Zur Sprache und Sprachkultur gehört auch die logopädische Arbeit: Die Leiterin der Frühförderstelle der Johanniter-Unfall-Hilfe im Regionalverband Westthüringen, Anja Katschner, gibt im Gespräch mit Theresa Brüheim Einblick in ihre Arbeit und blickt auf die Zukunft des Berufsfeldes. 

 

Theresa Brüheim: Frau Katschner, Sie sind Logopädin. Wie sieht ein typischer Arbeitstag bei Ihnen aus?  

Anja Katschner: Wir therapieren Kinder bis Schuleintritt und arbeiten dabei interdisziplinär mit anderen Professionen wie Ergotherapie, Motopädie, Physiotherapie und Heilpädagogik zusammen. Das rein therapeutisch logopädische Arbeiten, wie es noch vor 15 Jahren überwiegend stattfand, ist nicht mehr mein Alltag. Wir versuchen über das eigene therapeutische Arbeitsfeld hinauszublicken, denn es gibt Überschneidungen zwischen den Professionen. Es geht vielmehr darum, die Patientin oder den Patienten ganzheitlich zu sehen, um Therapieziele schneller zu erreichen. Seit mehr als zwei Jahren ist zur Frühförderstelle auch eine Praxis für Logopädie und Ergotherapie hinzugekommen, sodass wir über des Schuleintrittsalter hinaus betreuen. 

 

Ist das interdisziplinäre Arbeiten eine Entwicklung, die Sie allgemein sehen? Oder ist das spezifisch für die Arbeit in einer Frühförderstelle? 

Beides. In der Frühförderstelle betreuen wir gemeinsam professionenübergreifend Patientinnen und Patienten. Da ist es nicht weit her, sich über die Bedarfe auszutauschen, um gemeinsam an Zielen zu arbeiten und zu verstehen, was in die eigene Arbeit adaptiert werden kann. Zugleich lässt sich diese Entwicklung der interdisziplinären Zusammenarbeit allgemein verstärkt beobachten. 

 

Lassen Sie uns noch mal zum typischen Arbeitstag zurückkommen.  

Mein Arbeitsort befindet sich in Gotha, aber meine Kolleginnen und ich sind viel mobil im Landkreis unterwegs. Das bedeutet, dass ein typischer Arbeitstag früh beginnt. Ich bin täglich um 7 Uhr vor Ort in der Frühförderstelle, packe meine Sachen und fahre dann mit einem Dienstfahrzeug in einen der Kindergärten, die ich betreue. Dort nehme ich mir in der Einzelförderung Kinder aus dem Kindergartenalltag heraus und betreue sie logopädisch. Das heißt, ich mache mit ihnen logopädische Therapien und spreche mich mit dem pädagogischen Personal ab, um zu wissen, was sie bei den Kindern beobachten und was ggf. weiter in die Förderung eingebaut werden könnte. Danach betreue ich entweder noch Kinder in der Grundschule – dafür fahre ich auch in die Grundschule und therapiere vor Ort –, oder ich bin im Anschluss in unserer Frühförderstelle und habe dort Patientinnen und Patienten.  

 

Was ist konkret unter logopädischer Betreuung zu verstehen?  

Da sind therapeutische Maßnahmen im Rahmen der Logopädie, die bei jeder Patientin und jedem Patienten unterschiedlich sind – je nachdem, was die Diagnostik ergeben hat und welche Ziele und Förderschwerpunkte gesetzt werden. Ein Beispiel: Ein Kind hat orofazial, also im Bereich der Mundmotorik, ein muskuläres Ungleichgewicht. Deshalb kann es Zischlaute wie »s«, »ch«, »sch« und »z« schlecht aussprechen – aufgrund der Tatsache, dass die Zunge zwischen den Zähnen durchkommt. In dem Fall trainieren wir sowohl die Mundmotorik also auch die Muskulatur und ihre Koordination, die an der Artikulation der Laute beteiligt ist. Wichtig ist es, die Laute dann rezeptiv und expressiv zu üben: Wie hören sich die Laute korrekt an? Wie unterscheiden sie sich? Sodass die Kinder zukünftig nicht nur die bekannten Wörter, die diese Laute enthalten, produzieren können, sondern eben auch, wenn sie neue Wörter mit diesen Lauten hören oder lesen, genau identifizieren können, um welchen spezifischen Laut und um welchen Buchstaben es sich handelt. Denn wir können natürlich nicht alle Wörter, die diese Laute enthalten, trainieren. Unsere Therapie funktioniert also nicht wie das Einmaleins, das die Kinder auswendig lernen – so funktioniert Sprache generell nicht. Sie müssen verstehen, um welchen Laut es sich handelt, wie er gebildet wird, wie er klingt und wie er sich unterscheidet. 

