Eine Nachricht aus Saudi-Arabien hat beim Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge große Freude ausgelöst: Die UNESCO hat bei ihrer Sitzung in Riad 139 Soldatenfriedhöfe und Stätten des Ersten Weltkrieges zum Weltkulturerbe erklärt. Darunter sind 24 Anlagen in Frankreich und Belgien, die der Volksbund pflegt und unterhält. Damit ist die Sichtweise des Volksbundes nun von höchster Stelle dokumentiert: Das Kriegsgrab hat einen kulturellen Wert.
Die Geschichte des Kriegsgrabes ist vergleichsweise jung: Erst seit dem 19. Jahrhundert werden die Opfer von militärischen Auseinandersetzungen in dauerhaften Gräbern bestattet – die entstehenden Nationalstaaten waren die Ersten, die ihre Soldaten damit ehren wollten. Wer einmal auf dem Schlachtfeld von Waterloo nach den Gräbern von Franzosen oder Engländern Ausschau gehalten hat, weiß von der Vergeblichkeit der Suche. Es gibt nur einzelne Steine – wie den der Nachbarschaft des Gutshofs La Haye Sainte, der an 42 gefallene hannoversche Offiziere erinnert. Dagegen finden sich heute im Elsass und überall im deutsch-französischen Grenzgebiet Denkmale, auf denen die Namen der Opfer des Krieges von 1870/71 eingraviert sind. Der Tote bekommt dadurch eine Identität, sein Schicksal ist nicht mehr anonym, sondern greifbar.
Damit ist ein Teil der Aufgabe des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge beschrieben und zugleich auch eine der größten Herausforderungen für die Zukunft. Der Volksbund wurde 1919 unter anderem von Gräberoffizieren der Armee sowie Hinterbliebenen gegründet und ist damit eine mehr als 100 Jahre alte Bürgerinitiative. In staatlichem Auftrag baut, unterhält und pflegt er Soldatenfriedhöfe in aller Welt. Wir sind dazu übergegangen, von Kriegsgräberstätten zu sprechen, denn auf diesen oft riesigen Anlagen liegen auch zivile Opfer, Kriegsgefangene, Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter sowie weitere Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft.
Aktuell hat der Volksbund 836 Anlagen in 46 Ländern in seiner Obhut – überwiegend in Frankreich und Belgien sowie in Osteuropa. Aber auch in Großbritannien, Ägypten, Dänemark und sogar auf Island und in Panama gibt es deutsche Kriegsgräber – dort liegen die Toten zweier weltumspannender Kriege. Die Summe, die der Volksbund jährlich für die Pflege der Anlagen, aber auch für ihre Sanierung aufwenden muss, ist enorm.
Zwar bekommt der Volksbund jährlich mehr als 19 Millionen Euro vom Staat, aber diese Summe reicht bei Weitem nicht aus, die Arbeit der rund 500 hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im In- und Ausland zu fördern. Im Gegenteil: Die Liste der Grab- und Denkmale, die dringend saniert werden müssten, wird stetig länger. Auf ihr stehen auch Kriegsgräberstätten, die nun zum Weltkulturerbe zählen. Das ist ein unwürdiger Zustand.
Die Aufgaben des Volksbundes beschränken sich aber keineswegs auf bauliche Tätigkeiten und die Pflege von Bäumen und Rasenflächen. Auch wenn die Generation derer, die Krieg noch unmittelbar oder mittelbar erlebt hat, langsam abtritt, bleiben die Betreuung von Angehörigen und die Klärung von Schicksalen gefallener deutscher Soldaten zentrale Aufgaben des Vereins.
In diesem September haben wir den einmillionsten Toten nach dem Fall des Eisernen Vorhanges ausgebettet – seit 1992, als das Kriegsgräberabkommen zwischen der Bundesrepublik und der Russischen Föderation geschlossen wurde. Es ist ein Mann aus dem heutigen Sachsen-Anhalt, der 1944 in der Nähe der litauischen Stadt Kelmė gefallen ist. Volksbund-Mitarbeiter fanden auch seine Erkennungsmarke – ihre Beschriftung hat das Bundesarchiv in Berlin in detektivischer Kleinarbeit entziffert. Dadurch ist der Weg frei, Familienangehörige zu ermitteln und zu informieren und die Erkennungsmarke zu übergeben.
Auf diese Weise erfährt mancher Enkel, manche Urenkelin fast 80 Jahre nach Kriegsende etwas über das Schicksal eines Verwandten. Doch das ist nicht alles: Die Familie weiß dann auch, auf welcher Kriegsgräberstätte der Tote bestattet ist. Es gibt einen Ort, an dem sie trauern kann. Das ist ein großer Wert und es ist das Mindeste, was unser Land den Kriegstoten schuldig ist. Wir sollten uns niemals wünschen, weniger tun zu müssen!
Rund 12.000 Tote wird der Volksbund in diesem Jahr vermutlich bergen – überwiegend in Osteuropa. In der Ukraine ist die Arbeit nur stark eingeschränkt möglich, in Russland können wir sie auf etwas niedrigerem Niveau als sonst fortsetzen. Sterbliche Überreste, die dort z. B. bei Bauarbeiten, durch Archivrecherche oder aber durch Hinweise etwa von Dorfbewohnern entdeckt werden, werden von unseren Experten ausgebettet und auf Kriegsgräberstätten bestattet – ohne Zeremoniell, aber immer mit stillem Gedenken unserer Mitarbeiter vor Ort.
