»Ich hatt’ einen Kameraden, Einen bessern findst du nit. Die Trommel schlug zum Streite, Er ging an meiner Seite Im gleichen Schritt und Tritt. Eine Kugel kam geflogen, Gilt sie mir oder gilt sie dir? Ihn hat sie weggerissen …«

Ludwig Uhland hat 1809 das Lied »Der gute Kamerad« gedichtet, das in meiner Kindheit Ende der 1960er Jahre am Volkstrauertag auf dem kleinen Taunusfriedhof von allen Schülerinnen und Schülern der Volksschule gesungen wurde. Mit viel Pathos wurde der im Ersten und Zweiten Weltkrieg getöteten Dorfbewohner gedacht. Auch nach mehr als einem halben Jahrhundert kann ich mich gut entsinnen, wie unbehaglich diese jährliche Veranstaltung für mich war. »Eine Kugel kam geflogen, Gilt sie mir oder gilt sie dir?« hat mich bis in meine Träume verfolgt.

Das Lied erklingt auch heute noch bei der zentralen Gedenkveranstaltung am Volkstrauertag und bei Begräbnissen von Bundeswehrsoldatinnen und -soldaten. Ist diese Art Gedenken an getötete Soldaten noch zeitgemäß? Wie sieht die Erinnerungskultur der Bundeswehr heute aus?

Unfälle mit Todesfolge im Dienst hat es in der Bundeswehr und der NVA immer gegeben, doch im Oktober 1993 starb der Feldwebel Alexander Arndt durch zwei Kugeln während der UNTAC-Mission in Phnom Penh. Eine öffentliche Trauerfeier gab es damals nicht, aber der Verteidigungsminister und der Generalinspekteur der Bundeswehr hielten eine Ansprache beim Gedenkapell auf dem Flughafen in Wunstorf. Alexander Arndt war der erste im Ausland gefallene deutsche Soldat nach dem Zweiten Weltkrieg. Das ist nun 30 Jahre her, mittlerweile muss man 115 Gefallene der Bundeswehr bei Auslandseinsätzen beklagen.

Unsere Gesellschaft ist geprägt durch ein tief ambivalentes Verhältnis zu ihrer Armee und damit auch zu den Soldatinnen und Soldaten. Der Militarismus des Kaiserreichs, das mangelnde demokratische Bewusstsein eines erheblichen Teils der geschlagenen deutschen Armee während der Weimarer Republik, das zerstörerische Engagement der Freikorps gegen die Demokratie und vor allem der Nationalsozialismus und die Rolle der Wehrmacht in dem Unrechtssystem haben sich glücklicherweise fest in das kollektive Gedächtnis eingeprägt. Die Aussetzung der Wehrpflicht 2011 hat die Distanz der deutschen Gesellschaft zur Armee noch einmal befördert.

Die Diskussion über die Art und Weise, wie gefallener Soldaten der Bundeswehr gedacht werden soll, fand deshalb bislang hauptsächlich innerhalb der Bundeswehr statt. Besonders die sogenannten Veteranenvereine haben sich der Erinnerungskultur verschrieben.

Das erinnerungskulturelle Denken für die Zeit der Bundeswehr begann schon am Ende des Zweiten Weltkrieges. Im letzten Wehrmachtsbericht vom 9. Mai 1945 sagte Hitler-Nachfolger Großadmiral Karl Dönitz: »Die Wehrmacht gedenkt in dieser schweren Stunde ihrer vor dem Feind gebliebenen Kameraden. Die Toten verpflichten zu bedingungsloser Treue, zu Gehorsam und Disziplin gegenüber dem aus zahllosen Wunden blutenden Vaterland.« Soldatenehre und Soldatenpflicht haben, so das damalige Narrativ, den deutschen Wehrmachtssoldaten angetrieben, nicht der nationalsozialistische Wahn.

