In der UN-Behindertenrechtskonvention werden Zugänglichkeit, das heißt auch Barrierefreiheit, und Teilhabe in allen Handlungsfeldern des menschlichen Lebens gefordert. Insbesondere Artikel 30 verweist auf die Zugänglichkeit von Kunstorten sowie auf die explizite Teilhabe von Künstlerinnen und Künstlern mit Beeinträchtigungen. Doch wie ist es um die Umsetzung bestellt? Wie barrierefrei und inklusiv sind die Museen in Deutschland wirklich? Theresa Brüheim spricht dazu mit Jürgen Dusel, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, und Olaf Zimmermann, Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates.
Theresa Brüheim: Wie inklusiv, wie barrierefrei sind deutsche Museen?
Jürgen Dusel: Die Gruppe der Menschen mit Behinderungen, die natürlich das Recht haben, Museen und Ausstellungen zu besuchen, ist komplett heterogen. Daher sind auch die Anforderungen an Barrierefreiheit sehr heterogen. Es gibt Menschen, die können schlecht sehen; es gibt Menschen, die können schlecht hören; es gibt Menschen, die können schlecht lernen. Barrierefreiheit braucht Expertise. Das kann man nicht »by the way« machen. Da ist bei den deutschen Museen, auch bei anderen Kultureinrichtungen, noch Luft nach oben.
Olaf Zimmermann: Das kann ich nur unterstützen. Wir müssen dabei auch an die denken, die Schwierigkeiten haben, Zugang zu finden, weil ihnen ein bestimmtes Vorwissen fehlt, sie lerneingeschränkt sind und Ähnliches. Viele der Museen machen immer noch Ausstellungen nur für die vermeintlich Gebildeten in unserem Land. Aufgabe ist es, allen Bevölkerungsschichten Zugang ermöglichen, egal wie ihre Vorkenntnisse sind.
Dusel: Wir müssen außerdem den demografischen Wandel im Blick haben. Es gibt Menschen, die ihr Leben lang in ein Museum gehen. Es ist fast ein zweites Zuhause für sie. Wenn diese Menschen im Alter Mobilitätseinschränkungen erfahren, weil sie einen Rollator nutzen müssen, an Parkinson oder einer beginnenden Demenz erkranken, dann gehen die Türen im Museum »bildlich« zu. Deshalb braucht es dafür Konzepte, die bis ins hohe Alter Zugänge ermöglichen, denn auch das ist Barrierefreiheit.
Wie ist es um die Teilhabe von Künstlerinnen und Künstlern mit Behinderung in Museen bestellt? Wie werden diese Künstlerinnen und Künstler ausgestellt?
Zimmermann: Wie viele Künstlerinnen und Künstler mit Beeinträchtigungen im High-Level-Bereich des Kunstmarktes, des Ausstellungsbetriebes gibt es überhaupt? Das sind sehr wenige, weil ihnen der Zugang massiv erschwert wird. Wenn dieses hohe künstlerische Niveau nicht erreicht werden kann, weil Zugänge fehlen, dann werden die Werke auch nicht im Museum ausgestellt. Im Kunstmuseum geht es um künstlerische Qualität. Das ist der entscheidende Punkt.
Aber alle, die über das kreative Potenzial verfügen, müssen die Möglichkeit haben, es auch so entwickeln zu können, dass sie in diesen künstlerischen Olymp hineinkommen können, um letztendlich ausgestellt zu werden. Da liegt die Crux: Die Zugänge zum Kunstbereich sind für Menschen mit Einschränkungen oft unüberwindlich. Das muss sich ändern.
Dusel: Hinzu kommt, dass die Verantwortlichen in den Museen erst mal in die Lage versetzt werden müssen, Künstlerinnen und Künstler mit Behinderungen zu identifizieren. Das Wissen über diese ist beim sogenannten Establishment nicht besonders groß. Aktuell werden Diversity-Debatten auch in Museen stark auf die Themen Gender und Antirassismus fokussiert. Das ist auch wichtig und schon lange überfällig – keine Frage. Ich wünsche mir, dass wir in der Debatte aber auch Menschen mit Behinderungen berücksichtigen und auch Fragen von Intersektionalität diskutieren.
