Viele künstlerische Arbeitsprozesse sind verbunden mit körperlicher Nähe und der Darstellung von Emotionen – auch in der Ausbildung an Musik- und Kunsthochschulen. Entsprechend aktiv setzen sich die Hochschulen mit der Prävention von und Reaktion auf sexualisierte Gewalt auseinander.

Die staatlichen Kunst- und Musikhochschulen haben entsprechende Richtlinien erarbeitet und verabschiedet. In drei Interviews geben der Vorsitzende der Rektorenkonferenz der deutschen Musikhochschulen, Christian Fischer, der erste Sprecher der Ausbildungskonferenz Tanz, David Russo, und der Sprecher der Rektorenkonferenz der deutschen Kunsthochschulen, Arne Zerbst, Auskunft über die Debatten in den jeweiligen Rektorenkonferenzen und Fachzusammenschlüssen sowie die Umsetzung an den Hochschulen.

 

Barbara Haack: Vor einigen Jahren hat ein Fall sexualisierter Gewalt an der Musikhochschule München hohe Wellen geschlagen. War das auch für die Kunsthochschulen eine Art Weckruf?

Arne Zerbst: Wir hatten das Thema sexualisierte Gewalt und Diskriminierung vorher schon im Fokus. An solchen auch in der überregionalen Presse wahrgenommenen Ereignissen schärft sich noch einmal das Bewusstsein. Insofern war es ein Weckruf und hat gezeigt, dass das, was alle Kunst- und Musikhochschulen schon machen, noch verbessert werden kann: Es braucht eine permanente Aufmerksamkeit, stetige Anpassung.

 

Wie diskutieren Sie das in der Konferenz der Kunsthochschulen?

Die Konferenz ist ein Zusammenschluss der Präsidentinnen und Präsidenten, der Rektorinnen und Rektoren. Wir verstehen sie als eine Plattform für genau solche Diskussionen und haben das Thema immer wieder auf der Tagesordnung. Zu den Besonderheiten der Kunsthochschulen gehören ihre engen Betreuungsverhältnisse, die ganz wesentlich zur hohen Qualität der intensiven individualisierten Lehre beitragen. Gleichzeitig stellt diese spezielle Nähe aber auch ein Risiko dar und erfordert besondere Aufmerksamkeit der Hochschulleitungen. Die Kunsthochschulen in Deutschland haben Anlaufstellen und Beratungsangebote geschaffen, in deren Rahmen Diskriminierung niedrigschwellig benannt werden kann. Außerdem wurden an allen Institutionen Antidiskriminierungsrichtlinien erarbeitet, gerade auch zum Thema sexualisierte Gewalt. Es gibt überdies an vielen unserer Hochschulen Kodizes zur Förderung einer Kultur der gegenseitigen Wertschätzung. Schließlich arbeiten an allen künstlerischen Hochschulen Gleichstellungsbeauftragte – in einigen Bundesländern auch Diversitätsbeauftragte –, die eine zentrale Funktion und hohe Bedeutung in Bezug auf diesen Themenkomplex einnehmen.

 

Oft haben Studierende oder Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Angst, sich innerhalb des Systems Hochschule zu artikulieren, weil sie mit negativen Folgen rechnen. Gibt es die Möglichkeit, sich außerhalb der Hochschule an eine Stelle zu wenden?

Ja, dafür gibt es externe Beratungsstellen, zum Beispiel die Antidiskriminierungsstelle des Bundes und auch andere Möglichkeiten, sich intern anonym zu melden. Wir bemühen uns, eine vertrauliche Kommunikation auf niedrigschwelligem Weg zu ermöglichen. Außerdem ist es uns allen ein wichtiges Anliegen, dass Studierende ebenso wie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter informiert sind, an wen sie sich wenden können. Die einzelnen Mitgliedshochschulen bieten Aktionstage, Vorträge, Workshops oder Fortbildungen zu dem Thema an. Aktuell haben wir beispielsweise an der Muthesius Kunsthochschule in Kiel die Angebote der psychosozialen Beratung erweitert, die nun deutlich darüber hinausgehen, was üblicherweise angeboten werden kann. Wir konnten dafür eine Institution finden, die Wartezeiten enorm verkürzt: eine Art »Flatrate« für Beratung. An diese Personen kann man sich ganz direkt und anonym jenseits des Hochschulkontextes wenden, natürlich vertraulich und auch im Fall von sexualisierter Gewalt.

 

Wie geht man mit Fällen um, in denen falsche Beschuldigungen ausgesprochen werden?

Ja, leider gibt es auch solche Fälle. Den eigentlichen Opfern schadet das wahnsinnig, und alle Beteiligten sind aufgefordert, zunächst neutral zu bleiben und insgesamt sehr sensibel damit umzugehen.

Das ist vermutlich schwierig, weil man sich damit dem Vorwurf aussetzt, dass man den Opfern nicht glaubt.

Das ist eine ganz heikle Aufgabe der beratenden Personen. Es muss natürlich in solchen Fällen gelten, dass die Anschuldigung nachvollziehbar ist und eventuell vorhandene Beweise benötigt werden. Irgendwann sind ja auch Namen, Zeit und Tatbeschreibung notwendig. Oft lässt sich das in Gesprächen klären, in denen die beschuldigende Person noch einmal angehört wird, ebenso die beschuldigte Person. Für uns Kunsthochschulen ist aber zentral, die Opfer zu empowern, allen klarzumachen: So etwas darf an einer Hochschule nicht passieren!

 

Sie haben davon gesprochen, dass es an den Kunsthochschulen ein sehr persönliches, auch individuelles Lehrer-Schüler-Verhältnis geben kann – mit einer durch die Beschäftigung mit Kunst besonderen Nähe zueinander. Wie schafft man es, dass es trotzdem möglich bleibt, eine emotionale Nähe herzustellen?

Das ist ein Balanceakt: Wie können wir diese besondere Qualität der Kunsthochschulen und einer engen, intensiven und damit auch sehr persönlichen Betreuung nicht gefährden? Kunst ist nun einmal etwas sehr Persönliches. Um es plakativ zu sagen: Bei uns wird manchmal die ganze Psyche auf die Leinwand gebracht. Natürlich ist das eine Art von Offenbarung, mit der die Lehrperson sehr sensibel umgehen muss. Wir sind alle gehalten, darauf zu achten, dass diese emotionale Nähe weiter möglich ist, ohne Situationen entstehen zu lassen, die Abhängigkeiten begünstigen und ausgenutzt werden können.

 

Ist Diskriminierung oder sexualisierte Gewalt ein systemisches Problem der Kunsthochschulen oder ein individuelles?

An Kunsthochschulen ist das Systemische ein besonderes Problem aufgrund dieser engen und persönlichen Betreuungsverhältnisse. Gleichwohl macht das System an sich nichts Böses. Es braucht das böse Individuum, das das System ausnutzt, um zu diskriminieren oder sexuell übergriffig zu werden. Hochschulen sind sicher ein privilegierter Ort. Für die Kunst- und Musikhochschulen gilt das noch einmal besonders. Umso mehr haben wir die Pflicht und Verantwortung, Diskriminierung klar zu verurteilen und darauf zu achten, dass sie gar nicht erst stattfinden kann.

Vielen Dank.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 3/2024.