Am 10. August 1793 öffnet der Louvre in Paris seine Pforten und macht die Schätze der französischen Könige im Zeichen der Revolution der Öffentlichkeit zugänglich. 1679 wird an der Universität Oxford der Grundstein für das Ashmolean Museum gelegt, das Besuchern bald mit regelmäßigen Öffnungszeiten seine naturkundlichen Sammlungen zeigt. 1471 überträgt Papst Sixtus IV. dem römischen Volk eine Sammlung von Antiken und lässt sie vom päpstlichen Lateranpalast auf den Kapitol, den Sitz der Stadtverwaltung, überführen, wo sie fortan als öffentlicher Besitz präsentiert werden. Fürstliche und gelehrte Wunderkammern tragen zur gleichen Zeit in den Zentren des frühneuzeitlichen Europas Objekte unterschiedlichster Art zusammen und versammeln sie als »theatrum mundi« vor den Augen eingeweihter Betrachter. Mittelalterliche Reliquienschatzkammern bringen Menschen Dinge nahe, die sie mit außerordentlichem Wert und Zauber aufladen. Das Museion von Alexandria fungiert ab 280 v. Chr. Mit seiner Bibliothek und mit Zusammenkünften von Gelehrten als größte Forschungseinrichtung der antiken Welt. »Musaeum« heißtder mythische Ort, an dem die Musen wohnen, der Versammlungsplatz der Schutzgöttinnen der Künste.  

Es ist nicht leicht, den Beginn einer Geschichte des Museums zu bestimmen. Einen eindeutigen Ursprung gibt es nicht, jede Genealogie stellt das Museum in ein anderes Licht. So ist die Frage »Wann ist Museum?« aufs Engste verknüpft mit der Frage »Was heißt Museum?«. Meint es eine spezifische Form von Institution oder ein philosophisches Konzept? Eine Sammlung von Dingen oder ein Gefüge an Praktiken? Eine westliche Erfindung oder eine globale Assemblage? Die offizielle englischsprachige Definition des Internationalen Museumsrates hält fest: »A museum is a not-for-profit, permanent institution in the service of society that researches, collects, conserves, interprets and exhibits tangible and intangible heritage. Open to the public, accessible and inclusive, museums foster diversity and sustainability. They operate and communicate ethically, professionally and with the participation of communities, offering varied experiences for education, enjoyment, reflection and knowledge sharing.« 

Vieles darin scheint selbstverständlich. Das Museum als öffentliche Einrichtung des Sammelns, Bewahrens, Forschens, Ausstellens, Vermittelns. Doch was heißt hier »öffentlich«? Wie, für wen und wozu? Wie hält es das Museum mit der Repräsentation? Was wird gezeigt und wer oder was wird wie gezeigt? Wer kommt dabei, meist stellvertretend, zu Wort? Ist das Museum jenseits der Repräsentation auch ein Ort der demokratischen Versammlung? Neben Vergnügen und Reflexion nicht auch Ort manifester Konflikte, früherer und heutiger? Müssten nicht weitere Aspekte in die Definition aufgenommen werden: Das Museum als Maschine zur Produktion disziplinierter Subjekte und ihrer Befreiung, als Schauplatz des Einübens und Aufführens bürgerlicher Rituale und ihrer Bezweiflung, als Hort von Raubgut und längst nicht nur kulturellem Kapital und seiner Umverteilung? Als Raum der stets umkämpften Verhandlung, der Befestigung und Veränderung, gesellschaftlicher Verhältnisse? 

Es spricht bei aller Unwägbarkeit einiges dafür, die Anfänge des Museums, wie wir es heute kennen, ins Europa des 18. Jahrhunderts zu datieren. Was passiert in dieser Konjunktur bürgerlicher Aufklärung? Drei Linien sind zu nennen: Zum einen die zunehmende Öffnung privater, insbesondere fürstlicher Sammlungen für weitere Kreise. Was den Fall des Louvre paradigmatisch macht, ist, dass hier mit der Öffnung zum Publikum eine doppelte Umwidmung der Sammlung einherging: vom königlichen Besitz in Eigentum des Staates, vom Ausdruck dynastischer Macht und aristokratischen Geschmacks zum Beleg für Schicksal und innere Tiefe der französischen Nation. Als Inventare der Nation waren die Sammlungen nun zugleich Sache und Instrument zur Bildung des Volkes. 

