Bei einem der wichtigsten ethischen Begriffe unserer Zeit ist oft unklar, was er bedeuten soll. Deshalb ist es gut, die schlichte Frage zu stellen: »Was ist Aufarbeitung?« In dem von mir herausgegebenen Buch »Sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche« (2022) hat mein Kollege Andreas Stahl aufgeführt, was dazugehört: 1. Unterstützung der betroffenen Personen, 2. Ahndung der Taten, 3. Fallverstehen und Analyse kirchlicher Systeme, 4. Prävention, 5. Thematisierung der allgemein-gesellschaftlichen Dimension, 6. kritische Erneuerung der Theologie, 7. Erinnerungskultur. Diese Liste führt vor Augen, wie umfangreich und grundsätzlich die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche ist, besonders wenn man sie gemeinsam mit externen Expertinnen und Experten sowie betroffenen Personen angeht – wie es unabdingbar ist.

Die Liste macht zudem deutlich, woran es gefehlt hat und oft genug noch fehlt. Wir haben schutzbedürftige Menschen nicht geschützt und sind ihnen auch später nicht gerecht geworden. Das löst bei vielen, die in der evangelischen Kirche Verantwortung tragen, Scham aus. Doch darin dürfen wir nicht verharren, wenn wir unserer Verantwortung gerecht werden wollen. Da ist es hilfreich, sich die Ziele der Aufarbeitung klarzumachen. Drei Ziele sind für mich besonders wichtig: 1. Betroffenen Anerkennung zuteilwerden lassen; 2. für Grenzverletzungen und Gefahren sensibilisieren; 3. zu Widerständigkeit ermutigen und ermächtigen.

Zum Ersten: Es ist häufig nicht möglich, Betroffenen mit den Mitteln des Strafrechts Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Das nachgeordnete kirchliche Disziplinarrecht ist dafür kein Ersatz. Deshalb sind regionale Aufarbeitungs- und Anerkennungskommissionen so wichtig, die Betroffene anhören, ihren Geschichten nachgehen, das ihnen angetane Unrecht anerkennen und mit ihnen klären, was jetzt helfen könnte. Eine »Wiedergutmachung« ist dies nicht, oft bleibt es unbefriedigend und ist doch ein Weg, mit der Lücke, die das Strafrecht hinterlässt, umzugehen.

Zum Zweiten: Auch wenn man einzelne Beschuldigungen nicht immer aufklären kann, lassen sich die spezifischen Faktoren erheben, die in der evangelischen Kirche sexualisierte Gewalt ermöglichen. Da es in allen kirchlichen Arbeitsbereichen auch um vertrauensvolle Nähe geht, kann es in allen zu Grenzverletzungen kommen: in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, der Seelsorge, der Kirchenmusik, der Diakonie, der Erwachsenenbildung, der Aus- und Fortbildung, den Freizeitangeboten, den spirituellen Gemeinschaften, im Pfarrhaus. Doch solch eine allgemeine Aussage hilft noch nicht viel. Deshalb müssen spezifische Faktoren benannt werden: Warum können Männer – und zum Teil auch Frauen – auch in der evangelischen Kirche zu Tätern werden? Da ist zum einen die Unfähigkeit, Macht und Machtmissbrauch zu begreifen. Von ihren Ursprüngen her versteht sich die evangelische Kirche als eine machtkritische Institution. Das kann dazu führen, dass man eigene Machtdynamiken nicht angemessen wahrnimmt. Das verbindet sich mit quasidemokratischen Strukturen, in denen Verantwortung diffus wird.

Ähnlich ist es mit dem moralischen Anspruch, unter den sich die evangelische Kirche stellt – was verhindert, dass man einsieht und sich eingesteht, dass das Böse auch im eigenen Bereich möglich und wirklich da ist (»es« kann eben sehr wohl auch »bei uns« geschehen!). Hier wären Anfragen an die unterschiedlichen sexualethischen Einstellungen von 1945 bis heute zu stellen: Haben sie ein Verständnis für die Abgründe männlicher Sexualität eröffnet und für die Gefahr sexualisierter Grenzverletzung in der Kirche sensibilisiert – oder nicht?

Verführbar ist man zudem durch vermeintliches Charisma und angebliche pastorale Erfolge, durch die Kirchenmänner eine Unangreifbarkeit erhalten, die sie für den Missbrauch nutzen können. Hinzu kommen Faktoren, die zu bestimmten Epochen wirksam waren: die Autoritätskultur in den 1950er Jahren, besonders in der Heimerziehung, oder der antiautoritäre Aufbruch in den 1970er Jahren, der neuartige Grenzverletzungen ermöglichte. Hier stellt sich die Frage, was daran Vergangenheit und was weiterhin, vielleicht in veränderter Gestalt, Gegenwart ist.

