Das indonesische Kuratoren­-Kollektiv ruangrupa äußert sich im Interview mit Ludwig Greven ausführlich zum Antisemitismus­-Skandal auf der documenta, zu den BDS-­Vorwürfen gegen die Leitung und zu Forderungen, die Ausstellung abzubrechen.

Ludwig Greven: Ihre Idee war, das europäische Publikum mit einem künstlerischen und auch politischen Blick auf den »Globalen Süden« zu konfrontieren. Ist dieses Konzept aufgegangen?

ruangrupa: Wir folgen einfach der Art und Weise, die sich in mehr als 20 Jahren unserer Praxis bewährt hat. Ja, unser Ansatz ist anders – aber er unterscheidet sich von vielen Traditionen, auch von solchen außerhalb Europas. Er unterscheidet sich von kapitalistischen Systemen und Logiken. Aber er ist nicht unbedingt antagonistisch. »Lumbung« ist keine reaktionäre Haltung. Wir sind selten konfrontativ.

Wie unser Mitglied Ade Darmawan im Kulturausschuss des Bundestags gesagt hat, stehen wir dem Begriff »Globaler Süden« skeptisch gegenüber, da er nicht mehr sinnvoll ist. Er enthält eine Menge Fallen. Der globale Norden und der globale Süden sind keine getrennten geografischen Realitäten mehr. Sie sind seit der Kolonialzeit nicht mehr getrennt. Die documenta fifteen, so haben wir festgestellt, unterstreicht diese Tatsache und macht sie sichtbarer.

Schließlich geht es uns nicht darum, im herkömmlichen Sinne zu kuratieren. Deshalb sind wir sehr zufrieden mit der Art und Weise, wie »lumbung« aufgebaut ist, wie es funktioniert und arbeitet. Wir sind sehr zufrieden mit der Art und Weise, wie Ausstellungen gemacht werden, aber auch mit der Gemeinschafts- und Solidaritätsbildung, die durch verschiedene Krisen, mit denen wir als Gemeinschaft konfrontiert waren, auf die Probe gestellt wurde.

Wie wichtig ist es, dass in der internationalen Kunstszene und auf dem globalen Kunstmarkt Künstlern und Künstlerkollektiven wie Ihrem mehr Aufmerksamkeit zuteilwird?

Viele Stimmen bleiben in den Mainstream-Kanälen, einschließlich Medien und Kunst, ungehört. Es wäre zu vereinfacht, dies nur auf das Geografische zu reduzieren. Das gilt auch für Stimmen von physisch- und neuro-diversen Menschen, auch von Kindern und Jugendlichen oder Menschen mit nichtbinären Geschlechtsidentitäten. Die Liste ließe sich fortsetzen. Sie, oder vielmehr wir, sollten in den Vordergrund gerückt werden, aber nicht nur, indem Ausstellungen »inklusiv« gemacht werden. Im Nachhinein betrachtet ist die documenta fifteen ein Versuch, die Plattform eines zeitgenössischen Kunstereignisses zu nutzen, um diese Möglichkeiten weiter voranzutreiben. Aber wir glauben, dass es viele Antworten gibt, dass wir immer noch von vielen anderen lernen können, die vor Ort, in ihren jeweiligen Kontexten und Lokalitäten praktizieren.

Was unterscheidet die Arbeit von Künstlern wie Ihnen von der Art und Weise, wie Künstler im Norden und in westlichen Ländern arbeiten?

Wir kommen aus einem Kontext, in dem es kaum Unterstützung, Räume und Infrastrukturen für Dinge gab, die wir als sinnvoll erachten. Deshalb haben wir nach über 20 Jahren unseres Bestehens erkannt, dass wir immer noch von Praktiken lernen müssen, die unter schwierigen Umständen existieren, auch wenn sie nicht unbedingt mit unseren Herausforderungen vergleichbar sind. Indem wir verschiedene Orte miteinander verbinden – und uns dabei bewusst sind, dass eine einzige, universelle, globale Wunderpille unmöglich ist – möchten wir, dass unterschiedliche Ideen und Perspektiven zum Vorschein kommen. In dieser Logik hat sich die documenta fifteen als sehr lohnend erwiesen.

Was unterscheidet die aktuelle documenta wesentlich von früheren?

Wir vergleichen die documenta fifteen nicht wirklich mit früheren Ausgaben. Wir haben auf jeden Fall von ihnen gelernt. Dass die Dinge weiterhin gemacht werden, und zwar anders.

Diese Frage könnte bei der nächsten documenta ihre – hoffentlich vielfältigen – Antworten finden. Wir drücken die Daumen.