Zum Zweiten hält eine neue Ordnung Einzug in die Sammlungen. Klassifikation und Temporalisierung erfassen die Objekte der Kultur und Natur. Wo die Dinge einst für sich und – in den Kunstkammern etwa – für moderne Augen durcheinander standen, werden sie nun in größere Gruppen sortiert: in künstlerische Schulen, in Naturreiche etc. Als Exemplare bilden und füllen sie nun die Raster der Klassifikation. Ein neues Ordnungsmuster ist die Zeit. Verstärkt werden Dinge und Sammlungen so als Ausdruck von Entwicklungen, bald auch von Fortschritt, verstanden und gezeigt. Eine Verräumlichung der Zeit und Verzeitlichung des Raums als Charakteristikum der »Sattelzeit« um 1800 – das macht das moderne Museum möglich. 

Im gleichen Maße, wie sich die Autorität der klassifizierenden Ordnung in Sammlung und Präsentation einschreibt, tritt die sinnstiftende Sammler- und Forscherpersönlichkeit, die das Zentrum vormoderner Wissensräume stellte, in den Hintergrund. Die Figur des Erklärers kehrt im Zuge der Ausweitung der Öffentlichkeiten und Erschließung weiterer Schichten zwar bald ins Museum zurück, doch nicht mehr in Gestalt des erkennbar eigensinnigen Erzählers, sondern des neutralen Vermittlers, des Mediums, einer scheinbar unabhängig gültigen, allein auf die Sache gründenden, objektiven Ordnung. Hier liegt auch der Grundstein der Medialität des modernen Museums. 

Ab 1800 bildet sich also – entgegen früherer Begriffe von »Museum«, die eher Studierzimmer, Forschungsort oder Raum der Geselligkeit und des Diskurses bezeichneten – das Modell einer Institution heraus, die auf das Sammeln und Zeigen von Dingen zum Zweck der Erbauung und Erziehung einer Bevölkerung abzielt. Dieses Modell expandiert bald gewaltig: geografisch, thematisch, nach Genres und Disziplinen, die es oft erst hervorbringt, im Hinblick auf seine Publika und seinen Geltungsanspruch. In dieser Expansion – dem immer weiter ausgreifenden Einschluss an Dingen, Menschen, Bildern, Welten – zeigt sich das Museum grundlegend kolonial, im Geist und vielfach seiner konkreten Praxis. Unwidersprochen war es dabei nie.  

Bis heute gilt das 19. Jahrhundert als Jahrhundert der Museen, obgleich 95 Prozent weltweit jünger als 70 Jahre sind. Der Grund liegt darin, dass sich im 19. Jahrhundert ein Gutteil jener Betriebslogik ausbildet, die das Museum noch heute prägt. Nur zwei Stränge: Museen werden mehr und mehr zu Stätten der Repräsentation. Motiviert, teils getrieben von neuen populären Formen des Ausstellens – zuvorderst den Massenspektakeln der Weltausstellungen seit 1851, aber auch den neu entstehenden Warenhäusern – und oft in Spannung zu ihren Sammlungen rückt das Zeigen und Sehen, auch das Sehen und Gesehen-Werden in den Vordergrund. Repräsentiert wird, im lokalen wie nationalen Maßstab, was man hat und was man – vermeintlich – ist, meist in Abgrenzung zu »anderen« und »anderem«, die in den Inszenierungen zu diesem erst werden. Der Einsatz der Dinge – in wachsender Zahl und ausgeklügelten Arrangements – verleiht der Darstellung besonderes Gewicht. Rahmen, Sockel und Vitrine stellen dabei das Standardrepertoire der musealen, zuvorderst auf den Sehsinn abgestellten »object lessons«.  

