Am Anfang stand der Skandal: Produzent X »bittet« Schauspielerinnen auf die sprichwörtliche Besetzungscouch und erwartet sexuelle Dienstleistungen, damit sie die Rolle bekommen. Dem Hochschullehrer Y sind sowohl Studentinnen als auch Studenten als Sexobjekte gerade recht. Schauspieler W bevorzugt junge Männer, insbesondere jene, die sich von einer Affäre mit einem bekannten Star einen eigenen Karriereschub erhoffen und daher zu vielem bereit sind. In den vergangenen Jahren war von vielen dieser Vorfälle zu lesen. Einige führten zu rechtskräftigen Verurteilungen, und die Täter sind inzwischen im Gefängnis, bei anderen war die Rechtslage uneindeutig und – so moralisch verwerflich es auch klingen mag – auch für potenzielle Sexualstraftäter und -täterinnen gilt: »in dubio pro reo«.

Die Metoo-Bewegung, beginnend 2017, hat breite Diskussionen ausgelöst. Zuerst in der Öffentlichkeit; dabei spielte sicherlich eine zentrale Rolle, dass einige der Angeklagten aus der Kultur- und Medienbranche bekannt waren, denn auch beim Skandal gilt: »sex sells«.

Zum Glück blieb die Diskussion aber nicht beim Skandal stehen. Ziel ist es, dass Machtmissbrauch, sexualisierte Gewalt und Diskriminierung im Kulturbereich überhaupt nicht vorkommen. Es ist deshalb sehr zu begrüßen, dass eine breite Debatte in den künstlerischen Hochschulen, in den Kulturbetrieben, in Kulturverbänden, in der kulturellen Bildung, in den Medienunternehmen über Machtmissbrauch im Kulturbereich entstanden ist. Es wurde über sexualisierte Gewalt im Kulturbereich, über das Ausnutzen von herausgehobenen Positionen, über prekäre Arbeit, über mangelnde Kollegialität in Ensembles, über harten Wettbewerb, über Abhängigkeitsverhältnisse, über den Schutz von vulnerablen Gruppen und anderes mehr debattiert.

Vor allem wurden Maßnahmen ergriffen. Im Hochschulbereich ging eine der ersten Initiativen von der Bundeskonferenz der Gleichstellungsbeauftragten an Kunst- und Musikhochschulen aus. Sie haben eine Positionierung erarbeitet, wie künstlerische Arbeit und körperliche Nähe in der Ausbildung – insbesondere in Musik, Theater und Tanz – ohne sexuelle Belästigung gelingen muss und kann. Die staatlichen Kunst- und Musikhochschulen haben inzwischen flächendeckend Leitlinien entwickelt, die deutlich machen, dass sexualisierte Gewalt an der Hochschule nichts zu suchen hat. Beschwerde- und Beratungsstellen an den Hochschulen wurden eingerichtet, an die sich betroffene Studierende wenden können. Ziel ist es, eine neue Führungs- und Lehrkultur zu etablieren. Neben künstlerischer Exzellenz der Lehrenden geht es auch um deren pädagogische Qualifikationen. In der kulturellen Kinder- und Jugendbildung wurden, nicht zuletzt ausgelöst durch die Missbrauchsskandale in den Kirchen oder auch im Sport, Schutzkonzepte für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen erarbeitet. Ein besonderes Augenmerk wird hier auf Prävention und auf die Qualifizierung der haupt- und ehrenamtlichen Akteure gelegt. Kulturverbände haben Verhaltenskodices aufgestellt oder die eigenen ethischen Standards geschärft. Mit Dienstanweisungen, die sexualisierter Gewalt entgegenwirken sollen, wurde in Medienunternehmen reagiert. Die ohnehin vom Allgemeinen Gleichstellungsgesetz (AGG) vorgeschriebenen Beschwerdestellen, an die sich alle wenden können, die Diskriminierung oder auch sexualisierte Gewalt erfahren haben, wurden teils erst eingerichtet, teils bekannter gemacht. Zunächst für die Film-, Fernseh- und Theaterbranche inzwischen erweitert um den Musiksektor wurde die unabhängige Beratungsstelle Themis (Vertrauensstelle gegen sexuelle Belästigung und Gewalt) errichtet. Mitglieder sind Verbände und Sendeunternehmen, finanziert wird sie durch Mitgliedsbeiträge und eine Zuwendung der Beauftragten für Kultur und Medien (BKM). Themis ist darauf spezialisiert, Opfern sexualisierter Gewalt aus den ausübenden Künsten psychologischen und rechtlichen Rat zu geben und ggf. an geeignete Stellen weiter zu verweisen. Nach fünf Jahren reißt der Beratungsbedarf nicht ab und belegt, wie wichtig die unabhängige Beratung ist.

Wer in einer anderen künstlerischen Sparte tätig ist, also z. B. in der Literatur, der Bildenden Kunst, der Fotografie oder auch dem Design, geht leider leer aus. Hier gibt es keine vergleichbare unabhängige Beratungsstelle. Dabei ist sie im Kulturbereich besonders wichtig. Viele Betriebe oder auch Kultureinrichtungen sind sehr klein, in der Kultur- und Kreativwirtschaft liegt die durchschnittliche Betriebsgröße bei nur 5,5 Erwerbstätigen. D. h. jeder kennt jeden, eine anonyme Beschwerde ist in diesen kleinen Einrichtungen kaum möglich. Darüber hinaus sind viele gar nicht dauerhaft in einem Unternehmen oder einer Kultureinrichtung beschäftigt, viele arbeiten nur temporär – ganz abgesehen von den Soloselbstständigen, die in keinen Betriebsablauf eingebunden sind. So verdienstvoll und bedeutsam die Arbeit von Themis ist, es besteht eine große Lücke mit Blick auf die bislang noch nicht abgedeckten künstlerischen Sparten.

Vieles ist also schon geschehen, der Kulturwandel hat begonnen, einschließlich vermutlich kaum zu vermeidender Rückschläge, und dennoch liegt noch viel Arbeit vor allen Beteiligten, um sexualisierte Gewalt zu verhindern. Der Deutsche Kulturrat hat im Juni 2023 den Dialogprozess »Respektvoll Arbeiten in Kunst, Kultur und Medien« begonnen. Fast Hundert Mitgliedsverbände aus den Sektionen des Deutschen Kulturrates beteiligen sich aktiv daran. Zusätzlich wird externer Sachverstand herangezogen. Thematisiert werden in diesem Dialogprozess die Spannungsfelder Prävention und sexualisierte Gewalt, Empowerment und Diskriminierung sowie Verantwortung und Machtmissbrauch. Im Juni dieses Jahres sollen die Arbeiten am Positionspapier abgeschlossen sein und es dem Sprecherrat des Deutschen Kulturrates zur Diskussion und Verabschiedung übergeben werden. Es ist geplant, diese Selbstverpflichtung einschließlich Forderungen an Politik und Verwaltung noch vor der Sommerpause der Öffentlichkeit vorzustellen.

Der bisherige Prozess in diesem breiten Forum belegt, wie vielschichtig die Problemlagen sind, dass Machtmissbrauch, sexualisierte Gewalt und Diskriminierung nicht nur eine Frage von Hierarchien sind, sondern auch unter Kolleginnen und Kollegen vorkommen können, dass respektvolles Arbeiten von allen angestrebt wird, dass eingefahrene Wahrnehmungsmuster hinterfragt werden und dass es letztlich aller Orten auf eines ankommt: Hinsehen und Handeln.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 3/2024.