Eine deutliche Verbreiterung der Debatte fand erst durch die »Wehrmachtsausstellung« des Hamburger Instituts für Sozialforschung statt. Die beiden Wanderausstellungen (1995 bis 1999 und 2001 bis 2004) nahmen die Verbrechen der Wehrmacht unter die Lupe. Die öffentliche Aufregung war groß. Der Mythos des ehrenhaften sauberen Kämpfers zerbrach damals unter der Last der vom Hamburger Institut für Sozialforschung vorgelegten Beweise. Die Wehrmacht war am Vernichtungskrieg des NS-Regimes gegen die Sowjetunion und am Holocaust aktiv beteiligt gewesen. Spätestens seit dieser Zeit ringt die Bundeswehr mit »ihrer« Erinnerungskultur.

Die Bundeswehr hat in den vergangenen fast 70 Jahren viele Veränderungen durchgemacht. Besonders das Konzept der Inneren Führung setzte sich deutlich von der Wehrmacht ab und postulierte den »Staatsbürger in Uniform«. Politische Bildung sowie die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Bundeswehr gehören zu diesem Konzept ebenso dazu wie die Demokratiebildung. Die Bundeswehr ist die Armee eines demokratischen Rechtsstaats. Ihre Auslandseinsätze werden durch den Deutschen Bundestag beschlossen. Nicht von ungefähr ist die Rede von der Parlamentsarmee Bundeswehr. Die Einbindung in die NATO veränderte die Streitkräfte ebenso wie ihre Out-of-area-Einsätze außerhalb der Landes- und Bündnisgrenzen ab den 1990er Jahren.

Heute als Freiwilligenarmee muss sie eine eigene attraktive Identität entwickeln. Sie muss ein guter Arbeitgeber sein, damit junge Menschen, Männer und Frauen, sich freiwillig melden und den Militärdienst zu ihrem Beruf machen.

Wenn von Erinnerungskultur in der Bundeswehr in den letzten Jahren in öffentlichen Diskussionen die Rede war, ging es trotzdem zumeist um die Namen von Kasernen und um Traditionsecken in Kasernen. Es wurde teils belustigt, teils mit Schrecken über eine mangelnde Distanz und Distanzierung von der Wehrmacht berichtet. Es schien das Bild einer Armee auf, die noch an alten Traditionen festhält. Das ist aber – zum Glück – nur ein kleiner Teil der Erinnerungskultur der Bundeswehr, und vielerorts sind die Traditionsecken inzwischen geräumt, Kasernen wurden umbenannt.

Mit den Erinnerungsorten an den Bundeswehrstandorten der Auslandseinsätze wurden neue Formen des Gedenkens eingeführt. Keine Kriegerdenkmale, sondern Orte, die bewusst machen, dass Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatz gefallen sind.

Es bleibt das Gefühl, dass die Traditionspflege der Bundeswehr oftmals merkwürdig unverbunden zu anderen gesellschaftlichen Akteuren und damit auch Diskussionen ist. Die Zivilgesellschaft und Bundeswehr haben viel Distanz zueinander. Mehr Transparenz und Dialog sind daher erforderlich. Für mich als Kriegsdienstverweigerer und Zivildienstleistender war die Erarbeitung dieses Schwerpunktes auch eine sehr persönliche Herausforderung. Ich danke besonders der Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages, Eva Högl, für die Zusammenarbeit bei diesem Schwerpunkt. Wir haben oft und intensiv über die Erinnerungskultur der Bundeswehr diskutiert, und sie hat mir auch gedankliche Türen in eine mir weitgehend unbekannte Welt geöffnet.

»Eine Kugel kam geflogen, Gilt sie mir oder gilt sie dir?« hat in der heutigen politischen Realität an trauriger Bedeutung gewonnen. Die Bundeswehr gehört mit ihrer Geschichte in all ihren Facetten und mit ihrem aktuellen Handeln in die Mitte der gesellschaftlichen Debatten. Dazu wollen wir mit diesem Schwerpunkt einen Beitrag leisten.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2023.