Es gibt sicherlich großartige Künstlerinnen und Künstler, die im High-Level-Bereich arbeiten, die aber gar nicht auf dem Schirm der Verantwortlichen in den Museen sein können, weil das Wissen über sie fehlt. Die Beschäftigungsstruktur in den Museen selbst – die Mitarbeitenden, die Kuratoren, die Verantwortlichen – müssen auch divers sein. Auch dort müssen Menschen mit Behinderungen arbeiten, um das Bewusstsein für die Potenziale von Künstlerinnen und Künstlern mit Behinderungen zu stärken.
In Deutschland leben ungefähr 13 Millionen Menschen mit einer Beeinträchtigung. Die Gruppe ist heterogen, sie wird nicht so sichtbar. Daher arbeiten Olaf Zimmermann und ich seit Jahren daran, Kultur vielfältiger zu machen – und zwar nicht, weil das ein »nice to have« ist, sondern weil das die Kulturlandschaft wirklich bereichert.
Was ist zu tun, um mehr Barrierefreiheit, mehr Inklusion im Museum zu fördern?
Dusel: Es braucht den Willen zu mehr Barrierefreiheit und Inklusion im Museum selbst, aber es braucht auch den politischen Willen. Mein Job ist es, nach dem Behindertengleichstellungsgesetz darauf hinzuwirken, dass der Bund seine Verpflichtung, für gleichwertige Lebensverhältnisse zu sorgen, auch erfüllt. Natürlich bin ich an Gesetzen, Verordnungen und anderen wichtigen Vorhaben der Bundesregierung beteiligt, bei denen es um Menschen mit Beeinträchtigungen geht. Das Thema ist ganz eng mit unserer Demokratie verknüpft.
Wenn wir über die Zugänglichkeit des Kunst- und Kulturbereiches für Menschen mit Beeinträchtigungen reden, geht es letztlich um einen demokratischen Wert. Wir leben in einer demokratischen, pluralistischen, freien und diversen Gesellschaft. Es ist schön, wenn man das immer wieder sagt, aber es ist besser, wenn man wirklich dafür sorgt, dass es auch so ist. Ich habe nicht umsonst das Motto: Demokratie braucht Inklusion. Und ebenso gilt: Kultur braucht Inklusion und Inklusion braucht Kultur.
Zimmermann: Das kann ich nur bestätigen. Außerdem haben wir eine klare Vorgabe: Die UN-Behindertenrechtskonvention nimmt den Kulturbereich eindeutig in die Pflicht. Das heißt, wir müssen für die Besucherinnen und Besucher barrierefreie Kulturorte schaffen und wir müssen die Teilhabe von Künstlerinnen und Künstlern mit Beeinträchtigungen ermöglichen. Da kann und darf sich keiner herausmogeln. Jeder im Kulturbereich muss das eigentlich berücksichtigen. Doch der Wille allein reicht nicht, ihm muss die konkrete Handlung folgen. Das bedeutet im Kulturbereich oft, dass dafür die notwendigen Mittel zur Verfügung gestellt werden müssen. Es geht also auch ums Geld, damit diese Zugänglichkeit, diese Barrierefreiheit in allen Bereichen erreicht werden kann. Es ist eben nicht allein mit einer Induktionsschleife, einem Aufzug oder einer Rampe getan, da gehört auch viel Inhaltliches dazu. Dafür brauchen wir größere Förderungsprogramme. Ich hoffe, dass wir auf Bundesebene ein Leuchtturmprojekt entwickeln können, mit dem wir Signale setzen und neue Strukturen der Barrierefreiheit im ganzen Land schaffen können.
Dusel: Artikel 30 der UN-Behindertenrechtskonvention, die in Deutschland geltendes Recht ist, verpflichtet uns eben dazu. Es ist nicht ausreichend, dass der Staat dies zum geltenden Recht erklärt, es ist vornehmliche Aufgabe des Staates, dafür zu sorgen, dass diese gesetzten Rechte gelebt werden können. Das Recht muss bei den Menschen ankommen. Nur dann ist ein Staat glaubwürdig.
