Der Kulturminister Sachsen-Anhalts, Rainer Robra, spricht mit Ludwig Greven über die Bedeutung der Himmelsscheibe von Nebra und anderer Kultur- und Geschichtszeugnisse für die Kulturpolitik des Bundeslandes und darüber, welche neuartigen Erkenntnisse digitale Erkundungstechniken ermöglichen. 

Ludwig Greven: Herr Robra, in Sachsen-Anhalt wurde nicht nur die fast 4.000 Jahre alte Himmelsscheibe von Nebra entdeckt, es wurden und werden auch viele andere Geschichts- und Kulturzeugnisse gefunden. Welche Bedeutung hat die Archäologie für die Kultur und die Kulturpolitik des Landes? 

Rainer Robra: Wir verstehen uns als ein Kulturland mit einer reichen Geschichte. Schon im 19. Jahrhundert wurden im Gebiet des heutigen Landes Sachsen-Anhalt bedeutende Funde gemacht. Das hängt mit der Besiedlungsgeschichte zusammen. Der Harz ist eine deutliche Erhebung aus der norddeutschen Tiefebene. Wie die Auswertung auch mithilfe modernerer DNA-Verfahren zeigt, war er schon zu Zeiten der Völkerwanderung ein Ort, wo man innehielt. Heute können wir immer besser verstehen, wie dynamisch diese Prozesse über Jahrtausende verlaufen sind. In den vergangenen Jahrzehnten haben wir in der Archäologie einen immensen Schub erlebt. Etliche große Bauvorhaben seit der Wiedervereinigung haben mit sich gebracht, dass viele Sicherungsgrabungen gemacht wurden, die häufig bemerkenswerte Erkenntnisse auf der Vor- und Frühgeschichte, aber auch aus dem Mittelalter erbracht haben. Für uns ist das ungeheuer wichtig, auch weil es die Landesidentität stärkt. Deshalb unterstütze ich das als Kulturminister nach Kräften. 

Was können uns die Geschichts- und Kulturzeugnisse sagen?  

Es geht um Antworten auf die großen Fragen: Wo kommen wir her? Was hat uns geprägt? Was macht unser Menschsein in seiner historischen Dimension aus? Das nehmen in wunderbarer Weise die Ausstellungen auf, die im Zusammenhang mit den bedeutenden Grabungen gemacht werden. Beispielsweise die Ausstellung »Krieg – eine archäologische Spurensuche« im Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle vor einigen Jahren. Ausgangspunkt dafür war eine Blockbergung aus einem Massengrab vom Schlachtfeld bei Lützen, wo Schwedenkönig Gustav Adolf ums Leben gekommen ist. Die Ausstellung zeigte sehr nachdrücklich, was Menschen in der Lage sind, anderen anzutun – immer wieder aufs Neue. Ein Renner sind die Ausstellungen zur Himmelsscheibe, mit jeweils Zehntausenden, teils bis zu Hunderttausenden von Besuchern. Das belegt das große Interesse der Öffentlichkeit an diesen Themen. Die Archäologen versuchen, das möglichst anschaulich zu präsentieren. 

Was fasziniert die Menschen an den alten Sachen? 

Es ist die tiefere historische Schicht. Man sieht, was die Vorfahren schon zu leisten vermochten. Lange hat der Eindruck geherrscht, dass wissenschaftliche und künstlerische Leistungen vor 1.000 Jahren in anderen Weltgegenden vollbracht wurden, während hier die Menschen im übertragenen Sinn quasi noch auf den Bäumen hockten. Die Forschungen zur Himmelsscheibe zeigen jedoch, dass es auch hier schon früher große kulturelle Leistungen gegeben hat. Das erfüllt die Nachfahren mit einem gewissen Stolz.  

Wie häufig wird neues Altes gefunden? 