Zum dritten Ziel der Aufarbeitung: Es ist eine notwendige Ernüchterung, sich einzugestehen, dass es auch in Zukunft in der evangelischen Kirche zu Grenzverletzungen bis hin zu schwerer Gewalt durch haupt- oder ehrenamtliche Männer kommen kann. Das heißt aber nicht, dass man resignieren müsste. Man kann ungute Strukturen und Kulturen kritisieren und verändern. Man kann Beschwerdestellen einrichten und Ansprechpersonen benennen. Man kann Unterstützung anbieten und dazu ermutigen, sich zu wehren. Man kann Verfahren entwickeln, Beschuldigungen angemessener zu bearbeiten und Verantwortung zu übernehmen. Man kann sich also auf den Weg machen, eine bessere evangelische Kirche zu werden. Voraussetzung dafür aber ist, dass man sich von idealisierten Selbstbildern verabschiedet hat.

Unschlüssig bin ich mir darüber, welche Bedeutung den Fallzahlen zukommen soll. Einerseits ist es unerlässlich, dass man eine Ahnung von den Dimensionen des Problems gewinnt. Man halte sich vor Augen, dass die Polizei im Jahr 2022 fast 120.00 Anzeigen gegen die sexuelle Selbstbestimmung bearbeitet hat. Zudem könnte es hilfreich sein, wenn man zeitliche Verläufe präziser in den Blick nähme: Wann gab es besonders viele Übergriffe? Lassen sich Entwicklungslinien zeichnen? Zudem könnte man zu genaueren Vorstellungen von Täter- und Betroffenengruppen gelangen. Andererseits irritiert mich eine gelegentlich fast ausschließliche Fokussierung auf Zahlen. Denn sie blendet aus, dass es eindeutige Quantifizierungen nicht geben wird, dass die – nicht selten unbefriedigenden – Quellen sie nicht hergeben, dass Vermessungen des Dunkelfelds nur Schätzungen sein können. Zudem frage ich mich, was eine bloß quantitative Debatte leistet. Denn was ist hier »viel« oder »wenig«? Diese Frage sollte sich verbieten, wenn man bedenkt, wie tief die körperlich-seelisch-geistigen Verletzungen reichen, die sexualisierte Gewalt gerade in Nähe- und Vertrauensverhältnissen anrichtet – in jedem einzelnen »Fall«. Weiterführender erscheint mir, sich mit der grundsätzlichen Möglichkeit und den besonderen Faktoren sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche auseinanderzusetzen.

Zum Schluss noch diese Frage: Kann Aufarbeitung eigentlich gelingen? Zurzeit steht meine Kirche stark in der Kritik. Diese Kritik von außen (und innen!) haben wir nötig, um aktiv zu werden und zu bleiben. Wir sind darauf angewiesen, dass betroffene Personen ihre Stimme erheben, dass externe Expertinnen, Experten und Medien über Straftaten und Fehler berichten. Zugleich jedoch nehme ich wahr, dass meine Kolleginnen und Kollegen, die mit der Aufarbeitung befasst sind, sich ehrlich Mühe geben – was nicht ausschließt, dass sie Dinge falsch machen. Kann also auch eine nicht-perfekte Aufarbeitung zu sinnvollen Ergebnissen führen? Diese Frage können wir nicht selbst beantworten. Das müssten die Betroffenen, die Kirchenmitglieder, insgesamt die Gesellschaft tun. Aber ich glaube, dass wir neben der präzisen Kritik auch so etwas wie eine Hoffnungsperspektive brauchen. Sollte nämlich die an sich legitime Skandalisierung die einzige Erörterungsform bleiben, könnte es geschehen, dass das Medienpublikum, die Bürgerinnen und Bürger, unsere Mitglieder abstumpfen und eben nicht dazu angeregt werden, sich mit sexualisierter Gewalt im eigenen Nahbereich zu befassen.

Zudem würden andere Institutionen, die nicht im Fokus stehen, davor zurückscheuen, die Aufarbeitung eigener Probleme anzugehen. Zu groß erschiene der mögliche Imageverlust und die Gefahr des berufsbiografischen Endes für das Leitungspersonal. Dabei wäre gerade dies gesellschaftlich so wichtig, dass alle – Kirchen, Sportvereine, Kultureinrichtungen, Schulen usw. – sich zum einen an die je eigene Aufarbeitung machen und sich zum anderen miteinander austauschen. Nur so kann in Deutschland eine Atmosphäre entstehen, in der man offen und angstfrei über sexualisierten Machtmissbrauch, aber auch über Wege in eine bessere Zukunft sprechen kann. Deshalb bin ich Politik & Kultur für den Schwerpunkt dieser Ausgabe so dankbar.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 3/2024.