weimar die »Fruchtbringende Gesellschaft« gegründet. Als Akademie von protestantischen Fürsten hatte sie sich der Pflege der deutschen Sprache verschrieben. Zu ihren Zielen gehörte daher auch, dass sich die Mitglieder ausländischer Sprachen enthalten sollten. Die »Fruchtbringende Gesellschaft« hatte sich nicht nur die Sprachpflege im Sinne der Bevorzugung des Deutschen auf die Fahnen geschrieben, sie war, ganz in der Tradition des Barocks, auch eine Dichterschule. Mitte des 17. Jahrhunderts wurde von Patriziern in Nürnberg der nach wie vor bestehende »Pegnesische Blumenorden« gegründet, der sich als Dichterschule verstand und ebenfalls die Sprachpflege zu seinen Zielen zählte.
Es ist sicherlich kein Zufall, dass in einer Zeit, die durch Krieg, Tod, grundumstürzende Umbrüche, Krankheit und Pestilenz, gekennzeichnet ist, wie die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts, eine Lyrik entsteht, die sehr formal ist und oftmals auf Gegensatzpaaren wie Tod und Leben aufbaut. Sprache, Dichtung als Halt in einer Welt, die auseinanderbricht, in der sich alles verändert, in der die Religion, ein wesentlicher Bezugspunkt im Leben der damaligen Bevölkerung, zwischen katholisch und evangelisch – je nach Fortschritt der Kriegshandlungen der einen oder der anderen Seite – wechselte.
Gab im Barock die Sprache in einer unsicheren und zutiefst verunsicherten Zeit durch Formalisierung Halt, so wurden in der expressionistischen Lyrik und im Dada die bestehenden Sprachmuster und -formen gesprengt. Jakob van Hoddis’ im Jahr 1911 veröffentlichtes Gedicht »Weltende« markiert den Einschnitt im Umgang mit Sprache und Lyrik. Die expressionistische Lyrik zeichnet den Bruch mit den traditionellen Formen der Lyrik aus. Insbesondere die im Ersten Weltkrieg entstandenen Dichtungen schreien den Schmerz über das Grauen heraus. In der von Kurt Pinthus herausgegebenen Anthologie »Menschheitsdämmerung« sind Werke jener literarischen Epoche versammelt, die Zeugnis über die Sprachlosigkeit und Sprachschöpfung jener Zeit Auskunft geben. Dada und Futurismus sind demgegenüber spielerische Varianten des Aufbruchs in die neue Epoche der Moderne.
Sprache ist mehr als Worte. Sprache ist mehr als Kommunikation. Sprache verbindet und Sprache trennt. Sprache schafft Zugang und Sprache grenzt aus.
Gerade weil die Sprache im menschlichen Zusammenleben eine so große Bedeutung hat, wird so oft darüber gestritten. Sei es zum Nutzen der deutschen Sprache, wie etwa im Barock, sei es zur Abwertung des Deutschen als Sprache des Volkes wie etwa zur Zeit Friedrichs des Großen, der, so wird es überliefert, Französisch dem Deutschen vorzog.
Sprache wandelt sich so, wie sich die Gesellschaft verändert oder andersherum, gesellschaftliche Veränderungen finden in der Sprache ihren Ausdruck. So ist das »Fräulein« inzwischen aus dem aktiven Wortschatz der meisten Deutschen verschwunden, aus Flüchtlingen wurden sukzessive die »Geflüchteten«, um Beispiele aus der jüngeren Zeit zu verwenden.
Wie politisch Sprache ist, zeigt sich an der sogenannten Gendersprache. Eigentlich ein alter Hut. Sprachwissenschaftlerinnen wie Luise F. Pusch und Senta Trömel-Plötz setzten sich bereits seit Ende der 1970er Jahre für eine gendergerechte Sprache ein. Vieles, was heute zum Glück selbstverständlich ist, etwa die Nennung der weiblichen und männlichen Form, geht auf diese und andere Pionierinnen zurück, die anfangs verlacht wurden. Vermutlich wird in 40 Jahren über die heute teils höchst emotional geführten, fast schon an Glaubenskriege erinnernden Auseinandersetzungen um »Gendersprache« nur noch müde gelächelt werden. Wahrscheinlich werden sie politisch und linguistisch in eine Zeit eingeordnet, die ebenfalls durch Unsicherheit, Pandemie, Krieg und dem Verlust von alten Gewissheiten geprägt ist und in der die Sprache Halt geben soll.
Mit Händen und Füßen reden, dieses Sprichwort kennen sicherlich die meisten. Und fast jeder hat auf einer Urlaubsreise schon einmal die Erfahrung gemacht, was es bedeutet, sich verständlich zu machen, wenn man der Sprache nicht mächtig ist. Moderne Übersetzungsprogramme, die mit dem Smartphone abgerufen werden können, nähern sich dem von mir seit meiner Jugend ersehnten »Universalübersetzer« von »Raumschiff Enterprise« an. Ich habe aber auch erfahren, wie schmerzlich es ist, wenn die Sprache fehlt oder, anders gesagt, die Worte, die auf der Zunge liegen, einfach nicht herauskommen wollen. Noch heute bin ich den Logopädinnen und Logopäden dankbar, die mich in meiner Jugend gelehrt haben, mein Stottern weitgehend zu bezwingen und mit meiner Sprachstörung umzugehen und zu leben.
Gebärdensprache, Leichte Sprache oder auch Einfache Sprache sind eigene Sprachen, die Zugang zur Welt bieten. Sie ermöglichen Teilhabe und Partizipation an gesellschaftlichen Debatten und damit dem gesellschaftlichen Diskurs, der leidenschaftlich und mit Respekt geführt werden sollte. Sprache ist mehr als Worte, sie ist Zugang zur Welt.