Das elegante Drehen auf der Fußspitze, die mühelosen Hebungen, die prachtvollen Kostüme und viele weitere Attribute faszinieren sowohl Erwachsene als auch und vor allem Kinder, heute noch genau so sehr wie vor mehreren Generationen, weshalb die Ballettschulen – oder genauer die Schulen des Künstlerischen Tanzes – nach wie vor gefragte Orte der außerschulischen Bildung sind. Da nun diese Art des Tanzes akademisiert wurde und ganz klaren ästhetischen Prinzipien unterliegt, ist es von Bedeutung, dem Körper, neben der Freude an Bewegung, auch eine bestimmte Haltung beizubringen. Damit diese sowie etliche weitere koordinative Fähigkeiten, die diese Tanzform vermittelt, von den kindlichen Körpern erlernt und sensomotorisch wahrgenommen werden können, bedarf es bestimmter pädagogischer Praktiken, die in unserer heutigen Zeit, vor dem Hintergrund der Sensibilisierung unserer Gesellschaft für mögliche Machtmissbräuche oder sexuelle Belästigungen und jegliche Gewalt, zu Rechthinterfragt werden müssen. Wenn man Bilder aus historischen Büchern über die Entwicklung des Tanzes betrachtet, wird man vielleicht sehen, wie Ballettmeister mit einem Stock in der Hand im Ballettsaal stehen. Dies wirkt auf den ersten Blick veraltet und für heutige Verhältnisse befremdlich. Allerdings sollte man keine voreiligen Schlüsse ziehen, denn der Gefahr einer sexuellen Belästigung war man sich auch in vergangenen Zeiten bewusst. Deshalb war dieser Stock – neben der Urfunktion als Taktstock – auch dazu gedacht, direkte körperliche Berührung zwischen Ballettmeistern und ihren Schülerinnen und Schülern zu vermeiden. Obwohl sich also das Problem an sich nicht verändert hat, können wir natürlich in unserer heutigen Zeit nicht dieselben Mittel anwenden, weshalb keiner unserer Pädagoginnen und Pädagogen heutzutage mit Stöcken durch den Ballettsaal laufen. Die didaktische Herangehensweise innerhalb des Klassischen Tanzes hat sich, im Vergleich mit der methodischen, viel gravierender verändert. Das primäre Ziel ist es nach wie vor, den Körper zu kultivieren, die Muskeln aufzubauen und zu entwickeln, um bestimmte Formen einnehmen und halten zu können, damit der Körper sich in Zeit und Raum, also zur Musik und innerhalb einer Choreografie, anmutig und präzise bewegen kann. Um diese hier so einfach klingenden Anforderungen erfüllen zu können, benötigt ein ungeschulter Körper eine gewisse Unterstützung, die über die verbale Information zur technischen Ausführung hinausgeht und auch taktile Reize miteinbezieht, die in diesem Bereich ein sehr wichtiges und wertvolles pädagogisches Mittel sind. Mit anderen Worten, es ist notwendig mittels Berührung durch die Lehrerin oder den Lehrer die Bewegung korrekt einzuleiten oder die entsprechende Muskulatur zu aktivieren. Obwohl die verbale Anleitung in der Unterrichtsstunde überwiegt, würde es den Lernerfolg signifikant schmälern, wenn die nonverbale Rückmeldung ausgeschlossen würde.

Der Deutsche Berufsverband für Tanzpädagogik (DBfT) hat aus diesem Grund ein Regelbuch erstellt, das sich genau mit diesen Themen befasst. Im Verhaltenskodex verpflichten sich unsere Mitglieder u. a., durchgehend hohe Standards für ihr persönliches und berufliches Verhalten zu beachten, integer und professionell zu handeln, die individuellen Grenzempfindungen von Kindern und Jugendlichen ernst zu nehmen – und darauf zu achten, dass sie auch untereinander diese Grenzen respektieren –, inklusiv zu arbeiten, Vielfalt zu zelebrieren sowie als Fürsprecher für den Tanz und die Tanzpädagogik aufzutreten.

Worauf will ich hinaus? Als Beispiel soll ein Fall aus unserem Berufsfeld herangezogen werden, der veranschaulicht, wie trügerisch das eigene Körpergefühl sein kann und weshalb taktile Reize als pädagogisches Instrument wichtig sind. Im Rahmen einer Lehrstunde haben Jugendliche die verbal angeleitete Aufgabe erhalten, ihre Arme in voller Länge über den Kopf zu strecken. Ein Junge stand am Ende immer noch mit leicht angewinkelten Ellenbogen da, woraufhin die Lehrerin ihn mittels Berührung korrigieren wollte, um ihm das Gefühl der Armstreckung nach oben durch taktile Reize näher zu bringen. Der Junge erfasste diese Korrektur als körperliche Bedrohung und drohte mit einer Klage. Es ist selbstverständlich jedermanns Recht, seinen unmittelbaren persönlichen Raum zu schützen, jedoch macht dieses Beispiel deutlich, dass die Sensibilität für das Thema der körperlichen Übergriffe auch überzogen werden kann. In einem weiteren Fall hat eine erwachsene Frau einen Kurs zur »Kontaktimprovisation« besucht und konnte die Stunde emotional nicht aushalten, da sie sich aufgrund der Berührung durch den ihr zugeteilten Partner sexuell angegriffen fühlte.

Als Verband sprechen wir uns ganz klar gegen jeglichen Missbrauch innerhalb des Unterrichts aus. Dabei ist es egal, ob er nun physischer oder psychischer Natur ist. Man muss allerdings deutlich hervorheben, dass der Tanz die komplexeste Kunstform darstellt – da der Mensch gleichzeitig Subjekt und Objekt, also Künstler und Instrument ist. Es lässt sich nicht leugnen, dass in der Vergangenheit oft falsch gehandelt wurde. Nichtsdestotrotz muss allen Beteiligten klar sein, dass eine wohlwollende Berührung in einem sicheren Umfeld, die zur gewünschten Erlangung neuer Fähigkeiten und Fertigkeiten führt, keine Bedrohung darstellt, sondern vielmehr einen »Aha-Moment« hervorruft. Die sichere Anleitung der Bewegung durch taktile Reize ist keine körperliche Gewaltanwendung oder ein Missbrauch der Position der Pädagogin oder des Pädagogen. Es geht um eine respektvolle Arbeit, basierend auf Vertrauen auf beiden Seiten, sowohl seitens der Lehrkräfte gegenüber den ihnen anvertrauten Schützlingen als auch der Schülerinnen und Schüler gegenüber der Intention ihrer Lehrerinnen und Lehrer.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 3/2024.