Sie haben die documenta seit Jahren vorbereitet und sich darauf eingestellt. Wie überrascht waren Sie, dass es in Kassel zu Auseinandersetzungen um einzelne Werke kam?

Wir haben offen über die möglichen Risiken gesprochen, die mit unserer Arbeitsweise verbunden sind. Überraschungen waren zu erwarten. Wir sehen die documenta fifteen als eine wichtige Station, die aber hoffentlich nicht die einzige auf unserer »lumbung-inter-lokal-Reise« sein wird. Dies ist kein Punkt, sondern eher ein Komma. Wir sind neugierig darauf, wie wir als Gemeinschaft aus diesen Überraschungen lernen. Bei einzelnen Werken ist jeder Fall anders.

War Ihnen bewusst, wie sensibel das Thema Antisemitismus in Deutschland aufgrund des Holocaust ist?

Viele von uns sind Fans von Graphic Novels. Ein Werk, das viele von uns als wegweisend betrachten, ist Art Spiegelmans »Maus«. Wir erzählen diese Anekdote nur, um darzustellen, wie die Populärkultur unserer Meinung nach erfolgreich dazu beigetragen hat, an die Tragweite des Holocaust zu erinnern, nicht nur in Deutschland, sondern auch im Hinblick auf die Geschichte von Gewalt und Unterdrückung überall sonst. Die Herausforderungen liegen darin, wie wir uns seitdem verstehen können, denn die Folgen des Holocaust werden bis heute unterschiedlich und asymmetrisch erlebt. Deutschland spielt dabei natürlich eine große Rolle und trägt eine große Verantwortung für diese Tatsache.

Die politischen und medialen Realitäten in Deutschland haben uns nichtsdestotrotz durch Überraschungen auch unmittelbar lernen lassen.

Hätten Sie vor diesem Hintergrund die ausgestellten Werke nicht vorher daraufhin überprüfen müssen, ob dort antisemitische Motive auftauchen?

Die Art und Weise, wie wir viele Systeme dezentralisieren – auch uns als künstlerische Leitung – setzt auf Vertrauen. Wir glauben immer noch, dass die Künstlerinnen und Künstler ihre Werke am besten kennen und im Austausch dazu sind, aber nicht, um von Leuten in unseren Positionen kontrolliert zu werden. Die Machtverhältnisse zwischen Institutionen, Leitung, Künstlerinnen und Künstlern, Publikum und allen anderen sind wichtige Elemente, die wir durch »lumbung« infrage stellen.

Wir haben die documenta fifteen als vielstimmig, voller Spontaneität, Improvisationen und organischer Erfahrungen geplant, sie wird niemals eine endgültige Form erreichen. Aber es gibt Risiken. Herauszufinden, wie man mit diesen Risiken, Herausforderungen und Ereignissen gegenwärtig kollektiv umgeht, ist unsere Methode, um voranzukommen.

Das am meisten kritisierte und deshalb entfernte Werk »People‘s Justice« des indonesischen Kollektivs Taring Padi enthält die hässliche Karikatur eines Juden mit SS-Runen und einer Figur mit einem Davidstern und der Aufschrift »Mossad«. Wofür stehen diese Figuren?

Taring Padi hat sich dazu hier ausführlich geäußert.

Sie haben sich dafür entschuldigt, diese Arbeit an einem zentralen Ort zu zeigen. Ist es Ihrer Meinung nach, wie die Zeichnungen eines algerischen Künstlers mit ähnlichen Karikaturen, judenfeindlich?

Das Kollektiv hat mit unserer vollen Unterstützung eine ausführliche Stellungnahme zu diesem Fall abgegeben. Unsere Ansichten unterscheiden sich nicht von ihren.

Hängt es vom jeweiligen Kontext ab, ob ein künstlerisches Werk antisemitisch ist oder wirkt?

Der Kontext ist wichtig, sollte aber nicht als Ausrede dienen. Wenn Menschen jedoch nicht mitbedenken, woher die Werke stammen und wo sie gezeigt werden, wie jüngste Beispiele gezeigt haben, neigen sie dazu, gefährliche und irreführende Schlüsse zu ziehen.

Warum haben Sie keine jüdischen und israelischen Künstler eingeladen? Auch Juden werden in vielen Ländern unterdrückt und diskriminiert, viele kommen aus Ländern des »Globalen Südens« oder leben dort.

Obwohl wir es nicht als unsere Aufgabe ansehen, Checklisten über repräsentative Identitäten – Nationen, Staaten, politische Ansichten, Race, Geschlecht, Fähigkeiten usw. – zu erstellen, stimmen wir dem letzten Satz zu. Die erste Frage beruht auf einer falschen Information, wie wir bereits mehrfach richtiggestellt haben. Wir haben jüdische, israelische und jüdisch-israelische Beteiligte in der documenta fifteen. Wir respektieren ihren Wunsch, nicht auf der Grundlage dieser Identitäten in den Fokus gerückt zu werden und nennen daher ihre Namen nicht.