Es vergeht kaum eine Woche, in der die Medien des Landes nicht über neue Funde oder neue Interpretationen früherer Funde berichten. Manches wird entdeckt, weil jetzt das ganze Land systematisch erfasst wird. Mit modernen Techniken wird zugleich an älteren Funden Neues entschlüsselt. Vieles ist noch gar nicht vollständig ausgewertet, oder man erkennt erst jetzt die vollständige Dimension. Denken Sie an das Ringheiligtum Pömmelte bei Schönebeck, eine Grabenanlage ähnlich wie Stonehenge, allerdings aus vergänglichem Material Holz. In der Nähe sind Gräber aus dem Ende des dritten Jahrtausends vor Christus entdeckt worden. Mit modernen Untersuchungsmethoden konnten Verwandtschaftsbeziehungen der Bestatteten gezeigt werden und übrigens auch, dass die meisten Männer aus der Region stammten und Frauen zum Teil nicht. Früher gab es eher Zufallsfunde, heute gehen Archäologen ganz anders vor. So kommt man an historische Phasen heran, die bislang verborgen waren.  

Grabungen und ihre Auswertung sind sehr aufwendig. Kann sich Ihr Land eine solche systematische Suche leisten? Was geben Sie im Jahr für Archäologie aus? 

Das Landesamt für Denkmalpflege hat einen Jahresetat von gut 20 Millionen Euro. Zusätzlich werden Sondermittel für Grabungen eingeworben, bisweilen bekommen wir auch europäische Mittel. Für das Land sind die Schnitte durch die Zeit ein wichtiger Schwerpunkt. Wir haben uns als Ziel gesetzt, die Funde und Erkenntnisse digital zugänglich zu machen, weit über das Land hinaus. Und dabei Geschichten zu erzählen. Die technische Entwicklung hilft da sehr. So wurde ein Verfahren entwickelt, um von jeder alten Münze einen digitalen Fingerabdruck zu erstellen. Das erleichtert auch überregionale Ausstellungsprojekte. Nicht, dass eine hochwertige Münze als Leihgabe weggegeben wird und eine minderwertigere zurückkommt! 

Gibt es im Kulturetat Konflikte mit anderen Vorhaben, etwa für moderne Kunst? 

Der Kulturetat des Landes ist für beide ausreichend. Außerdem schreibt das Denkmalschutzgesetz vor, dass jeder, der ein Bauvorhaben auf einer sogenannten Verdachtsfläche beginnt, dort Grabungen bis zu einem gewissen Umfang bezahlen muss. Dadurch kann das Landesamt sie zum Großteil durch Drittmittel finanzieren. Die Auswertung leisten wir mit dem Personal des Landesamts, in Kooperation mit Hochschulen. Das Landesmuseum ist national und international mit anderen verflochten. So werden gemeinsam Forschungen und Ausstellungen möglich, die sich Sachsen-Anhalt allein nicht leisten könnte.  

Archäologische Funde zeigen häufig Verbindungen zu anderen Weltgegenden, etwa durch Handel. Müssen wir die Globalisierung historisch neu denken, ist sie gar kein neuzeitliches Phänomen? 

Die Himmelsscheibe ist dafür ein Schlüsselfund. Heutige wissenschaftliche Methoden und teilweise kriminalistische Recherchen belegen, dass in ihr Metalle aus verschiedenen Regionen der Welt verarbeitet wurden. Der große Sprung nach vorne ist die DNA-Analyse. Damit kann man alte Funde intensiv auf Spuren auch aus anderen europäischen oder Weltgegenden untersuchen.  

Zum Teil gibt es dann gezielte Nachgrabungen. Es erlaubt uns sehr genau, nachzuvollziehen, welche biografische Geschichte einzelne Funde haben. Besonders beeindruckend war das bei der Blockbergung vom Schlachtfeld von Lützen. Da konnte man analysieren, aus welchen Regionen die Soldaten kamen, welche Vorerkrankungen sie hatten und wie sie sich ernährt haben. Es ist sensationell, wie man damit die Hintergründe ausleuchten und Geschichten drum herum erhellen kann. Das macht es für die Öffentlichkeit sehr lebendig.  

Früher gaben Artefakte und Gebäudereste oft nur Zeugnis über das Leben ehemaliger Herrscher und Eliten, weil vom Leben der einfachen Leute wenig übrig blieb. Ist das jetzt anders?  

