Sexuelle Belästigung ist ein Versagen der Kommunikation. Die offene Symmetrie von Selbstdarstellung und Gesprächsbereitschaft bricht zusammen, und an ihre Stelle tritt die Asymmetrie eines Übergriffs, einer entwürdigenden Objektivierung des Gegenübers. Das gilt im Kulturbetrieb wie andernorts. Ist souveräne und respektvolle Kommunikation von einer taktvoll unentschiedenen Wahrnehmung und Anerkennung des Gegenübers getragen, kollabiert die Ambivalenz der Kommunikation im Fall der sexuellen Belästigung in eine geschmacklose Eindeutigkeit des anzüglichen Blicks oder der anzüglichen Geste. Kann die Belästigung perfider Weise immer noch als Kommunikation gelten, weil sie Wahlmöglichkeiten hat und somit die Ausübung von Macht dokumentiert, wird das Gegenüber auf Körperlichkeit reduziert und sich und anderen als ohnmächtig präsentiert.

Gibt es im Kulturbetrieb besondere Bedingungen, die sexuelle Gefährdungen dieser Art begünstigen oder umgekehrt ihr Auftreten unwahrscheinlicher machen? Ist der Kulturbetrieb als Ort der Künste ästhetisch aufgeklärter und ziviler als andere Organisationen oder umgekehrt dank seiner Nähe zur Wahrnehmung des körperlichen Ausdrucks offener und freizügiger in der Erschließung sexueller Chancen? Ist der Kulturbetrieb, punktgenauer gefragt, per se ein Ort des Respekts vor der Autonomie der kultivierten Person oder im Gegenteil ein Ort der immer mitlaufenden Verführung?

Meine erste These ist, dass der Kulturbetrieb wegen seiner Verschränkung von Kommunikation und Wahrnehmung schon deswegen gefährdet ist, weil diese Verschränkung die Ambivalenz der Kommunikation steigert und damit paradoxerweise die Verletzung der Ambivalenz attraktiver macht. Taktlos greift man zur einfachsten Lösung, weil die Ambivalenz intellektuell überfordert. Wegen seiner unvermeidbaren Arbeit am aktiven und passiven Engagement des Körpers ist der Kulturbetrieb ähnlich wie der Sportverein, aber auch die Familie und die Kirche, die ebenfalls damit kämpfen, aus dem Anspruch der Vollinklusion der Person – »wir meinen dich in allen deinen Facetten« – deren unübersehbare Körperlichkeit sowohl anzusprechen als auch herauszuhalten, mehr als andere gesellschaftliche Bereiche auf Formen der Indifferenzproduktion gegenüber der Leiblichkeit seiner Protagonisten angewiesen und wegen der Steigerung dieser Ansprüche anfälliger für ihre Verletzung. Souverän kann sich glauben, wer den Anschein und die Forderung der Indifferenz durchbricht. Und in der Falle sitzt, wer auch nur minimal mit diesen Ansprüchen nicht zurechtkommt und das eigene Engagement ohne den nötigen Indifferenzschutz zu erkennen gibt.

Kulturbetrieb als soziales System

Der Kulturbetrieb ist ein soziales System wie andere Ordnungen der Kommunikation auch. Jedes soziale System arbeitet laufend an seiner Grenzziehung sowohl zu seiner Umwelt als auch zu anderen Systemen in dieser Umwelt. Diese Grenze ist der Ort der größten Empfindlichkeit. Hier kann sich das System bewähren; hier kann es versagen. In der jüngsten, von Niklas Luhmann vorgelegten Fassung der Systemtheorie geht man sogar so weit zu sagen, dass das System seine eigene Grenze ist. Jede Kommunikation im System ist eine Operation, die die Grenze zieht und damit entweder bestätigt oder auch gefährdet.

Für die hier zu verhandelnde Frage zählt insbesondere die Grenze zum Bewusstsein und zur Körperlichkeit der am System beteiligten Menschen. Menschen sind in Luhmanns Fassung der Systemtheorie keine Elemente sozialer Systeme, sondern gehören zu der für das System unverzichtbaren Umwelt des Systems. Sie werden als Elemente der Form des Systems betrachtet, insofern diese Form die Umwelt einschließt, die sie zugleich ausschließt. Man kommt mit der Systemtheorie nur zurecht, wenn man diese Paradoxie akzeptiert.