Wenn das nämlich nicht passiert, wenn die Menschen mit Beeinträchtigungen und ihre Familien das Gefühl haben: »Da steht was Schönes im Gesetz, aber es kommt bei mir nicht an«, dann kann sehr schnell Frustration entstehen. Im schlimmsten Fall wenden die Leute sich dann vom Staat ab, weil sie sich abgehängt fühlen – und laufen politischen Kräften hinterher, die vermeintlich einfache Antworten auf schwierige Fragen geben. Daher ist diese Rechtsgewährung so wichtig. Um das zu erreichen, müssen wir eine Trias im Blick haben: Wir brauchen auf der einen Seite die Willkommenskultur in den Museen für Menschen mit Behinderungen in ihrer Diversität. Wir brauchen mehr Künstlerinnen und Künstler, die sichtbar in Museen, in Ausstellungen und anderen Formaten sind. Und wir brauchen eine Beschäftigtenstruktur in Museen, die diese Diversität abbildet. Diese drei Dinge sind entscheidend.
Es gibt noch viel zu tun. Aber was läuft schon ganz gut? Welche Museen sind besonders barrierefrei und inklusiv?
Dusel: Viele Museen haben sich Teilbereiche der Barrierefreiheit angesehen – insbesondere die bauliche Barrierefreiheit. Da muss man schon sagen, dass sich einige Häuser auf den Weg gemacht haben. Wir haben Museen, die bestimmte Segmente im Blick haben, aber der ganz große Wurf, den sehe ich zurzeit noch nicht. Ich hoffe, er kommt. Was fast überall noch fehlt – und das kann man gar nicht oft genug sagen –, ist die Diversität in den Beschäftigungsstrukturen. Ein positives Beispiel ist hier die Berlinische Galerie, die mit Andreas Krüger einen blinden Kollegen eingestellt hat, der für das Thema Barrierefreiheit und Inklusion zuständig ist.
Zimmermann: Schauen wir uns das neue Humboldt Forum in Berlin an. Natürlich gibt es dort überall Aufzüge etc. – aber die bauliche Barrierefreiheit ist bei einem Neubau auch zu erwarten. An vielen Stellen im Humboldt Forum bin ich sehr erschüttert darüber, wie wenig inklusiv es ist. Da muss nachgearbeitet werden. Es geht nicht darum, Museen für eine Bildungselite zu bauen, sondern alle Menschen müssen die Möglichkeit haben, in ein solches Museum zu gehen und zu verstehen, was dort gezeigt wird. Dieses Verstehen-Können, das verlangt mehr als ein pädagogisches Rahmenprogramm, es betrifft die Ausstellungen im Kern selbst.
Dusel: Zum einen muss bereits bei der Entwicklung von musealen Projekten Inklusion konzeptionell von Anfang an mitgedacht werden. Zum anderen muss es zur Chefsache gemacht werden. Man kann dieses Thema nicht delegieren. Der Museumsdirektor oder die Museumsdirektorin müssen Zugang für alle als demokratisches Prinzip deutlich nach innen und außen vertreten. Und daran mangelt es noch. Oft wird es als zusätzliche Arbeit wahrgenommen. Nein, es gehört zentral zur Arbeit von Museen dazu. Das muss sich, im Mindset wirklich ändern.
Herr Dusel, in Ihrem Amtssitz, dem Kleisthaus in Berlin-Mitte, haben Sie auch immer wieder Ausstellungen. Was machen Sie da anders, was machen Sie inklusiver als manches Museum?
Dusel: Insbesondere vor der Pandemie haben wir in meinem Amtssitz unter anderem Ausstellungen gemacht. Dabei versuchen wir, die Zugänge zu diesen Ausstellungen so niederschwellig wie möglich zu halten. Deshalb heißt auch das Programm »Kultur im Kleisthaus – Eintritt frei Barrierefrei«. Wir arbeiten regelmäßig mit Gebärdensprache und Audiodeskription. Wir haben Informationen in Leichter Sprache. Außerdem versuchen wir, immer die Perspektive von Menschen mit Behinderungen auch konzeptionell miteinzubeziehen. In der Pandemie mussten wir auf überwiegend digitale Formate umsteigen. Aber auch hier versuchen wir immer, die Formate möglichst zugänglich aufzubereiten: Livestreams und Videos werden mit Verdolmetschung in Gebärdensprache und Leichte Sprache sowie mit Untertiteln und Audiodeskription versehen.