Aus ehemaligen Siedlungen kann man nun sehr genau das Leben der ehemaligen Bewohner rekonstruieren. Wie haben sie gelebt und wovon? Womit haben sie sich beschäftigt? Wo kamen die Lebenspartner her? Mancher spektakuläre Fund liegt aber gar nicht in der Erde, sondern im Depot. Man muss ihn nur mit den neuen Techniken noch einmal analysieren. Die Summe dieser Erkenntnisse ermöglicht ein neues Gesamtbild.  

Die Digitalisierung erlaubt nicht nur neuartige Präsentationen, sondern auch Erkundungen des Bodens ohne teure Grabungen, mit bildgebenden Verfahren. Wird das bei Ihnen auch eingesetzt? 

Ja, damit kann man das ganze Land kartografieren und so mögliche Funde sichern, um sie gegebenenfalls später gezielt auszugraben. Es lohnt sich, mit diesen Verfahren noch mal neu zu forschen, auch da, wo schon früher gegraben wurde.  

Kooperieren die Bundesländer bei der Archäologie ausreichend? 

Die Denkmalpfleger und Landeshistoriker arbeiten eng zusammen, auch die Hochschulen. Der Wissensaustausch funktioniert nach meinem Eindruck sehr gut. Es ist ein Privileg Mitteldeutschlands, sehr lange geschichtliche Achsen zu haben, mit guter Quellenlage. Ein Land wie Niedersachsen hat da gegebenenfalls sehr viel weniger zu bieten. Daran lassen wir andere Bundesländer gerne teilhaben.  

Archäologische Funde haben oft auch eine nationale und internationale Bedeutung. Sollte der Bund die Länder hier stärker finanziell unterstützen?  

Ich habe keinen Grund, mich da zu beschweren. Im Kulturföderalismus arbeiten wir heute pragmatisch gut zusammen, auch mit der Kulturstiftung des Bundes. Mittel sind da, sie können beantragt werden. Die Zeiten, wo man sich zum Teil kritisch beäugt hat, liegen zum Glück vor meiner Zeit als Kulturminister.  

Sind die Himmelsscheibe von Nebra und andere archäologische Schätze ein touristischer Anziehungspunkt für Sachsen-Anhalt? Ist das auch ein wirtschaftlicher Faktor? 

Wir wissen besonders von Sonderausstellungen, dass Menschen aus ganz Deutschland und darüber hinaus deswegen kommen und oft dann noch eine Weile bleiben. Reproduktionen der Himmelsscheibe sind ein Renner, auch als Schmuck. Das Land hat sich die Markenrechte dafür gesichert. Das Landesamt bekommt so bei jedem Verkauf etwa von Halsketten eine kleine finanzielle Rückmeldung. Neben dem Bauhaus, Kirchen und Museen haben wir damit ein weiteres wichtiges kulturelles Angebot. 60 Prozent der Besucher in Sachsen-Anhalt sind Kulturreisende. Das hat auch eine wirtschaftliche Bedeutung.  

Was wird man später einmal von uns Heutigen ausgraben? 

Eine wichtige Erkenntnis der Archäologie ist, dass wir verderblicher sind, als wir häufig hoffen. Finden wird man radioaktive Fässer aus ehemaligen Atomkraftwerken. Das reicht viel länger als die Geschichte, die wir heute rückblickend betrachten. Grabungen nach menschlichen Überresten werden seltener Erfolge bringen. Bemerkenswert ist doch, wie schnell sich heute Friedhöfe verjüngen. Die Zeiten, in denen Gräber über lange Zeit gepflegt wurden, ist vorbei. Das bedeutet als Folge, dass da auch nicht mehr so viel an Zeugnissen erhalten bleibt. Überdauern werden aber spektakuläre Aufnahmen von anderen Sternensystemen, Kulturzeugnisse und große Datensammlungen. Die können dann spätere Generationen auswerten. Unsere Denkmalpflege ist jedenfalls auf Zukunft ausgerichtet, um das Wissen und die Kultur von Generation zu Generation weiterzugeben. 

Vielen Dank. 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 10/2022.