Des Weiteren betreue ich viele Kinder, die Deutsch als Zweitsprache erlernen und dann z. B. eher Schwierigkeiten mit dem Wortschatz, im Sprachverständnis oder in der Grammatik haben. Ich betreue auch Kinder in der Grundschule, die eine Lese-Rechtschreib-Schwäche oder eine Dyskalkulie, also eine Rechenschwäche haben. Wir haben auch ältere Patienten im Hausbesuch oder in der Tagespflegeeinrichtung, die nach einem Schlaganfall oder einem Hirninfarkt logopädische Betreuung brauchen, weil sie eine Aphasie, Wortfindungsstörungen oder Schreibschwierigkeiten entwickelt haben. Die logopädische Betreuung und Therapie sind von Fall zu Fall unterschiedlich.  

 

Gibt es bestimmte Sprach-, Sprech- oder Stimmstörungen, die besonders häufig auftreten und therapiert werden? Was beobachten Sie in Ihrem Berufsalltag?  

Ich kann mich nur für den Bereich der Kinder und Kindersprache äußern. Hier sehen wir vor allem, dass die sogenannten Störungsbilder komplexer werden. Vor über zehn Jahren kamen vermehrt von Sigmatismus betroffene Kinder, sprich sie haben gelispelt. Oder sie hatten eine KT-Lautvertauschung, also sie haben z. B. das »T« zum »K« gemacht hat. Heute kommen vielmehr Kinder, die schon in ganz jungen Jahren, ab zwei, therapiert werden, weil sie einen zu geringen Wortschatz und kaum Sprachverständnis haben. Für jedes Alter gibt es bestimmte Grenzsteine, die man erreichen sollte. Wenn Kinder diese nicht erreicht haben, verzögern sich häufig andere Entwicklungsprozesse. Ist das Sprachverständnis bzw. der Wortschatz nicht entsprechend ausgebildet, entstehen Herausforderungen beim Ausdruck und bei grammatischen sowie artikulatorischen Prozessen. Wenn Kinder mit sprachlichen Herausforderungen zu uns kommen, arbeiten wir daran, den Wortschatz und das Sprachverständnis aufbauen. Im nächsten Schritt betrachten wir die Grammatik und Phonologie. Gerade im Nachgang der Coronapandemie lassen sich diese Störungsbilder gehäuft beobachten. Insgesamt verzeichnen wir ein höheres Maß an Anmeldungen sowohl in der Frühförderung als auch in den anderen Professionen. Vieles bedingt sich natürlich gegenseitig: Kann ein Kind sich z. B. aufgrund von mangelndem Sprachverständnis nur schwer ausdrücken, kann es nicht immer deutlich machen, was es will oder wie es ihm geht. Das kann zu einem Rückzug oder sozial unangepasstem Verhalten führen. Wenn man schlecht kommunizieren kann, kann man häufig soziale Interaktionen schlechter interpretieren. Denn Sprachverständnis und Wortschatz haben viel mit Kognition zu tun.  

 

Welche aktuellen Herausforderungen bestehen in der Logopädie?  

Es wird immer schwieriger, dem Patientenstrom gerecht zu werden. Wir verzeichnen regelmäßig Anmeldungen in den verschiedenen Disziplinen, besonders in der Logopädie. Leider können wir nicht alle Patientinnen und Patienten annehmen. Wir sind gezwungen, abzuwägen, welche Behandlungen dringlicher sind. Meldet sich z. B. eine ältere Person an, die eine Schluckstörungen hat, deswegen nicht essen kann oder vielleicht sogar Gefahr läuft, dadurch eine Lungenentzündung zu bekommen, dann wird diese von uns so schnell wie möglich versorgt. Es wird getauscht und geschoben, um die Person zu therapieren. Wir könnten alle von 7 bis 20 Uhr arbeiten. Das ist eine große Herausforderung. Hinzu kommt, dass es sehr schwierig geworden ist, Personal zu finden. Nun nehmen Sie beides vor dem Hintergrund der komplexer werdenden Störungsbilder – es sind sehr große Herausforderungen, die sich stellen. 

 

Das führt uns zum nächsten Thema: der Fachkräftemangel in der Logopädie. 

Da ich die Leitung der Frühförderstelle innehabe, laufen die Bewerbungen über meinen Tisch. Die letzten Einstellungen haben wir 2021 getätigt – weil wir einfach kein passendes Personal finden. Mein Gefühl ist, die meisten wandern in andere Berufe ab, studieren noch mal Medizin oder Pädagogik. Wir halten auch Vorträge an Logopädieschulen, da hat sich gezeigt, dass sich weniger junge Menschen für diesen Beruf anmelden. In den Ausbildungen gibt es viele Abbrüche. Während meiner Ausbildung, die nun über 13 Jahre zurückliegt, waren in den Klassen zwischen 25 und 28 Auszubildende. Heute ist es ein guter Jahrgang mit 18 bis 20 Personen, von denen viele nicht bis zum Ende durchhalten. Die Ausbildung zur Logopädin bzw. zum Logopäden ist, Stand jetzt, eine rein schulische. Vielleicht ist das nicht mehr so attraktiv.  

