Shelly Kupferberg schildert zu Beginn ihres eindrücklichen Buches »Isidor«, wie ihr Großvater Walter Graf 1956 nach Wien kommt, um auszuloten, ob eine Rückkehr aus Israel, wohin er Ende der 1930er Jahre noch rechtzeitig floh, in seine Heimatstadt Wien denkbar und möglich ist. Walter Graf klingelt unter anderem bei der Hausmeisterfamilie des Hauses, in dem einst sein Onkel Dr. Isidor Geller, hoch angesehener Kommerzienrat, reich und bestens vernetzt, Kunstmäzen, lebte. Beim Blick in die Wohnung erspäht Walter Graf wertvolle Möbel, die seinem Onkel gehörten. Die Hausmeisterfrau ruft ihrem Mann zu »Der Jud’ is wieda doa« und verweigert Graf den Zutritt.

In dieser kurzen Szene wird die Enteignung, der Raub, die Aneignung, der Entzug jüdischen Besitzes in der NS-Zeit auf den Punkt gebracht. Es lebt sich schön im wertvollen und kostbaren Mobiliar, das einst den Menschen gehört hatte, die verfolgt und vernichtet wurden. Anflüge von schlechtem Gewissen tauchen auf, wenn Überlebende oder deren Nachfahren vor der Tür stehen. Diese wird allerdings jäh zugeschlagen. Shelly Kupferbergs Familie, deren Großvater nach Israel zurückkehrte, hat vom großen Vermögen von Isidor Geller nur einen Kasten mit schwerem Silberbesteck übrig behalten.

Heute, 78 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, wo es nur noch wenige Überlebende gibt, ist die Geschichte der Enteignung immer noch nicht zu Ende. Immer noch kämpfen Nachfahren darum, materielles Erbe zurückzuerhalten oder eine gütliche Einigung mit den aktuellen Besitzern zu finden. Vor 25 Jahren, im Dezember 1998, wurden die »Grundsätze der Washingtoner Konferenz in Bezug auf Kunstwerke, die von Nationalsozialisten beschlagnahmt wurden (Washingtoner Principles)« verabschiedet. 44 Staaten, darunter die Bundesrepublik Deutschland, verständigten sich darauf:

1. Kunstwerke, die von den Nationalsozialisten beschlagnahmt und in der Folge nicht zurückerstattet wurden, sollten identifiziert werden.

2. Einschlägige Unterlagen und Archive sollten der Forschung gemäß den Richtlinien des International Council on Archives zugänglich gemacht werden.

3. Es sollten Mittel und Personal zur Verfügung gestellt werden, um die Identifizierung aller Kunstwerke, die von den Nationalsozialisten beschlagnahmt und in der Folge nicht zurückerstattet wurden, zu erleichtern.

4. Bei dem Nachweis, dass ein Kunstwerk durch die Nationalsozialisten beschlagnahmt und in der Folge nicht zurückerstattet wurde, sollte berücksichtigt werden, dass aufgrund der verstrichenen Zeit und der besonderen Umstände des Holocaust Lücken und Unklarheiten in der Frage der Herkunft unvermeidlich sind.

5. Es sollten alle Anstrengungen unternommen werden, Kunstwerke, die als durch die Nationalsozialisten beschlagnahmt und in der Folge nicht zurückerstattet identifiziert wurden, zu veröffentlichen, um so die Vorkriegseigentümer oder ihre Erben ausfindig zu machen.

6. Es sollten Anstrengungen zur Einrichtung eines zentralen Registers aller diesbezüglichen Informationen unternommen werden.

7. Die Vorkriegseigentümer und ihre Erben sollten ermutigt werden, ihre Ansprüche auf Kunstwerke, die durch die Nationalsozialisten beschlagnahmt und in der Folge nicht zurückgegeben wurden, anzumelden.

8. Wenn die Vorkriegseigentümer von Kunstwerken, die durch die Nationalsozialisten beschlagnahmt und in der Folge nicht zurückgegeben wurden, oder ihre Erben ausfindig gemacht werden können, sollten rasch die nötigen Schritte unternommen werden, um eine gerechte und faire Lösung zu finden, wobei diese je nach den Gegebenheiten und Umständen des spezifischen Falls unterschiedlich ausfallen kann.

9. Wenn bei Kunstwerken, die nachweislich von den Nationalsozialisten beschlagnahmt und in der Folge nicht zurückgegeben wurden, die Vorkriegseigentümer oder deren Erben nicht ausfindig gemacht werden können, sollten rasch die nötigen Schritte unternommen werden, um eine gerechte und faire Lösung zu finden.

10. Kommissionen oder andere Gremien, welche die Identifizierung der durch die Nationalsozialisten beschlagnahmten Kunstwerke vornehmen und zur Klärung strittiger Eigentumsfragen beitragen, sollten eine ausgeglichene Zusammensetzung haben.

11. Die Staaten werden dazu aufgerufen, innerstaatliche Verfahren zur Umsetzung dieser Richtlinien zu entwickeln. Dies betrifft insbesondere die Einrichtung alternativer Mechanismen zur Klärung strittiger Eigentumsfragen.

Bund, Länder und kommunale Spitzenverbände haben 1999 die »Erklärung der Bundesregierung, der Länder und der kommunalen Spitzenverbände zur Auffindung und zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes, insbesondere aus jüdischem Besitz (Gemeinsame Erklärung)« verabschiedet, in der sie sich auf die Washingtoner Prinzipien beziehen. Beide, die Washingtoner Prinzipien und die Gemeinsame Erklärungen, sind nach wie vor eine wesentliche Grundlage für die Suche nach NS-verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgut und vor allem deren Rückgabe, inzwischen in der Regel an die Nachfahren der ehemaligen Eigentümer. Trotz der gemeinsamen Erklärung 1999 dauerte es noch 16 Jahre, bis endlich 2015 das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste seine Arbeit aufnahm und mehr Mittel für die Provenienzforschung zur Verfügung gestellt wurden.

90 Jahre ist es in diesem Jahr her, dass mit dem sogenannten Ermächtigungsgesetz die Grundlage für die ab 1935 einsetzende systematische Entrechtung, Verfolgung, Enteignung und zum Schluss Vernichtung europäischer Juden begann. 90 Jahre, das ist mehr als »normales« Menschenalter. 90 Jahre, und noch immer sind viele Fälle NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes ungeklärt, noch immer verschleppen Kultureinrichtungen die Klärung und noch immer weigern sich einige, auch sehr renommierte wie die Bayerische Staatsgemäldesammlung im Fall des Gemäldes »Madame Soler« von Pablo Picasso, die Beratende Kommission anzurufen, um zu einer einvernehmlichen Lösung zu kommen. Dieser Fall steht exemplarisch dafür, dass es dringend einer Reform der Beratenden Kommission bedarf, damit auch die Opfer einseitig die Kommission anrufen können.

Die Restitution von NS-verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgut ist längst noch nicht abgeschlossen. Viele jüdische Opfer der Entrechtung im Nationalsozialismus haben immer noch nicht ihr Eigentum zurückerhalten. Das ist für unser Land zutiefst beschämend. Es gibt noch sehr viel zu tun.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2023-1/2024.