Die Gesellschaft in Deutschland ist zunehmend von Diversität geprägt. Neben vielen weiteren Faktoren spielen dabei die Migration und die kulturelle Praxis der Menschen eine wichtige Rolle. Wurde zu Beginn der 2000er Jahre noch darüber gestritten, ob Deutschland die Tatsache anerkennt, ein Einwanderungsland zu sein, so hat die Aufnahme von rund einer Million geflüchteter Menschen von 2015 bis 2016 zwar einerseits polarisiert, andererseits aber auch eine neue Form der »Willkommenskultur« etabliert. Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine zeigte sich Anfang dieses Jahres eine neue Offenheit gegenüber den Menschen, die hier Schutz suchen.
Viele Museen reagieren gegenwärtig schnell auf aktuelle Migrationssituationen. Als etablierte Kulturinstitutionen gewähren sie vergünstigte Eintritte, richten spezielle Vermittlungsangebote ein oder kooperieren mit Sprach- und Integrationskursen. Sie laden Künstlerinnen und Künstler mit Migrationserfahrung ein, entwickeln thematische Sonderausstellungen und sammeln Objekte, Erfahrungsberichte und Lebensgeschichten mit Migrationsbezug. Das ist eine wichtige Investition in die Zukunft, da die Sammlungen das materielle und immaterielle Fundament der Museumsarbeit bilden.
In der gesellschaftlichen Diskussion um Kolonialismus und Rassismus sichten und bewerten vor allem ethnologische Museen ihre Sammlungen neu, reflektieren die Herkunft und Geschichte der Objekte und treten mit den Herkunftsgesellschaften in Dialog über Rückgaben und einen neuen gemeinsamen Umgang mit dem kulturellen Erbe, das oft durch Unrecht und Machtausnutzung in die deutschen Museen gelangt ist.
Historische Museen nehmen zudem ausgewählte Jahrestage von migrationsgeschichtlich bedeutenden Ereignissen wie den 60. Jahrestag der Unterzeichnung des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens zum Anlass, auf die Geschichte und Gegenwart der Migration bestimmter Gruppen und ihre Effekte auf das Zusammenleben in Deutschland zu blicken. So widmeten beispielsweise das Ruhr Museum in Essen und das Focke-Museum in Bremen Ausstellungen und Veranstaltungen dem Leben türkischer Menschen in Deutschland, während das Technoseum in Mannheim in der Landesausstellung Baden-Württemberg »Arbeit & Migration. Geschichten von hier« die lange Geschichte der Arbeitsmigration und ihre gesellschaftliche Wirkung bis zur Gegenwart zeigte.
Das Thema Migration ist in den Museen angekommen. Davon zeugen nicht nur die Ausstellungen, Veranstaltungen und Sammlungen der Museen aller Sparten und Größen, sondern auch die Museen, die sich speziell der Migration widmen: von dem etablierten Deutschen Auswandererhaus Bremerhaven und der BallinStadt Hamburg über das Museum Friedland und das 2021 eröffnete Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung in Berlin bis zum Haus der Einwanderungsgesellschaft in Köln, das 2025 eröffnen soll und sich als zentrales Migrationsmuseum für Deutschland versteht.
Die Etablierung der Migrationsgeschichte ist ein erster wichtiger Schritt. Menschen mit Migrationserfahrung ist es ein Bedürfnis, als gleichberechtigter Teil der Gesellschaft angesehen und anerkannt zu werden. Museen als Orte der Kunst, als Institutionen der Erinnerungskultur und als Bewahrer des kulturellen Erbes haben hier eine besondere Bedeutung.
Die bloße Integration von Migrationsgeschichte wird den Ansprüchen einer diversen Gesellschaft jedoch nicht gerecht. Wer entscheidet, welche Geschichten erzählt werden, welche Dinge bedeutsam sind, welche Bedeutungen die Objekte tragen? Und mit welcher Kompetenz? In der Museumspraxis stoßen Kuratierende schnell an ihre Grenzen – mal fehlen Sprachkompetenzen, mal Kenntnisse kultureller Praktiken, mal Einsichten in soziale Milieus oder die Erfahrungen von Diskriminierungen oder Privilegierungen.
Migration eröffnet immer neue Perspektiven. Um diese Perspektiven erkennen und einnehmen zu können, bedarf es vielerlei Kompetenzen und Erfahrungen. Die bringt das etablierte Personal in den Museen oft nicht im ausreichenden Maße mit. Das haben die ersten Ergebnisse des Programms »360° – Fonds für Kulturen der neuen Stadtgesellschaft« der Kulturstiftung des Bundes gezeigt. Zwar sind viele Teams in Museen insgesamt divers besetzt – die Ebene des wissenschaftlichen Personals und der Entscheiderinnen und Entscheider spiegelt jedoch selten die gesellschaftliche Diversität wider. Das kann das Erkennen von Bedürfnissen aus der Gesellschaft, eine publikumsorientierte Gestaltung des Programms wie auch das Identifizieren und Erreichen spezifischer Zielgruppen erschweren.
Von entscheidender Bedeutung – und praktikabel für alle Museen, nicht nur für die historisch orientierten – ist die Entwicklung einer diversitätsorientierten Haltung: einer Offenheit für unterschiedliche Voraussetzungen, Erfahrungen und Perspektiven. Multiperspektivität ist der Schlüssel zum Verstehen in einer von Diversität geprägten Gesellschaft. Museen als Orte der Dinge, der Künste und der Geschichten haben ein riesiges und attraktives Potenzial, im gemeinsamen Austausch neue Perspektiven zu entwickeln, vermeintlich Altbekanntes neu zu entdecken und das kulturelle Erbe mit neuen Objekten, kulturellen Praktiken und Geschichten zu erweitern.
Gelingen kann das vor allem durch das Etablieren von neuen Formen des Miteinanders. Viele Museen haben in Projekten zu Migration und Diversität bereits verschiedene Formen der Partizipation erprobt: vom Sammeln von Beiträgen wie Objekten und Geschichten über das gleichberechtigte Zusammenarbeiten bei Recherche und Kuratieren bis hin zum Überlassen der Ressourcen und Ermächtigung zum Forschen und Ausstellen. Die angemessene Form der Partizipation muss von den Partnern entsprechend ihren jeweiligen Ansprüchen und Möglichkeiten ausgehandelt und gestaltet werden. Das ermöglicht den beteiligten Menschen die notwendige Teilhabe und Selbstbestimmung.
Eine wichtige Voraussetzung für das Gelingen von Partizipation ist das Einsetzen der Methoden des Outreach zur Anbahnung von neuen Partnerschaften und Mobilisierung von Akteuren. Dabei bezieht sich der Outreach-Prozess nicht nur auf das Erkennen und die Ansprache einer gewünschten Gruppe,z. B. mit Migrationserfahrung, sondern schließt die Reflexion der eigenen Institution, die Entwicklung von Diversitätsorientierung und -kompetenzen, ein aktives Zugehen auf die Menschen, Mut und Offenheit zu Neuem mit ein.
Museen werden aufgesucht, wenn sie relevant für die Menschen sind: wenn die Menschen zu den Gebäuden, Objekten und Geschichten Beziehungen aufbauen können.
Wenn es gelingt, durch das Praktizieren eines neuen Miteinanders Migrationsgeschichte vielschichtig zu zeigen und unter Einbeziehung unterschiedlicher Erfahrungen vielfältige Perspektiven auf die Gestaltungsformen der Kunst, den Umgang mit der Natur und die Bedeutung der Geschichte zu eröffnen, dann können sich die Museen als zukunftssichere Institutionen erweisen.