Wer in Deutschland Literatur übersetzt, kann auf eine lange Tradition zurückgreifen und auf eine Sprache, die, nicht zuletzt durch ebendiese Tradition, ungeheuer reich ist, an Begriffen, Formen und generell an schöpferischem Potenzial und Ausdruckskraft. Bekanntlich hat Luther durch seine epochale Bibelübersetzung die Möglichkeiten der Volkssprache ausgeschöpft und sie zugleich erweitert – und das tut bis heute jede literarische Übersetzung, die diesen Namen verdient. Begünstigt wird unsere Praxis aber auch durch eine beständig wachsende Weltoffenheit und Weltläufigkeit seitens der Leserschaft, denn so muss eine Übersetzung heute im Gegensatz zu manch früheren Zeiten nicht mehr radikal »einbürgern«, sie kann Fremdes gelegentlich fremd belassen und ihre Urheberin je nach Werk darauf vertrauen, dass der Kontext anschaulich genug ist, oder ein Geleitwort verfassen oder ein Glossar erstellen. Tatsächlich ist die Art und Weise, in der zu einer gegebenen Zeit übersetzt werden darf (unendlich vielfältig in liberalen Systemen) oder muss (ohne jeden Spielraum dort, wo Zensur herrscht), immer auch ein Spiegel der Gesellschaft, genau wie das, was übersetzt und wie es rezipiert wird. So gesehen, leben wir hier, noch jedenfalls, in einem literarischen Schlaraffenland, denn es wird nicht nur viel entdeckt und vermittelt, zunehmend aus uns, die wir immer noch stark westlich-abendländisch geprägt sind, ferneren Kulturen wie die Asiens oder Afrikas, deren Gegenwartsliteratur sich sehr produktiv mit den Auswirkungen von Globalisierung und Kolonialismus auseinandersetzt, sondern auch rege diskutiert, beispielsweise über Themen wie Klassismus oder kulturelle Aneignung, und das fließt wiederum in Werke der aktuellen deutschsprachigen Literatur ein. So war es schon immer: Ohne inhaltliche und formale Inspiration durch Werke der Weltliteratur hätte es in den Nationalliteraturen keine Entwicklung und Neuerung gegeben – kein französisches Sonett ohne Petrarca, kein russischer Roman ohne Balzac, und hätten Stimmen wie die von Annie Ernaux oder Didier Eribon in Deutschland nicht so nachhaltige Debatten ausgelöst, wären wir vielleicht um ein paar deutschsprachige Entdeckungen ärmer. Die literarische Übersetzung spielt für unsere Kultur also nach wie vor eine viel größere Rolle, als manch einer vermuten mag. Und sie ist ein Feld, auf dem weiterhin geistig-kreative Bravourstücke vollbracht werden, gerade im deutschsprachigen Raum, wo selbst das, was in vielen anderen Ländern über Jahre, Jahrzehnte oder Jahrhunderte als unübersetzbar galt oder noch gilt, durch kühne Sprachkünstler und akribische Wortartistinnen übertragen wird, in jüngster Zeit etwa Joshua Cohens Monumentalroman »Witz«, den Ulrich Blumenbach in jahrelanger Knobelarbeit virtuos aus dem Englischen übertragen hat, oder Andrej Platonows durch und durch experimentelles und politisches Werk »Die Baugrube«, für das seine Übersetzerin Gabriele Leupold im Deutschen eine eigene Kunstsprache der völligen Entfremdung geschaffen hat.  

Auf diese Weise werden nicht nurräumliche, sondern auch zeitliche Distanzen überwunden, das zeigen die vielen Neuübersetzungen bekannter Klassiker etwa von Cervantes, Flaubert oder Tolstoi, aber auch etliche Erstübersetzungen, die zu einer Feminisierung und Diversifizierung unseres Kanons beitragen. So schärfen aktuelle Diskurse den Blick für das, was in der Vergangenheit übersehen wurde, und tragen zu einer noch intensiveren Vermittlungstätigkeit bei, die ohne Übersetzungen nicht zu leisten wäre. Diese Diskurse werfen zudem Fragen auf, die uns dazu animieren, die Strukturen der Branche zu hinterfragen, beispielsweise die Frage, ob sie die zunehmende Diversität in unserer Gesellschaft abbildet oder tatsächlich noch viel zu homogen ist. Erfreulicherweise hat die Debatte um die Übersetzung von Werken der jungen afroamerikanischen Lyrikerin Amanda Gorman einiges in Gang gesetzt, sowohl eine wachsende Sensibilisierung für diskriminierende Sprache als auch eine immer sichtbarer werdende Vielfalt im Literaturbetrieb.  

Da die Übersetzung einen zutiefst menschlichen Austausch darstellt, befremdet die Vorstellung, dass diese Tätigkeit, die doch so vieles voraussetzt – Wissen, Kreativität, Feingefühl, Musikalität, Welt- und Lebenserfahrung, Empathie, pedantische Genauigkeit genau wie anarchische Spielfreude, die Fähigkeit, alles Erdenkliche unbefangen auszuprobieren und zugleich das eigene Tun zu reflektieren –, in absehbarer Zeit angeblich von der so trügerisch bezeichneten Künstlichen Intelligenz übernommen werden könnte. Wer dieser Tage etwa DeepL, den laut Eigenwerbung »präzisesten Übersetzer der Welt«, testet, dürfte umgehend feststellen, dass von Übersetzung keine Rede sein kann, denn es geht mitnichten darum, das nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit und den Berechnungen des Algorithmus Erwartbare einzusetzen, sondern im Gegenteil: Literarische Übersetzer und Übersetzerinnen bahnen immer neue Ausdruckswege für das, was in unserer Sprache und Literatur noch nicht vorhanden ist und unbedingt Eingang finden soll. 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 2/2024.