A ls berühmtester deutscher Archäologe gilt auch heute noch der vor 200 Jahren geborene Heinrich Schliemann. Erst 1868 reifte bei einer Reise der Gedanke in ihm, Troja auszugraben, ein Jahr später wurde der erfolgreiche Kaufmann bereits mit seinem Bericht von dieser Reise in Rostock promoviert, er heiratete die junge Griechin Sophia Engastromenos, zog nach Athen und ließ bereits 1870 die ersten Grabungen in Troja durchführen. Nach drei weiteren Kampagnen endete die erste Phase der Ausgrabungen mit der Entdeckung des »Schatz des Priamos«. 

Archäologie war in dieser von Entdeckungen auf allen Gebieten und in allen Wissenschaftsbereichen geprägten zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Tätigkeitsfeld, auf dem Autodidakten, begeisterte Amateurforscher und Personen mit wissenschaftlichem Background aufeinandertrafen. Es war eine Zeit des Alles-wissen-Wollens, des ständigen Überschreitens von bisherigen Grenzen des Verstehens. 

Es war eine Zeit, in der strenge wissenschaftliche Methodik, die – auf die Aussagekraft von Messungen und großen Zahlen untersuchter Objekte vertrauend – die Archäologie fast zur Naturwissenschaft werden ließ. Gleichzeitig sind aber auch ganz andere Zugänge möglich gewesen, wie es die Begeisterung Schliemanns für die Texte Homers und die Resonanz der Öffentlichkeit auf seine Forschungen eindrücklich zu erkennen geben. 

Sind wir heute, 150 Jahre nach der Entdeckung des Schatzes des Priamos, eigentlich viel weiter? Hat sich die Rolle des Faches Archäologie zwischen Geistes- und Naturwissenschaft geklärt? Es scheint so, als ob diese Frage weiter von größter Aktualität ist. Neue naturwissenschaftliche Methoden verändern die Forschung in erheblicher Geschwindigkeit. Wer hätte noch vor 30 Jahren gedacht, dass wir heute in großem Stil genetische Methoden einsetzen? Mit immer stärker verfeinerten Analyseverfahren werden nicht nur Gebeine zur Quelle, sondern selbst die Inhalte von Kloaken und Abfallgruben lassen Aussagen über individuelle menschliche Benutzer, über die Vielfalt der genutzten pflanzlichen und tierischen Speisen und über Krankheiten zu. Die Datenmengen, die erhoben werden können, wachsen exponentiell. Längst ist die Archäologie über die von Schliemann so geschätzte und geförderte Auswertung des keramischen Materials herausgewachsen, auch wenn dieses unverwüstliche Material bis heute unverzichtbar für den Erkenntnisgewinn bleibt.  

Doch gerade bei diesen Datenmengen kommt es wie bei jeder Wissenschaft immer stärker auf die Fragestellung an. Diese zielt letztlich immer auf den Menschen und dessen historische Gebundenheit. Und die Ergebnisse, die erzielt werden und Antworten auf die gestellten Fragen geben, sind und bleiben ein Zeugnis unseres eigenen Selbstverständnisses als Individuum und als Gesellschaft. Eine große Herausforderung stellt z. B. die Analyse des genetischen Erbgutes von Menschen in vor- und frühgeschichtlichen Zeiten dar. In vorgeschichtlichen Zeiten, in denen Schriftquellen völlig fehlen, können große Einwanderungsbewegungen gefasst werden, und die Verbindung dieser genetischen Ergebnisse zu archäologisch fassbaren Kulturphänomenen, wie bestimmten Grabformen oder besonderen Gegenständen, bestimmt die wissenschaftliche Diskussion. Größere wissenschaftliche Dispute zeichnen sich schon jetzt etwa in der Völkerwanderungszeit ab. Lassen sich genetische Ergebnisse, archäologische Funde und historisch überlieferte Namen und Ereignisse in Beziehung zueinander setzen? Gibt es hier Erkenntnisse, die auch bisherige Forschungsdebatten, wie das Für und Wider der ethnischen Deutbarkeit archäologischer Funde, wieder in Bewegung bringen? 

Apropos Bewegung. Die Ausstellung »Bewegte Zeiten – Archäologie in Deutschland«, die das Museum für Vor- und Frühgeschichte und der Verband der Landesarchäologen in der Bundesrepublik Deutschland im Kulturerbejahr 2018 im Gropius Bau in Berlin gezeigt haben, hat einiges in Bewegung gebracht und gezeigt, dass archäologische Forschung für unsere heutige Gesellschaft von Relevanz ist. Dort wurden die besten Funde der deutschen Archäologie der letzten zehn Jahre und wichtige, neu interpretierte ältere Entdeckungen nicht in einer chronologischen Erzählung von der Steinzeit bis in die Gegenwart präsentiert. Schon dies allein ist eine, die Wahrnehmung von Geschichte verändernde Darstellung. Denn eine Chronologie impliziert auch eine Kontinuität, es impliziert die Kontinuität von Dörfern und Siedlungen, die Kontinuität von Nutzungen und insbesondere die Kontinuität von Menschen über Generationen hinweg. Migration erscheint dann als die störende Ausnahme. »Bewegte Zeiten« interpretierte Funde als Zeugnisse von Mobilität und Migration quer durch alle Epochen. Das festgefügte Geschichtsbild konnte so geöffnet werden, Migration und Mobilität wurde als Motor von Entwicklung wahrgenommen und als ein alle Epochen durchdringendes Phänomen.  

