Viele künstlerische Arbeitsprozesse sind verbunden mit körperlicher Nähe und der Darstellung von Emotionen – auch in der Ausbildung an Musik- und Kunsthochschulen. Entsprechend aktiv setzen sich die Hochschulen mit der Prävention von und Reaktion auf sexualisierte Gewalt auseinander.

Die staatlichen Kunst- und Musikhochschulen haben entsprechende Richtlinien erarbeitet und verabschiedet. In drei Interviews geben der Vorsitzende der Rektorenkonferenz der deutschen Musikhochschulen, Christian Fischer, der erste Sprecher der Ausbildungskonferenz Tanz, David Russo, und der Sprecher der Rektorenkonferenz der deutschen Kunsthochschulen, Arne Zerbst, Auskunft über die Debatten in den jeweiligen Rektorenkonferenzen und Fachzusammenschlüssen sowie die Umsetzung an den Hochschulen.

 

Barbara Haack: Das Thema sexuelle Belästigung und sexuelle Gewalt spielt an künstlerischen Ausbildungsstätten eine besondere Rolle. Wird das an den einzelnen Ausbildungsstätten für Tanz oder auch in der Ausbildungskonferenz Tanz thematisiert?

David Russo: Zunächst gibt jede Ausbildungsinstitution ihre eigene Antwort darauf; alle gehen unterschiedlich damit um. Bei den Treffen der Ausbildungskonferenz Tanz, insbesondere bei den Biennalen, bei denen wir uns alle zwei Jahre treffen, thematisieren wir das regelmäßig. Der Austausch findet dort auch zwischen Studierenden aus Hochschulen mit ganz unterschiedlichen Schwerpunkten statt und ist daher sehr divers und vielfältig. Das hat immer eine Horizonterweiterung zur Folge, auch ein stärkeres Selbstbewusstsein, ein Empowerment der Studierenden untereinander.

 

Zunächst ist beim Thema sexuelle Belästigung oder Gewalt die Prävention wichtig. Was tut sich da in den Tanzhochschulen?

Jede einzelne Schule hat sich mit dem Thema auseinandergesetzt, verstärkt in den letzten 15 Jahren. In München haben wir in den pädagogischen Konzepten für die Tanzausbildung unterschiedliche Schritte und Richtlinien beschrieben, wie man sich präventiv schützen kann; es sind auch Möglichkeiten der Evaluierung und des anonymisierten Feedbacks zum Unterricht vorgesehen. Und es geht um die Frage, wie wir mit dem Thema Körperkontakt umgehen. Das ist in allen Hochschulen ein wichtiges Thema. In den USA beobachten wir eine Entwicklung: Dort wird das auf der Hochschulebene komplett untersagt, sodass gar kein Körperkontakt zwischen Lehrenden und Studierenden im Unterricht mehr stattfinden kann.

 

Eine Tanzausbildung ohne Körperkontakt? Wie kann das klappen?

Tatsächlich gehen wir mit diesem Thema nicht so um, wie es in den USA der Fall ist, Gott sei Dank! Ich persönlich erinnere unsere Studierenden regelmäßig daran, dass es jederzeit möglich ist zu sagen: »Ich möchte lieber nicht berührt werden.« Dabei müssen wir berücksichtigen, dass die Studierenden aus unterschiedlichen Kulturen kommen, in denen sich die Tanzkultur von unserer unterscheidet und in denen auch an diese »touch policy« unterschiedlich herangegangen wird. Wir müssen in unseren Aufklärungsgesprächen darüber reden, dass es immer die Möglichkeit gibt, »Nein« zu sagen – und darüber, wie wir mit Distanz und Nähe umgehen.

 

Gibt es dazu schriftliche Leitlinien oder Kodizes?

Es gibt zum Beispiel eine Broschüre der Hochschule für Musik, Theater und Tanz in Frankfurt mit dem Titel: »Begegnung – Nähe – Grenze. Ein Handbuch für den Hochschulalltag«. Da wird Aufklärung über alle möglichen Situationen angeboten und Antworten auf die Fragen gegeben: Wie kann ich damit umgehen? Wo kann ich Beratung bekommen? Wo kann ich meine Beschwerde loswerden? Was sind Grenzverletzungen?

 

Trauen sich die Studierenden, »Nein« zu sagen, wenn sie eine Berührung nicht wünschen?

Ich sehe da eine parallele Entwicklung zu anderen sozialen Umgebungen. Es muss sich erst eine Kultur entwickeln, in der Studierende dieses Vertrauen zu ihrer Institution haben. Deswegen ist die Einrichtung von Beratungsstellen, Vertrauenspersonen und Netzwerken an den Hochschulen wichtig. An unserer Hochschule werden diese Vertrauenspersonen auch weitergebildet im Bereich aufmerksame und sensible Gesprächsführung sowie Unterstützung von Studierenden in einer schwierigen Situation.

 

Dazu gehört auch, dass man die Lehrenden darauf einstellt. Wie kann es gelingen, diese, wo nötig, zum Umlernen zu bringen?

Auf der einen Seite müssen wir den Studierenden klarmachen, dass wir ihre Rückmeldung brauchen. Das ist in der Tanzwelt, besonders in der klassischen Ballettwelt, nicht einfach zu vermitteln, weil der Bezug zu den Lehrenden traditionell durch einen großen Respekt gekennzeichnet ist. Deshalb ist es wichtig, den Studierenden deutlich zu machen, dass sie selbst eine Mitverantwortung tragen. Auf der anderen Seite gilt es, für Lehrende Leitlinien und Konzepte zu entwickeln, die die Arbeit mit den Studierenden definieren. Es wird in solchen Paradigmenverschiebungen immer eine Phase geben, in der wir ein gutes Gleichgewicht finden müssen zwischen Weiterentwicklung einerseits und Empathie für die Menschen, die in diesem Bereich Fehler machen, andererseits. Es ist manchmal schwer für diese Personen in einer Welt, die sich gerade neu definiert: Was darf ich, was darf ich nicht als Lehrende. Das bedarf längerer Bewusstseinsprozesse. Natürlich geht es darum, dass Grenzen gesetzt werden und dass schlimme Belästigungen jeder Form nicht stattfinden. Aber alle in einen Topf zu werfen, halte ich für gefährlich.

Wie ist es bei dieser Beziehung zwischen Lehrenden und Studierenden, die ja eine gewisse Abhängigkeit mit sich bringt, mit der Angst von Betroffenen, einen Nachteil zu erleiden, wenn sie etwas anzeigen oder sich beschweren?

Wir haben heute eine Generation von Studierenden, die ihre Rechte kennen und wahrnehmen. Ich denke, dass es auch hier eine Parallele zur gesellschaftlichen Entwicklung gibt. Das Thema beherrscht die Tanzwelt derzeit sehr; es gibt Skandale rechts und links. Die nötigen Informationen sind aber auf verschiedenen Kanälen zugänglich. Außerdem gibt es für Studierende Beschwerdestellen, an die sie sich wenden können. Allein die Tatsache, dass in den letzten Jahren viel mehr darüber diskutiert wird, verändert etwas.

Ich sage meinen Studierenden immer: Als ich in der Schule war, haben die Institutionen nicht über solche Themen gesprochen. Und wir hatten keine Ansprechpartnerinnen dafür. Eure Generation redet wenigstens schon darüber und redet vor allem mit.

Vielen Dank.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 3/2024.