Zum Zweiten stellt sich mit der Weitung des Museums ein charakteristischer Widerspruch ein. Denn von seinen Anfängen als öffentliche Institution an erhebt das Museum den Anspruch allgemeingültiger Repräsentation, während zugleich jede konkrete Darstellung als selektiv und einseitig kritisiert werden konnte. Es war insofern gerade der eigene Anspruch bzw. die nicht zu schließende Kluft zwischen dem universellen Anspruch und der Wirklichkeit, je spezifischer Selektivität der anhaltenden Forderungen nach Berücksichtigung marginalisierter Aspekte und Geschichten erzeugte und diesen politisches Gewicht verlieh. Das Museum wird so bei aller vordergründigen Stasis, mitunter auch Schlafmützigkeit, regelmäßig zum Schauplatz virulenter Kämpfe um Teilhabe, Gerechtigkeit und Demokratie. 

Nun ist das 19. Jahrhundert eine Weile her und selbst in der Welt der Museen seitdem einiges passiert. Blickt man allein auf die letzten Jahre und Jahrzehnte, so springen einschneidende Veränderungen, auch Erschütterungen, ins Auge: Künstlerische und wissenschaftliche Institutionskritik kratzt an den Grundfesten des Museums. Forderungen nach stärkerer Besucherorientierung ziehen eine – wie auch immer prekäre – Aufwertung der Vermittlung nach sich. Zunehmende Reflexionen der eigenen Institutionsgeschichte stärken langsam, langsam die Provenienzforschung in Sammlungen. Längst überfällige Debatten um koloniale Kontinuitäten und koloniales Erbe von Museen zeitigen nach und nach auch materielle Konsequenzen. In der verstärkten Zusammenarbeit mit Expertinnen und Experten außerhalb der eigenen Mauern und im Lichte einer Ästhetikder Partizipation beginnen Museen,ihre traditionelle Deutungsmacht aufzuweichen – oder neu zu befestigen. Im Zuge neoliberaler Transformationen des Kulturbereichs mit forcierter Projektorientierung, dem Diktat der Flexibilität und Kreativität, verschärftemWettbewerb um Aufmerksamkeit und Mittel hält der – nicht mehr ganz so – »neue Geist des Kapitalismus« nach Luc Boltanski und Ève Chiapello Einzug in die Museen. Beschleunigter Medienwandel und eine »Kultur der Digitalität« gemäß Felix Stalder fordern sämtliche Operationen des Museums heraus. Zuletzt ist auch die Klimakrise im Museum angekommen, und zwar längst nicht mehr nur als Thema für Ausstellungen und Programme. 

Jetzt steht Zukunft allenthalben hoch im Kurs, auch im Museum. Wenn diese mehr sein soll als ein »modifiziertes ›Weiter so‹« (Dieter Klein), mehr als die neoliberale Rhetorik des Zukünftigen, die dafür sorgt, dass alles bleibt, wie es ist, dann geht dies nur im kritischen Blick zurück nach vorn. In einem Museum, das sich von seinem eingeschriebenen Extraktivismus – dem verbreiteten Heraussaugen von Dingen, Wissen, Ressourcen und Energie aus Menschen, Kultur und Natur – löst und sich jenseits seines institutionellen »possessive individualism« – man ist, was man hat; man muss haben, um zu sein – als Raum des »Commoning« und fairen Tauschs organisiert, im lokalen wie globalen Maßstab, im Hinblick auf Sammlungen wie Wissensproduktion und Organisationskultur. Als radikaldemokratisches Museum nach Nora Sternfeld aktiviert es im Lichte seiner widersprüchlichen Geschichte »eine Sprengkraft des Museums im Hinblick auf sich selbst. Es ist die Frage nach einer anderen – gleicheren, freieren, solidarischeren – Institution in einer anderen – gleicheren, freieren, solidarischeren – Gesellschaft. Es stellt die machtvollen Funktionen des Museums anhand von dessen eigenen emanzipatorischen Funktionen infrage (…) und macht, was das Museum immer schon gemacht hat: das Archiv herausfordern, den Raum aneignen, Gegenöffentlichkeiten organisieren, undisziplinierte Wissensproduktion und radikale Bildung vorantreiben«. Welche Welten, welche Welt könnten in diesem Museum entstehen? 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2022.