Das enorme Potenzial der Archäologie wird in diesen Jahren in ganz neuer Weise erkennbar. Lange Zeit schien unser Fach in der Routine der Anhäufung von Fundstücken und deren eingeübter Interpretation erstarrt, Neuerungen schienen sich häufig in verfeinerten Datierungsmöglichkeiten zu erschöpfen.  

Jetzt setzen sich neue, aktuelle Fragestellungen durch, die Überlebensfragen unserer Gesellschaft auch im globalen Kontext betreffen. Archäologische Forschungen zeigen auf, wie Kulturen mit Ressourcen umgegangen sind, seien es menschliche Fähigkeiten oder natürliche Ressourcen. Wie wurden Böden, Wälder und Gewässer im Spannungsfeld zwischen kurzfristiger Ausbeutung und langfristigem Bestandserhalt genutzt, welche Folgen hatte ein Raubbau an diesen Ressourcen? Menschen waren schon vor der Sesshaftwerdung vom Klima sehr stark geprägt, unwirtliche Lebensräume und die notwendige Anpassung von Wirtschafts- und Wohnformen auch bei geänderten Umweltbedingungen bilden einen zunehmend wichtigen Forschungsschwerpunkt. 

Die archäologische Forschung in Deutschland, die durch die Denkmalschutzgesetzgebung der Bundesländer ihren rechtlichen Rahmen erhält, muss sich großen Herausforderungen stellen. Wir leben immer noch, trotz aller anders lautender Absichtserklärungen, in einer Zeit, in der der Flächenverbrauch für neue Siedlungsareale oder Gewerbegebiete, für Verkehrs- und Infrastrukturmaßnahmen weiter ausgesprochen hoch ist. Flächenverbrauch, und dazu gehört auch die Nachverdichtung in den Städten, ist mit der Zerstörung von Zeugnissen menschlicher Geschichte verbunden und es wird immer deutlicher, dass archäologische Befunde endlich sind. In ganzen Regionen sind inzwischen die siedlungsgünstigen Lagen bebaut, in den Städten werden bereits 50 Jahre alte Gebäude wieder abgerissen und jeder Quadratmeter wird tief unterkellert. Oft ist die gründliche Dokumentation und die Aufbewahrung der Fundezum Zwecke der Erforschung durch zukünftige Generationen die einzige Möglichkeit, um wenigstens Erkenntnismöglichkeiten zu sichern. Immer häufiger werden jedoch auch archäologisch freigelegte Befunde erhalten und in die Stadt-oder Landschaftsgestaltung einbezogen, hier entwickelt sich die Archäologie zu einer Ressource, um die historische Vielfalt und Unverwechselbarkeit unserer Kulturlandschaft nachvollziehbar werden zu lassen.  

Die archäologischen Denkmäler sind in allen Regionen Deutschlands zu finden und gerade außerhalb der Ballungsräume ist die Erhaltung besonders gut. Sie schaffen somit gerade in ländlichen Regionen Orte der Identifikation und der Beheimatung. Dies hat sich gerade in den Jahren der Pandemie gezeigt, in der die Museen und archäologischen Stätten in der Nähe häufig besondere Anziehungspunkte dargestellt haben, die es zu stärken gilt. Über archäologische Objekte entsteht häufig auch für diejenigen, die erst an einem neuen Wohnort noch ankommen müssen, eine besondere Verbindung. Dies gilt besonders für Menschen, die an ihrem vorherigen Lebensmittelpunkt bereits Kontakt zur Archäologie hatten.  

So wie die Archäologie regional präsent ist und sich entfaltet, so ist ihr Erfolg nur vor dem Hintergrund des internationalen Netzwerkes zu verstehen. Archäologie lebt vom Austausch zwischen Forscherinnen und Forschern aus vielen Nationen und Regionen, es braucht die Kenntnis vor Ort und den vergleichenden Blick. So wie Heinrich Schliemann in Griechenland bei den Ausgrabungen in Mykene nicht nur in seiner Frau Sophia eine große Stütze fand, sondern die Grabungen auch vom selbstbewussten Auftreten des griechischen Grabungsaufsehers Panagiotis Stamatakis profitierten, so bildet heute bei allen Aktivitäten, die deutsche Archäologen mit ihrer internationalen Grabungstätigkeit entfalten, die Zusammenarbeit mit den Kolleginnen und Kollegen die Basis. Die Archäologie sieht sich dabei zunehmend mit großen internationalen Krisen konfrontiert. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine bildet nach den verheerenden Konflikten im Nahen Osten, im Jemen oder jetzt auch in Äthiopien einen weiteren, schrecklichen Höhepunkt. Viele Projekte haben sich gerade in den letzten Jahren auf die fruchtbaren Gebiete der Ukraine und die Weiten der russischen Steppen konzentriert, diese Projekte sind auf unabsehbare Zeit nicht fortführbar. Auch die Museen erleben Einschränkungen. Die Ausstellung zum 200. Geburtstag von Heinrich Schliemann kann nicht wie geplant in Moskau gezeigt werden, der Schatz des Priamos bleibt einsam im Pushkin-Museum in Moskau, wo er seit 1945 zusammen mit den anderen goldenen Objekten des Museums für Vor- und Frühgeschichte völkerrechtswidrig aufbewahrt wird. 

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 10/2022.