M ein Großvater schenkte mir in meiner Kindheit das Buch von Albert Bettex »Welten der Entdecker«. Ich war fasziniert von den abenteuerlichen Forschungsreisen der frühen Geografen: Marco Polo, Alexander von Humboldt, David Livingstone und den vielen anderen. Die Abbildungen in dem Buch haben sich in mir festgebrannt, mich in meinen Träumen verfolgt. Für mich gehörte Heinrich Schliemann immer in diese wunderbare Welt der Entdecker, auch wenn er in Bettex’ Buch nicht vorkam, da er ja kein Geograf, sondern Archäologe war. Mir war es aber immer egal, wie man auf Entdeckungsreise geht. Der eine nahm ein Schiff wie Charles Darwin, die anderen schauten durch ein Mikroskop und entdeckten das Penicillin wie Alexander Fleming, und gerade blicken zahllose Astronominnen und Astronomen mit dem erst vor wenigen Monaten in die Erdumlaufbahn gebrachten »James Webb Space Telescope« in eine uns bisher unbekannte Sternenwelt.  

Wichtig ist, dass man Neues entdecken will. Und wenn einer zu diesen besessenen Entdeckern gehört, die nicht anders können als forschen, dann Heinrich Schliemann. Als Autodidakt hat er sich bis in den Olymp der Archäologie vorgearbeitet. Ich freue mich deshalb sehr, dass der große Entdecker von Troja nun quasi das verbindende Band durch unseren Schwerpunkt zur Archäologie bildet. 

Archäologie, also die »Lehre von den Altertümern«, gehört für mich zu den faszinierendsten Entdeckerwissenschaften. Wenige Wissenschaften sind so vielfältig wie die Archäologie: Archäoastronomie, Archäobotanik, Archäoinformatik, Archäologische Geschlechterforschung, Archäometrie, Archäozoologie, Astroarchäologie, Christliche Archäologie, Experimentelle Archäologie, Geoarchäologie, Gletscherarchäologie, Historische Bauforschung, Industriearchäologie, Kirchenarchäologie, Kognitive Archäologie, Küstenarchäologie, Luftbildarchäologie, Montanarchäologie, Musikarchäologie, Paläoastronomie, Paläopathologie, Primatenarchäologie, Rechtsarchäologie, Schlachtfeldarchäologie, Siedlungsarchäologie, Stadtarchäologie, Textilarchäologie, Trassenarchäologie, Umweltarchäologie, Unterwasserarchäologie und noch vieles mehr.  

Gerade war ich in Stockholm und habe mir die Vasa angeschaut. Das imposante Kriegsschiff sank 1628 vor Stockholm noch auf seiner Jungfernfahrt. Es wurde 333 Jahre nach dem Untergang geborgen und nach aufwendigen Erhaltungsmaßnahmen in einem nur für diesen Zweck gebauten Museum untergebracht. Die Vasa ist das am besten erhaltene Schiff des 17. Jahrhunderts auf der Welt und mit 98 Prozent der Originalteile rekonstruiert worden. Archäologie zum Erleben, zum Staunen, aber auch zum besseren Verstehen. Bei der Vasa kann man aber auch einen Umstand erspüren, der Archäologie zu einer der politischsten Wissenschaften macht. Die Schweden sind sichtbar stolz auf dieses Schiff, das einen Blick auf die Macht des Landes in der damaligen Zeit wirft. 

Und so ist die Archäologie immer auch ein politisches Statement. Überall auf der Welt wird die Archäologie auch missbraucht, um sie für jedwede Ansprüche einzuspannen. Gut, dass sich heute Archäologinnen und Archäologen gegen diese Instrumentalisierung immer öfter zu Wehr setzen. 

Damit die Archäologie weiter entdecken kann, braucht sie Menschen, die sehr viel Wissen mitbringen. Dieses Wissen, das zeigt Heinrich Schliemann deutlich, muss nicht immer an einer Hochschule erworben werden. Aber heute hätte der Autodidakt Schliemann im Wissenschaftsbetrieb wohl keine Chance mehr.  

Heute wird das Wissen an Hochschulen gelehrt: Afrikanistik, Ägyptologie, Albanologie, Alte Geschichte, Altorientalistik, Arabistik, Außereuropäische Geschichte, Baltistik, Byzantinistik, Christliche Archäologie, Indogermanistik, Iranistik, Islamische Kunstgeschichte, Islamwissenschaft, Judaistik, Kanadistik, Kaukasiologie, Keltologie, Klassische Archäologie, Koptologie, Latinistik, Mittelalterarchäologie, Ostasienwissenschaft, Papyrologie, Rumänistik, Sinologie, Ur- und Frühgeschichte, Vorderasiatische Archäologie, das ist eine Auswahl von sogenannten Kleinen Fächern, die an deutschen Hochschulen gelehrt werden. 

Gerne werden diese Fächer als »Exoten« oder als »Orchideen« bezeichnet. Diese Kleinen Fächern sind für die Pflege, Ausdehnung und Weitergabe enormer Wissensbestände verantwortlich und die Archäologie könnte ohne sie nicht betrieben werden. Aber gemessen an dieser Aufgabe verfügen die Hochschulen, die diese Fächer anbieten, nur über eine sehr schwache personelle und infrastrukturelle Ausstattung.  

Die Kleinen Fächer und die von ihnen vertretenen Disziplinen mehr wertzuschätzen, ist Aufgabe von zukunftsweisender Wissenschafts- und Hochschulpolitik. Kleine Fächer sind das Salz in der lauwarmen Hochschulsuppe unserer Tage, ohne sie würde der Universitätsbetrieb seinen inneren Kern verlieren. Und ohne sie würden die »Welten der Entdecker« vertrocknen.  

Deshalb soll dieser Schwerpunkt nicht nur einen Blick in die faszinierende Welt der Archäologie werfen, sondern besonders dafür werben, dass die Orchideen-Fächer endlich von der Politik, aber auch von den in den Hochschulen Verantwortlichen mehr wertgeschätzt werden. 

Doch gerade das beeindruckende Schaffen von Heinrich Schliemann als Archäologe macht deutlich, dass Fleiß und reines Wissen allein nicht zu einem großen Forscher machen, es braucht noch mehr: Fantasie.  

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 10/2022.