Menschen sind in die Form des Systems eingeschlossen, indem sie ausgeschlossen sind. Auch der Kulturbetrieb adressiert sie als Individuen, als Personen, notfalls auch als Subjekte, deren Bewusstsein und deren Organismus nicht zum System gehören, sondern ihrer eigenen Dynamik unterworfen sind. Seine Strukturen und Regeln gewinnt der Kulturbetrieb daraus, diesen Einschluss qua Ausschluss produktiv werden zu lassen. Menschen finden sich in der Belegschaft, unter den Partnern und im Publikum. Sie müssen für die zu treffenden Entscheidungen, für Kooperationen und fürs Zuschauen und Mitmachen gewonnen werden. Selbstverständlich will man bei jedem Einzelnen wissen, mit wem man es zu tun hat. Aber man erreicht immer nur situative Fragmente. Das ermutigt die gefühllose Reduktion, den Verzicht auf die ganze Person, macht jedoch umgekehrt den Gedanken attraktiv, man könne sie sexuell, auf dem Umweg über eine Intimität, erreichen. Gegen diese immer mitlaufende Option muss sich die Organisation behaupten, indem sie Erwartungen an das Handeln und Erleben ihrer Leute formalisiert und zusätzlich erwartet, dass diese Erwartungen verstanden und bestätigt werden.

Hierarchien, Teams und Abteilungen geben diesen Erwartungen Struktur nach innen. Projekte, Geschäfte, Verträge und Verpflichtungen geben ihnen Struktur nach außen. Und die Rahmung der Arbeit gibt ihnen Struktur gegenüber dem Publikum. Immer wieder hat man es mit Menschen zu tun, aber eben auch mit den Strukturen und Systemen, in denen diese Menschen sich außerhalb des Kulturbetriebs in Partnerorganisationen, im Feld der Kulturpolitik und in den kunstfernen Gefilden der Politik und Wirtschaft, der Massenmedien und Religion, der Wissenschaft und Erziehung bewegen. Jede Struktur und jede Regel innerhalb eines Kulturbetriebs gibt darüber Auskunft, welche dieser Umwelten in welcher Form in den Kulturbetrieb als ausgeschlossen eingeschlossen wird. Man findet Rücksichten auf Politik und Finanzen, auf die Presse und die sozialen Medien, auf religiöse Empfindlichkeiten oder Bindungen, auf wissenschaftliche Erkenntnisse und pädagogische Absichten. Doch jede dieser Rücksichten ist keine Eins-zu-Eins-Übersetzung der Anforderungen dieser Systeme in der Umwelt des Kulturbetriebs – wer sollte diese Übersetzung auch leisten? –, sondern eine mehr oder minder idiosynkratische Interpretation dessen, was diese Systeme wohl vom Kulturbetrieb erwarten beziehungsweise ihm zu bieten haben.

Keine dieser Rücksichten ist in einem Kulturbetrieb unumstritten. Über jede Anforderung aus der Umwelt finden im System des Kulturbetriebs Auseinandersetzungen statt. Es existieren Strukturen und Regeln, die die Anforderungen übersetzen, und es existieren Strukturen und Regeln, wann sie gelten und wann eher nicht. Die Formalisierung der Organisation ist daher ebenso wichtig wie informelle Übereinkünfte und Umgangsformen, die den Betrieb überhaupt erst aufrechterhalten. Die Wirklichkeit des Betriebs hat wesentlich mehr Ähnlichkeit mit einem laufend neu zu interpretierenden Graubereich als mit eindeutigen und jederzeit verlässlichen Vorgaben. So sehr der Betrieb nach außen die Eindeutigkeit der Verfahrenstreue aufrechterhalten muss, sosehr bewährt sich die eigene Belegschaft erst dann, wenn sie weiß, welche Vorgaben wann ernst zu nehmen sind und welche wann nicht. Erleichtert und erschwert wird diese Gemengelage dadurch, dass die informellen Übereinkünfte der Gegenstand eines impliziten Wissens sind. Wer darüber spricht, hat schon verloren.

