N ach dem Ersten Weltkrieg suchte nicht nur die deutsche Außenpolitik, sondern auch die deutsche Archäologie nach einer neuen Positionierung in der Welt. Auf der Hundertjahrfeier des Deutschen Archäologischen Instituts 1929 bemerkte der damalige Präsident Gerhard Rodenwaldt: »Das Gebiet der Archäologie hat sich räumlich und zeitlich erweitert. Ungeahnte Zusammenhänge verbinden in den verschiedensten Epochen Europa mit dem nördlichen Afrika und reichen bis zum Fernen Osten; an die Stelle Europas ist für Archäologie und Kunstgeschichte ein erweiterter Schauplatz getreten, der außer dem Alten Europa ganz Asien und Nordafrika umfasst.« Diese Frage nach den weltweiten Perspektiven archäologischer Forschung stellt sich noch einmal, als sich in den 1970er Jahren die Frage nach dem Verhältnis Europas zu den unabhängigen Kolonien neu stellte. Die Politik entdeckte die weltweite Archäologie als wichtigen Bestandteil der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik.  

Heute steht unter wieder ganz anderen Vorzeichen die Archäologie in globaler Perspektive im Fokus der Forschung, aber auch weltweiter politischer Fragen. Die Globalisierung wirft Fragen der weltweiten Vernetztheit auch von Vergangenheiten auf, die in ganz unterschiedlichen Formen bis in unsere Zeit hinein- und nachwirken. Die Frage um die in europäische Museen verbrachten Kulturgüter ist nur eine Facette der »global archaeology«.  

Globale Fragen  

Die Bedeutung des menschlichen Einflusses auf das globale Klima hat den Nobelpreisträger Paul Crutzen dazu veranlasst, das aktuelle Erdzeitalter nicht mehr pauschal als Holozän zu bezeichnen. Er rief auf einer Konferenz im Jahr 2000 genervt aus: »Stop using the word Holocene! We’re not in the holocene anymore. We’re in the Anthropocene.« Seit diesem Zeitpunkt ist der Begriff des Anthropozäns ein Teil wissenschaftlicher und öffentlicher Diskussionen, die durchaus kontrovers verlaufen. Eine der viel diskutierten Fragen ist, wann dieses neue Erdzeitalter eigentlich begonnen hat. Fing das Anthropozän mit dem immer größeren Ressourcenverbrauch, mit dem Anstieg der CO2-Emissionen und dem Anwachsen der Technosphäre an. Diese globalen Fragen stehen im Mittelpunkt moderner archäologischer Forschung. Diese findet in Kooperation vieler Disziplinen und von Forscherinnen und Forschern aus vielen Ländern statt. Zentrale Themen sind dabei, wann eigentlich der menschliche Einfluss wirklich eine so tiefgreifende Wirkung auf unsere Umwelt hatte, dass er die lokalen und regionalen Umweltbedingungen tiefgreifend und damit auch irreversibel veränderte. Es wird aber auch danach gefragt, wie die Menschen auf klimatische Veränderungen und Veränderungen der Umweltbedingungen mit neuen technologischen Entwicklungen reagierten, z. B. durch die Entwicklung einer Oasentechnologie oder auch der Domestikation von Tieren und Pflanzen. Um diese Prozesse zu verstehen, werden in archäologischen Projekten lokale Daten erhoben und mit weltweiten Simulationen gespiegelt.  

Globale Kooperationen 

Die wirklichen komplexen Veränderungen lassen sich nur verstehen, wenn wir die Perspektive immer wieder von lokalem »Impact« zu globalen Veränderungen wechseln. Daher erfolgt eine moderne archäologische Forschung in internationalen Kooperationen. Diese haben sich aber ebenfalls gravierend verändert. In der gemeinsamen Forschung haben die Formate des Austausches und auch der Aus- und Weiterbildung eine neue Qualität gewonnen. Die Digitalisierung der Forschung bringt eine neue Haltung auch zu den Forschungsdaten und zu der Notwendigkeit eines ständigen gemeinsamen Lernens mit sich. Diese gilt es nicht nur offen und nachnutzbar zugänglich zu machen, sondern auch international gleichberechtigt zu teilen. Dafür wurden die CARE-Prinzipien geschaffen, die den kollektiven Nutzen (Collective Benefit), die Autorität zur Kontrolle (Authority to Control), Verantwortung (Responsibility) und die Ethik (Ethics) adressieren. Es geht darum, dass mit Blick auf den Zugang zur Information und die Nutzung der Daten kein »neuer« Kolonialismus eines asymmetrischen Zugangs zu den Ergebnissen von Forschung entsteht. Hier kommt der Archäologie eine große Verantwortung zu, da sie nicht nur Daten über das kulturelle Erbe, sondern auch bedeutende Daten zur Klima-und Umweltgeschichte ganzer Regionen erhebt.  

Globale Vergangenheiten 

Dieser Verantwortung stellt sich die international kooperierende Archäologie heute weltweit. Archäologische Forschung bedeutet, dass man konsequent Verantwortung für das kulturelle Erbe übernimmt. Hier stellen sich Fragen nach der Einbindung der Gesellschaften in einer Region über die Nutzung und Präsentation des kulturellen Erbes ebenso wie nach einem gemeinsamen Lernen, einem steten Aus- und Weiterbilden, um überall die Voraussetzungen zu schaffen, das kulturelle Erbe zu erhalten. Dabei setzt sich die Archäologie auch mit ihrer Vergangenheit auseinander. Sie reflektiert frühere Entscheidungen, nur bestimmte Epochen oder kulturgeschichtliche Phasen, die im europäischen Interesse waren, auszugraben und zu erhalten. Sie reflektiert aber auch kritisch die politischen und rechtlichen Kontexte, in denen Objekte aus ihren Herkunftsländern nach Europa kamen. Diese Reflexion kann aber nur gemeinsam mit den heutigen Gesellschaften der Herkunftsländer erfolgen. Und hierfür wurden neue Formen des Austausches und auch Wege gefunden.  

Archäologie im politischen Kontext 

Archäologische Forschung schafft durch Ausgrabungen nicht nur neue »Kultur«-Landschaften und neue politische Narrative über die Vergangenheit. Diese sind auch heute zeitgebunden und nicht frei von allen politischen Rahmenbedingungen. Die Vereinnahmung von vergangenen Kulturen oder Ereignissen wie dem Sieg der Germanen gegen die Römer, die Varusschlacht, als Beginn deutscher Geschichte prägte lange die deutschen Geschichtsbücher und erlebt aktuell eine Wiederaufnahme in politischen Narrativen rechtsradikaler Gruppierungen. Eine solche Nutzung vergangener Kulturen, Gesellschaften oder auch nur historisch konstruierter Narrative lässt sich weltweit beobachten. Teilweise dienen sie dafür, Bedrohungen als historische Konstanten darzustellen oder die Identität und die Konstruktion von Nationalstaatendurch eine scheinbar lange Kontinuität zu legitimieren. Sie dienen aber auch dazu, kulturelle Überlegenheit zu begründen. Die archäologische Forschung bewegt sich immer in diesen komplexen gesellschaftlichen und politischen Kontexten und ist aufgefordert, gerade in der internationalen Zusammenarbeit, eine kritische Position zu diesen intentionellen Nutzungen und Umnutzungen ihrer Ergebnisse zu erarbeiten.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 10/2022.