Einigen aus Ihrer Gruppe wird vorgeworfen, der BDS-Kampagne nahezustehen. Wie stehen Sie zu dieser Bewegung, die auch zum Boykott israelischer Künstler aufruft?

Auch innerhalb von ruangrupa haben wir unterschiedliche Haltungen zu BDS. Diejenigen, die BDS in unserem Umfeld unterstützen, tun dies als gewaltfreies Mittel des Widerstands und der Solidarität. Es ist ein Boykott von Institutionen eines Staates, nicht von Menschen. Wir werden niemanden fragen, ob sie oder er einen Boykott unterstützt, und dies auch nicht zur Grundlage unserer Zusammenarbeit machen. Es ist nicht antisemitisch, sich friedlich für seine Rechte einzusetzen, und die Gleichsetzung von Antisemitismus und BDS ist nirgendwo Konsens, auch nicht in Deutschland, wie wir gelernt haben.

Warum haben Sie sich nicht stärker an der Debatte beteiligt?

Wenn Sie sich auf öffentliche Debatten beziehen, dann verstehen wir unser Publikum als vielstimmig. Als Gastgebende dieser öffentlichen Feier, auch bekannt als documenta fifteen, wenden wir uns täglich an unterschiedlichste Öffentlichkeiten. Wir sind der Meinung, dass dieser Plan nicht durch Skandale und Krisen beeinträchtigt werden darf. Wir waren nicht sehr erpicht darauf, das Feuer in der deutschen Presse und Politik zu schüren, denn die Risiken eines solchen Vorgehens sind größer als ein möglicher Nutzen. Und schließlich sehen wir uns nicht als die dominierende Stimme der documenta. Wir sollten auf viele Stimmen in der »lumbung-Gemeinschaft« hören, um in unserer Position handeln zu können. Das ist ein Grund, warum kollektives Arbeiten langsam ist. Wir kämpfen für diese Langsamkeit, inmitten der schnelllebigen Welt, in der wir alle leben. Wir hören zuerst zu und handeln – dazu gehört natürlich auch reden – entsprechend danach.

Warum haben Sie die Gesprächsbitte des Zentralrats der Juden in Deutschland vor Beginn der documenta nicht angenommen und ihn zu der geplanten Diskussion nicht eingeladen, sondern diese abgesagt?

Wir haben die Diskussion nicht einfach abgesagt, sondern konnten sie nicht wie geplant durchführen. Dies geschah, nachdem einige der eingeladenen Referentinnen und Referenten nach der öffentlichen Kritik des Zentralrats an der Zusammensetzung des Podiums und der Nicht-Einladung des Zentralrats ihre Teilnahme zurückgezogen hatten. Die Verkündung des Zentralrats sowie die Absagen kamen für uns überraschend, da im Vorfeld des Forums ein ausführliches Gespräch mit dem Zentralrat stattgefunden hatte.

Aufgrund dieser Vorgespräche und weil wir die Gesprächsrunde im künstlerischen Rahmen zusammengestellt hatten, sind wir nicht nach repräsentativen Gesichtspunkten vorgegangen. Stattdessen haben wir uns ein Zusammentreffen verschiedener Perspektiven vorgestellt, darunter auch jene, die Kernpositionen des Zentralrats in der Antisemitismusdebatte klar unterstützen.

Wer sich für unsere ausführliche Stellungnahme zur gescheiterten Gesprächsreihe interessiert, kann sie auf Deutsch hier nachlesen, auf Englisch hier.

Fühlen Sie sich in der Debatte als Kollektiv von Künstlern und Kuratoren ernst genommen und respektiert?

Viele von uns haben sich aus offensichtlichen Gründen nicht willkommen gefühlt. Anstatt Schuldzuweisungen zu machen, haben wir jedoch einen Großteil unserer kollektiven Energie, Zeit und Aufmerksamkeit darauf verwendet, zu diskutieren, zuzuhören und aus dem zu lernen, was uns im Kontext der documenta widerfahren ist.

Welche Fehler haben Sie gemacht?

Viele. Man kann damit beginnen, sie in unserer Einleitung zum Handbuch nachzulesen. Fehler und Misserfolge haben immer eine wichtige Rolle in unserer Entwicklung gespielt. Wir werden die Erfahrung der documenta fifteen auf unserer weiteren »lumbung-Reise« immer wieder aufgreifen.