Das führt mich zur zweiten These: Kulturbetriebe sind wie andere Systeme auch auf eine Form der Kommunikation angewiesen, in der sich Reden und Schweigen nicht nur die Waage halten, sondern in der sich nur bewährt, wer für diese Waage einen hinreichenden Sinn hat. Die Auseinandersetzung ist so wichtig wie das Verschweigen. Und noch wichtiger ist das Verschweigen des Verschweigens. Das ist keine Pathologie des Betriebs, sondern eine Betriebsbedingung. Wegen der Unterschiedlichkeit ihrer Umwelten ist keine Organisation der Welt in der Lage, an einem eindeutigen Verhältnis von Zielen und Mitteln, Vorgaben und Verfahren festzuhalten. Jede Organisation lebt aus der Spannung, mit der sie unvermeidbare Konflikte zwischen verschiedenen Anforderungen bewältigt. Sie »ist« diese Spannung, weil sie ihre Grenze zu diesen Umwelten ist. Jede Organisation, jeder Kulturbetrieb findet für diese Spannung eine eigene Form, weswegen jeder Kulturbetrieb eine unverwechselbare Individualität hat und keinerlei allgemeinem Schema – außer dem Schema der Individualität als System in konfligierenden Umwelten – unterworfen werden kann.

Verführung zur Verführung

Der Kulturbetrieb verführt zur Verführung. Das ist eine seiner immanenten Gefährdungen, die es immer schon gab und die erst mit dem Aufkommen der Frauenbewegung nicht mehr toleriert wird. Ein bestimmtes Verschweigen wird nicht mehr verschwiegen. Der Kulturbetrieb verführt zur Verführung, weil er unvermeidbar die zweideutigen kommunikativen Nischen schafft, in denen sie möglich ist, und weil er sowohl den Übermut der Regelverletzung fördert als auch die Suche nach einem Ventil, um mit der Überforderung fertig zu werden.

Ich formuliere dies so ausdrücklich, weil es meines Erachtens keinen Sinn hat, über sexuelle Gefährdung und den Umgang mit ihr nachzudenken, wenn man nicht zugleich die strukturellen Bedingungen sieht, die abhängig von den nicht zu leugnenden Dispositionen der Belegschaft die Wahrscheinlichkeit einer Belästigung erhöhen. Natürlich kann man versuchen, mit moralischem Nachdruck, interner und externer Überwachung sowie psychotherapeutischen Programmen die Disposition zu sexuellen Übergriffen aus der Welt zu schaffen. Aber welche Kollateralschäden nimmt man damit in Kauf? Moral, Überwachung und Psychotherapie lassen sich nicht punktuell eingrenzen, sondern greifen auf alles zu, was sich nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen kann. Es ist kein Zufall, dass man gegenwärtig vor allem mit Maßnahmen zur Steigerung von Awareness, von Bewusstsein für das eigene Auftreten in einer grundsätzlich ambivalenten Kommunikation, versucht, der Gefährdung entgegenzutreten. Aber auch das verliert sich in guten Absichten, wenn es nicht gelingt, gleichzeitig das Gefühl für die prekären Bedingungen der Ausdifferenzierung eines Systems zu steigern.

Das ist meine abschließende dritte These: Nur Maßnahmen der Organisationsentwicklung sind geeignet, mit dem Problem der sexuellen Belästigung fertig zu werden. Organisationsentwicklung bedeutet, ein Verständnis für die Organisation als Organisation, als System in verschiedenen Umwelten zu gewinnen und so den Blick dafür zu schärfen, was Menschen in einer Organisation leisten. Es geht um Respekt, es geht aber auch um ein so elementares Gefühl wie den Spaß und das Vergnügen aneinander. Auch dieses Gefühl ist ohne seine Ambivalenz nicht zu haben, aber ohne dieses Gefühl verlässt einen die Kraft im Umgang mit der offenen Symmetrie der Kommunikation.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 3/2024.