R adiokohlenstoff- und Thermolumineszenzdatierung, Gen-Isotopen- und Röntgenfluoreszenzanalyse, Computertomografie, Rasterelektronenmikroskopie, Georadar, Geoelektrik, Geomagnetik und LiDAR – um nur einige zu nennen – sind Methoden aus den Natur- und Geowissenschaften, die teilweise schon seit Jahrzehnten in der Archäologie zur Anwendung kommen. Sie ermöglichen die Datierung von organischen und anorganischen Objekten, Alters- und Herkunftsbestimmung, geben Auskunft über Geschlecht, Verwandtschaftsgrad, Lebensalter und Ernährung von Menschen und Tieren. Mit ihnen lassen sich Materialzusammensetzungen und -veränderungen bestimmen, sie erlauben die zerstörungsfreie Erforschung und Dokumentation von Strukturen im Untergrund. Ihr Einsatz in der Erforschung des materiellen Erbes der Menschheit ist nicht mehr wegzudenken. Die Archäologie profitiert von den wissenschaftlichen und methodischen Fortschritten in anderen Disziplinen sowie von technischen Entwicklungen und Digitalität. Falsch wäre jedoch zu denken, dass natur- oder geowissenschaftliche Methoden ausreichen würden, um unser materielles Erbe zu entschlüsseln. Jede Methode hat ihre Grenzen und so wenig man die Geschichte der Menschheit allein mit aDNA-Forschung schreiben kann, so wenig bekommen wir Mensch-Umwelt-Beziehungen mit Hermeneutik in den Griff. 

Vor dem Hintergrund, dass materielle Hinterlassenschaften aus mehr als drei Millionen Jahren die einzige Quelle unseres Wissens über die biologische, kulturelle und soziale Entwicklung der Menschheit sind, ist deren Erforschung wesentlich für die Beantwortung grundlegender Fragen unseres Lebens. Vom Menschen gemachte und genutzte Objekte, gebaute Monumente und Architekturen, anthropogen geprägte und gestaltete Landschaften sowie biologische oder ökologische Überreste geben gleichermaßen Aufschluss über Innovationen und technologische Entwicklung, Transfer und Austausch von Wissen, Regelwerke, Werte und Normen wie auch über gesellschaftliche, kulturelle und ökologische Veränderungen, und nicht zuletzt dokumentieren sie die komplexen Wechselbeziehungen zwischen Mensch und Umwelt sowie deren Folgen. Unser materielles Erbe bildet damit ein bedeutendes, bislang aber noch nicht in seinen Potenzialen ausgeschöpftes Archiv für ein besseres Verständnis unserer Entwicklung und komplexer Zusammenhänge in unserer Welt. 

Will man nun dieses Potenzial erschließen und Daten aus mehr als drei Millionen Jahren nutzen, d.h. die vielfältigen Spuren und materiellen Überreste vergangener menschlicher Aktivitäten, die in Bodenarchiven erhalten oder in Sammlungen aufbewahrt werden, erforschen, braucht es – was wenig überraschend ist – ein breites Methodenspektrum und ein produktives Zusammenspiel unterschiedlicher disziplinärer Zugänge. Der Archäologie kommt in diesem Zusammenspiel eine besondere Rolle zu, da sie seit jeher materielle Zusammenhänge und Prozesse erforscht und dies konsequent in Kooperation mit anderen Disziplinen tut. Zwar lässt sich ein Gebäude in kürzester Zeit mit einem 3D-Scanner dokumentieren, doch erst die genaue Autopsie des Befundes ermöglicht es, Bauphasen zu identifizieren, eine Grundlage für die Rekonstruktion der Baugeschichte zu schaffen, das in dem Bau steckende Know-how sowie den betriebenen Aufwand zu erschließen. Noch deutlicher wird die Bedeutung des Zusammenspiels und der Rolle der Archäologie an folgendem Beispiel: Während die aDNA-Forschung uns Auskunft über Alter, biologisches Geschlecht, Herkunft und Verwandtschaftsbeziehung gibt – kann die Archäologie über die Untersuchung von Objekten und ihren Kontexten z.B. erschließen, welche Regelwerke, Werte und Normen Gemeinschaften zugrunde gelegen haben und wie sich diese veränderten. Die Archäologie erschließt über die Untersuchung materieller Hinterlassenschaften, wie wir als Menschen »ticken«, was uns gemein ist, was uns unterscheidet. Sie arbeitet dafür seit Jahrzehnten in interdisziplinären Zusammenhängen eng verbunden mit spezialisierten Bereichen der Lebens-und Biowissenschaften – Anthropologie, Archäobotanik, Archäozoologie, Archäogenetik, Paläopathologie –, den Geowissenschaften – Geoarchäologie, Geophysik, Geologie, Mineralogie und Petrologie, Physische Geografie, Landschaftsarchäologie, Paläoklimatologie – sowie der Bauforschung, Restaurierung und Konservierung und Archäometrie. Die Archäologie ist also nicht nur Teil des Kanons der Disziplinen, die sich der Erforschung des Menschen widmen, sondern als Brückenbauer zwischen verschiedenen akademischen Disziplinen der Geistes- und Naturwissenschaften die wahrscheinlich interdisziplinärste aller Geisteswissenschaften. 

Aus der Archäologie heraus werden zudem neue Subdisziplinen wie z. B. die Spurenforschung entwickelt, die – in Kombination mit kontrollierten experimentellen Studien – Rückschlüsse auf Nutzungsweisen, die Effizienz und Haltbarkeit von Objekten, wie z. B. eines Werkzeugs ermöglicht. Vergegenwärtigt man sich, dass die Nutzung von Werkzeugen seit Beginn der Menschheitsgeschichte eine wesentliche Grundlage unseres Lebensalltags und unserer Entwicklung ist, wird deutlich, welchen Erkenntniswert diese Objekte haben. Während in den älteren Epochen Artefakte aus lithischen Materialien, Knochen und Geweih zum Einsatz kamen, sind es in den jüngeren Epochen vermehrt Objekte aus Metall. Die systematisierte Untersuchung, Dokumentation und Replikation von Nutzungsspuren und -vorgängen an Werkzeugen ermöglichtes uns, Zusammenhänge zwischen Handlungen und den sie bedingenden Intentionen herzustellen. Konkret bedeutet dies, dass wir über die Spurenforschung nachweisen können, ob ein Werkzeug gezielt modifiziert wurde, um seine Gebrauchseigenschaften zu verbessern, oder ob Veränderungen, die wir bemerken, nur zufällige herstellungsbedingte Variationen sind. Die archäologische Spurenforschung wird so zu einem Schlüssel zum besseren Verständnis unseres Verhaltens und Handelns. 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 10/2022.