Anders die Situation in Polen: Hier wurden 128 Tote, die im März im Garten eines Hauses in Breslau ausgebettet worden waren, im Rahmen einer Gedenkveranstaltung mit rund 90 Teilnehmerinnen und Teilnehmern in Groß Nädlitz (Nadolice Wielkie) bestattet. Solche Gedenkstunden gab es in diesem Jahr auch in Važec in der Slowakei, im kroatischen Split, im litauischen Klaipėda sowie in Polen in Neumark (Stare Czarnowo) und Siemianowice Śląskie. Oftmals reisen Angehörige an, manche machen sich erstmals in ihrem Leben auf die oft beschwerliche Reise in ferne Länder, um Abschied zu nehmen.
»Die Kultur eines Volkes erkennt man daran, wie es mit seinen Toten umgeht« – dieses Zitat, das dem griechischen Philosophen Perikles zugeschrieben wird, sagt auch etwas über die Arbeit des Volksbundes aus. Denn diese Arbeit ist noch lange nicht getan. Der einmillionste geborgene Kriegstote nach dem Fall des Eisernen Vorhanges markiert eine Etappe unserer Arbeit in Osteuropa, mehr nicht. Unzählige Schicksale warten noch auf Klärung. Nimmt man die endlosen Kriegsgräberstätten im Westen dazu – etwa Ysselsteyn, La Cambe oder Langemark –, liegen mehr als 2,8 Millionen Kriegstote auf unseren Friedhöfen. Experten vermuten, dass in Osteuropa und auf dem Balkan noch einmal mehr als eine Million Kriegstote noch nicht geborgen sind. Dasselbe gilt für bis zu eine Million Kriegsgefangene, die in den Lagern verstarben.
Natürlich wird der Volksbund nicht alle umbetten können, aber er kann seine Arbeit auch nicht einstellen. Denn der Staat hat eine moralische Verpflichtung, den Männern, die in staatlichem Auftrag in Kriege geschickt wurden, würdige Gräber zu geben. Der Volksbund hat unzähligen Familien geholfen, mit einem tragischen Verlust umzugehen, und wird dies auch weiterhin tun. Kriegstote bekommen einen Namen und ein Gesicht und die, die um sie trauern, haben einen Ort, an dem sie trauern können. Wir alle haben einen Grund, darüber nachzudenken, was Krieg bedeutet, was Krieg den Menschen antun kann.
Ausgehend von diesen Kriegsgräbern kommt der Volksbund auch seinem Bildungsauftrag nach. In den vier Jugendbegegnungs- und Bildungsstätten in Frankreich, Belgien, den Niederlanden und nahe der polnischen Grenze auf Usedom lernen Jugendliche und junge Erwachsene Wichtiges über historische Zusammenhänge und begreifen, wie zerbrechlich der Frieden ist. Diese historische Bildung findet auch auf Friedhöfen statt. Hier werden die Biografien der oft jungen Soldaten vorgestellt, und so mancher Jugendliche begreift beim Blick auf die Lebensdaten: Der, der hier liegt, war so alt wie ich, als er starb.
Auch bei Arbeitseinsätzen, die der Volksbund bei internationalen Workcamps im Sommer in vielen europäischen Ländern organisiert, findet diese Bildungsarbeit statt. Sie wirkt dreifach: Die Jugendlichen arbeiten mit den Händen, mit dem Kopf und dem Herzen. Sie reflektieren, dass Kriege nicht ausbrechen, sondern gemacht werden. Sie spüren, dass Frieden mehr ist als die Abwesenheit von Krieg.
Sie erfahren außerdem, dass die Kulturen in vielen europäischen Ländern auf denselben Werten beruhen. Jugendliche aus Ländern, die aus den Kriegen zur Versöhnung zusammengefunden haben, erkennen, dass dieser Weg möglich ist, und lernen – gerade mit Blick auf die derzeitigen Rückschläge –, dass dieser Weg wichtiger ist als je zuvor.
Der Volksbund steht vor großen Herausforderungen. Für seine Arbeit im Ausland stagnieren die staatlichen Zuschüsse seit Jahren. Seine nicht minder wichtige Arbeit im Inland – insbesondere als wesentlicher Träger der Gedenkkultur sowie Motor der schulischen und außerschulischen Vermittlungs- und Bildungsarbeit – wird vorrangig von Spenden getragen! Diese erhält der Volksbund noch vor allem von der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegsgeneration. Die Summe der Spenden wird damit künftig geringer. Auch im Inland wird der Volksbund in Zukunft nicht ohne staatliche Unterstützung auskommen. Das Kriegsgrab ist ein kultureller Wert unserer modernen Zivilisation. Die Gedenkkultur des Volksbundes – die alle Opfergruppen der Weltkriege und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, aber auch die Einsatztoten der Bundesrepublik Deutschland einschließt – ist Ausdruck einer zivilgesellschaftlichen kulturellen Kraft in Ergänzung der staatlichen Verpflichtung zum Erhalt der Kriegsgräber. Daran soll man Deutschland auch in Zukunft erkennen – daran, wie wir mit unseren Kriegstoten umgehen.
In diesem Sinne binden wir unsere Schicksalsklärung, unsere Gedenk- und Erinnerungskultur sowie unsere Friedens- und Bildungsarbeit in einer gesamteuropäischen Anstrengung zusammen. Die Kriegsgräberfürsorge war schon in der Vergangenheit internationale Arbeit, und sie wird es noch mehr in Zukunft sein. Versöhnung und Mahnung zum Frieden sind nur miteinander möglich, nicht allein.