 

Was kennzeichnet die logopädische Ausbildung? 

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Logopädin bzw. Logopäde zu werden. Je nach Logopädieschule hat man die Möglichkeit, eine schulische Ausbildung von drei Jahren zu machen, in der man sowohl fachliches Wissen über Anatomie und Physiologie der verschiedenen Prozesse kennenlernt und Praktika im Bereich der Logopädie absolviert. Es gibt aber auch Schulen, die diese schulische Ausbildung mit Anschluss an ein Logopädiestudium anbieten. Denn drei Jahre sind ziemlich knapp für all das Wissen, das es sich im Bereich der Logopädie anzueignen gilt: Anatomie, Physiologie, Entwicklungsbilder bei Kindern und Erwachsenen, Krankheiten und ihre Therapiemethoden für alle Altersgruppen etc. Es gilt mehrere Pflichtpraktika in diesen drei Jahren zu absolvieren. Das ist eine vollgepackte Ausbildung, in der dennoch nicht alles Platz finden kann. Wir sind z. B. auch eine Praxis für unterstützte Kommunikation, das findet in der Ausbildung in der Regel gar keinen Platz. Hinzu kommt, dass viele Logopädieschulen ein Schulgeld verlangen.  

 

Wie blicken Sie auf die Zukunft des Berufsfeldes? 

Mit gemischten Gefühlen. Auf der einen Seite freue ich mich, dass in den Studiengängen und Ausbildungsstätten das interprofessionelle Arbeiten mehr angegangen wird. Auch der Lehrkräftenachwuchs nimmt zu, und die wissenschaftliche Evidenz für das interprofessionelle Arbeiten ist durch einschlägige Forschung immer mehr gegeben. Auf der anderen Seite bin ich skeptisch, da es Probleme gibt, Nachwuchs an den Berufszweig heranzuführen. Dadurch sehe ich Schwierigkeiten, die zunehmende Anzahl an Patientinnen und Patienten weiter zu versorgen. Es liegt sicher nicht nur daran, dass junge Menschen sich nicht vorstellen können, was einen Beruf in der Logopädie ausmacht, sondern ggf. sind andere Berufe und Studiengänge einfach attraktiver. Ich frage mich, ob heute der Wunsch besteht, weniger Verantwortung im Beruf zu übernehmen oder vermeintlich mehr Work-Life-Balance zu haben. Ich möchte das nicht beurteilen, jede und jeder hat unterschiedliche Prioritäten im Leben. Aber natürlich macht mir die Versorgungslage bei mangelndem Nachwuchs mit entsprechender Qualifikation Sorge. Logopädin bzw. Logopäde ist ein Beruf, der mit Menschen zu tun hat. Ich muss mich auf Menschen einlassen und mit ihnen arbeiten können. Dazu gehört eine Form des Beziehungsaufbaus mit den Patientinnen und Patienten sowie ihren Angehörigen, aber auch mit Ämtern, Ärztinnen und Ärzten, pädagogischem Personal etc. Man ist immer im sozialen Austausch. Das muss man mögen und können. 

Denn Logopädin/Logopäde ist ein wertiger, vielseitiger und ganz wichtiger Beruf – mit vielen Chancen für junge Menschen. Nicht jeder Patient oder jedes Störungsbild ist gleich. Entsprechend wird die Arbeit nie langweilig. Man kann sich individuell weiterbilden. Und auch wichtig zu erwähnen: Der Beruf ist heute nicht mehr schlecht bezahlt, es lässt sich ein gutes Leben mit dem Gehalt führen. 

 

Wie könnte mehr Aufmerksamkeit für Ihr Berufsfeld geschaffen werden? 

Die Fachverbände im Bereich der Logopädie betreiben natürlich schon Lobbyarbeit. Aber das ist oftmals nicht genug und zu wenig präsent. Im täglichen Austausch habe ich häufig das Gefühl, dass viele Leute – nicht nur Privatpersonen, sondern zum Teil auch therapeutische Fachkräfte sowie Ärztinnen und Ärzte aus anderen medizinischen Bereichen – nicht genau wissen, was Logopädie beinhaltet. Da wünsche ich mir mehr Aufklärungsarbeit. Ich wünsche mir auch, dass die Krankenkassen offener für die logopädische Arbeit sind. Therapeutinnen und Therapeuten werden bzgl. der Abrechnung viele Steine in den Weg gelegt, was zum Teil auch ein Kündigungsgrund ist. Ähnlich wie in der Pflege scheitern Logopädinnen und Logopäden, die bereits gearbeitet haben, an systemischen Strukturen, weil Rezepte nicht bezahlt oder Leistungen erst im dritten, vierten Anlauf vergütet werden. Ich sehe es auch problematisch, dass es keinen therapeutischen Direktzugang gibt wie z. B. in Österreich.  

 

Vielen Dank. 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 2/2024.