Ein weiterer Aspekt des Themas ist auch die barrierefreie Digitalisierung im Museum. Was wird gerade schon gemacht? Und worauf muss man achten?
Dusel: Wir müssen darauf achten, dass wir bei der Digitalisierung im Museumsbereich nicht den Fehler wiederholen, den wir in Deutschland gern machen. Wir dürfen nicht erstmal eine digitale Infrastruktur in einem Museum etablieren – und hinterher fällt uns ein, dass sie nicht barrierefrei ist. Das wäre fatal. Es stellt ein großes Risiko der Exklusion vieler Menschen dar. Denn gerade die Digitalisierung bietet große Potenziale für die Barrierefreiheit und Inklusion – wenn man es richtig macht.
Barrierefreiheit hat im Grunde zwei Seiten: Die eine ist die soziale Dimension: Sie ermöglicht Begegnungen und Zugänge – beispielsweise wenn gemeinsame Ausflüge von Menschen mit Beeinträchtigungen und ihren Familien möglich sind.
Die andere Seite wird insbesondere bei der Digitalisierung deutlich: Barrierefreiheit ist ein Qualitätsmerkmal für ein modernes Land.
Mir ist es vor allem wichtig, einen »change of mind« zu erzeugen: Wir müssen in Deutschland wegkommen von »Wir müssen das jetzt auch noch machen« hin zu »Wir machen das – und zwar natürlich nachhaltig, modern, schick und barrierefrei«. Das wird gerade bei der Digitalisierung besonders deutlich. Persönlich profitiere auch ich sehr von digitalen Medien – unter der Voraussetzung, dass sie barrierefrei sind.
Zimmermann: Insbesondere Förderprogramme können dies handhabbar machen. Beispielsweise könnten Mittel für Digitalisierung zur Verfügung gestellt werden, unter der Bedingung, dezidiert barrierefrei zu arbeiten. Wenn dies erfolgt ist, könnte noch mal ein Aufschlag auf diese Förderung ausgezahlt werden. Ich bin dagegen, dass man einfach in einen Bewilligungsbescheid für ein Kulturprojekt die Forderung nach einer umfassenden Barrierefreiheit aufnimmt, ohne die notwendigen finanziellen Mittel zur Verfügung zu stellen.
Dusel: Es gibt einen klaren gesetzlichen Auftrag im Behindertengleichstellungsgesetz. In Paragraf 1 Absatz 2 steht, dass die Träger öffentlicher Gewalt verpflichtet sind, die Ziele des Behindertengleichstellungsgesetzes – dazu zählt es, Barrieren abzubauen und Diskriminierung zu vermeiden – aktiv zu fördern. Aus meiner Sicht muss das bei allen Förderprogrammen auch in der Kultur Berücksichtigung finden. Aktiv fördern heißt, es muss etwas getan werden.
Zimmermann: Absolut. Wir müssen nur bei einer Sache aufpassen – im Kulturbereich erleben wir es gerade ganz massiv. Die Politik sagt, es gibt sehr wichtige Themen, die zu erfüllen sind, z. B. Klimaschutz oder Gleichberechtigung. Diese Themen werden dann in einen Zuwendungsbescheid geschrieben. Aber es werden keine Mittel dafür zur Verfügung gestellt. Damit macht es sich die Politik sehr oft sehr einfach. Das gilt auch für Barrierefreiheit in Museen: Die öffentlichen Hände müssen die notwendigen Mittel zur Verfügung stellen, damit das umgesetzt werden kann. Barrierefreiheit kostet Geld, dass dürfen die Kommunen, die Länder und der Bund nicht weiter verdrängen.
Dusel: Ich bin ganz bei Ihnen. Es gibt Dinge im Zusammenhang mit der Barrierefreiheit, die wirklich viel Geld kosten. Das muss auskömmlich finanziert sein. Aber manchmal braucht es bei dem Thema Barrierefreiheit gar nicht so viel Geld, sondern einfach nur Haltung. Dabei ist jede und jeder Einzelne gefordert.
Am Ende handelt es sich um die Umsetzung von fundamentalen Grundrechten: Menschen mit Behinderungen haben genau die gleichen Rechte wie alle anderen Menschen auch. Dazu zählt der Zugang zu Kunst und Kultur.
Zimmermann: Hundertprozentige Zustimmung.
Vielen Dank.