Einer Ihrer Sprecher sagte in einer öffentlichen Diskussion nach dem Skandal, dass Sie in erster Linie lernen wollen. Was haben Sie bisher aus der Debatte gelernt?

Dass die »lumbung-Praxis« wesentlich ist – nicht nur für uns, sondern auch für viele andere. Unsere Überzeugung, nach der documenta fifteen weiterzumachen, festigt sich im Laufe dieser öffentlichen Feier noch mehr.

Wurden Sie von Sabine Schormann und der documenta-Leitung ausreichend auf die Bedingungen in diesem für Sie fremden Land vorbereitet? Wurden Sie von ihnen in der Debatte ausreichend unterstützt und begleitet?

Wir werden Sabine Schormann und der Leitung nie den Vorwurf machen, dass sie uns nicht ausreichend vorbereitet haben. Das ist ein wichtiger Punkt: Wir müssen gegen diese Tendenz der ständigen Schuldzuweisungen ankämpfen, um »lumbung« in der Praxis möglich und nachhaltig zu machen.

Wir haben schon früh mit der Geschäftsführung Gespräche über den deutschen Kontext geführt, nicht nur über Antisemitismusvorwürfe, wie sie im Januar aufkamen, sondern vor allem auch über Bürokratien, Traditionen, Erwartungen und unterschiedliche Handlungsweisen, die aus unterschiedlichen Kosmologien und Weltanschauungen resultieren. Wir haben diese Reise gemeinsam mit dem Team, mit externer Expertise und vor allem mit dem Kasseler Ekosistem und unseren deutschen Freundinnen und Freunden angetreten. Zu diesem Prozess gehörten Diskussionen, Verhandlungen, Meinungsverschiedenheiten, Missverständnisse, die Teil des Prozesses sind, etwas, mit dem wir umzugehen gewohnt sind. Eben dieser Prozess geriet ins Stocken, als aufgrund von Medienanfragen, die schnelle Reaktionen verlangen, unsere internen Gespräche zum Erliegen kamen. Wir wurden im Unklaren gelassen oder erfuhren von den Dingen erst, als sie öffentlich bekannt gegeben oder in den Medien zitiert wurden.

In diesem Sinne gab es eine Menge Vertrauensbrüche. Wir haben erkannt, dass dieses Vertrauen in mehrere Richtungen wiederhergestellt werden muss. Das versuchen wir derzeit.

Einige fordern nun, die documenta zu stoppen oder zumindest auszusetzen, bis alle Werke auf mögliche antisemitische Inhalte überprüft worden sind. Was halten Sie davon?

Das scheint uns eine mögliche Lehrbuchdefinition von Zensur zu sein.

Wollen Sie unbedingt bis zum Ende im September weitermachen?

Dazu gibt es erwartungsgemäß unterschiedliche Meinungen, nicht nur innerhalb der »lumbung-Gemeinschaft« – ruangrupa, Künstlerisches Team, Künstlerinnen und Künstler, Kooperationspartner und ihre jeweiligen Ekosistems –, sondern auch innerhalb von ruangrupa. Wir sind uns jedoch einig, dass die documenta eine sehr wichtige Plattform für unsere vielen Stimmen war. Wenn wir an verschiedene Lokalitäten denken, dann ist Kassel natürlich einer der Orte, die wir kennenlernen und denen wir vertrauen dürfen. So wie wir diese Frage nach der Präsenz der documenta fifteen in Kassel verstehen, glauben wir, dass Kassel uns sagen sollte, ob wir bleiben oder gehen sollten.

Würden Sie nach dieser Erfahrung erneut die Einladung annehmen, eine so große Kunstausstellung in einem europäischen oder westlichen Land zu organisieren?

Was wir aus dieser Erfahrung mit der documenta fifteen gelernt haben, ist, dass wir uns nicht ausklinken sollten. Nach einer dringend benötigten Ruhepause stellen wir uns vor, dass die »lumbung-Gemeinschaft« – zu der auch Menschen aus Europa und darüber hinaus gehören – weitermacht. Zum Tango gehören immer zwei: Werden große Kunstausstellungen in Europa und/oder im westlichen Kontext an der Auseinandersetzung mit uns interessiert sein?

Wie sehr schmerzt und ärgert es Sie, dass sich die Beschäftigung mit der documenta fifteen in Medien und Politik auf die Debatte um antisemitische Inhalte konzentriert?

Sie hat eindeutig viele andere Themen, die diese documenta hervorgebracht hat, überschattet. Das ist unfair gegenüber den Künstlerinnen und Künstlern, Kollektiven, Kooperationspartnern und anderen Stimmen, die unermüdlich für sie gearbeitet haben.

Vielen Dank.

Dieser Text ist in einer kürzeren Fassung zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2022.