Heinrich Schliemann ist seit den späten 1970er Jahren eine Projektionsfläche für einfache Deutungen gewesen. Aus dem beispielhaften Gelehrten, der in dem ganze Generationen prägenden Buch von C.W. Ceram »Götter, Gräber und Gelehrte« so hervorgehoben und als Vorbild hingestellt wurde, ist seit den 1970er Jahren in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit immer stärker der Schatzgräber, der Dieb und der Dilettant geworden.
Es ist leicht, Denkmäler zu stürzen und mit dem Wissen von heute Kritik an den, wie Tilman Krause in seiner Ausstellungsbesprechung in der Welt vom 13. Mai 2022 schrieb, Giganten des 19. Jahrhunderts zu üben. Es ist auch in vielen Fällen berechtigt, das gilt natürlich auch für Heinrich Schliemann. Aber schießen wir Heutigen nicht schnell mit unserer aus bequemer Position geäußerten Kritik über das Ziel hinaus? Verkennen wir nicht die Leistung, die noch heute des Staunens wert ist? Schauen wir uns die drei genannten Zuschreibungen zur Person des Archäologen an:
Der Schatzgräber
Zunächst einmal stimmt diese Zuschreibung zweifellos. Heinrich Schliemann gehört sicher zu den wenigen Archäologinnen und Archäologen, die auch Indiana Jones sprachlos machen könnten. Er entdeckte in seiner archäologischen Schaffensphase von gerade einmal 20 Jahren gleich zwei bis heute einzigartige »goldene« Komplexe: den Schatz des Priamos in Troja und die mit so viel Gold ausgestatteten Schachtgräber in Mykene. Doch ein reiner Schatzgräber hätte nach dem Fund in Troja aufgehört auszugraben. Ein Mehr an Ruhm war für Schliemann auch mit weiteren Funden dort nicht zu erreichen. Dass er trotzdem in Troja weitere Kampagnen durchführte und sogar in seinen letzten Lebensjahren dort noch aktiv war, macht deutlich, dass er viel weitergehende Interessen verfolgte. Schliemann ist schon sehr früh auch an kleinsten keramischen Objekten interessiert, er versteht, gerade bei seinen Grabungen in Griechenland, dass erst der Vergleich von Keramikfunden an verschiedenen Orten datierende Hinweise erbringen kann. Gerade hier wird deutlich, dass er als Pionier der Vorgeschichte in der Ägäis tätig ist, es gab bis zu seinen Grabungen keine Möglichkeiten, vergleichend zu datieren, wie auch: Die Materialität der bronzezeitlichen Kulturen von Mykene und Troja ist bis dahin unbekannt gewesen. Seine Publikationen, die er nahezu nach jeder Grabung unmittelbar vorlegte und die neue Maßstäbe setzten, zeugen von seinem Interesse an jedem Detail, ein Schatzgräber hätte sich mit dem Gold begnügt.
Der Dieb
Zweifellos verstieß Heinrich Schliemann gegen die osmanische Grabungserlaubnis, als er den Schatz des Priamos widerrechtlich aus dem osmanischen Reich nach Athen brachte. Der osmanische Staat verklagte Heinrich Schliemann vor dem griechischen Gericht in Athen. Alle Mittel wurden eingesetzt, Hausdurchsuchungen, Beschlagnahmungen, Reiseverbote. Schließlich endete der Prozess mit einem Vergleich, Schliemann wurde zu einer hohen Geldzahlung verurteilt und überwies für den Bau eines Museums in Konstantinopel gleich das Mehrfache der festgelegten Summe. Damit ist das Verfahren für beide Seiten beendet gewesen und Schliemann erhielt die erneute Erlaubnis für Ausgrabungen in Troja. Es ist eine sehr spannende Frage, was Heinrich Schliemann zu diesem Verstoß gegen die Grabungserlaubnis gebracht hat. Der materielle Gewinn kann es bei diesem so wohlhabenden Mann nicht gewesen sein, schließlich hat er niemals Grabungsfunde verkauft, sondern alle seine Objekte für wissenschaftliche Forschungen und für die Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Vielleicht ist das Bild seiner griechischen Frau Sophia mit goldenem Diadem, Ohrringen und dem Brustschmuck aus dem Schatz des Priamos der Schlüssel zum Verständnis. Schliemann schreibt seiner Frau eine großeRolle bei der Auffindung zu, sie soll dabei gewesen sein und die Funde in ihrem Schal geborgen und fortgebracht haben, was definitiv falsch war, da Sophia zu diesem Zeitpunkt schwanger in Athen weilte. Die Teilnahme der Griechin, die in dem Bild geradezu als die schöne Helena erscheint, macht die tieferen Zusammenhänge deutlich. Der Schatz steht für die direkte Verbindung der damaligen Griechen mit den Zeiten Homers, ein so mit Bedeutung aufgeladener Fund musste wieder zu den Griechen kommen, die sich gerade erst von der osmanischen Herrschaft befreien konnten.
Der Dilettant
Mit einem leichten Grinsen hört man oft den Hinweis, dass Schliemann mit seinen Deutungen völlig überzogen habe. Der Schatz des Priamos sei viel älter und könne niemals dem König Priamos gehört haben. Ja, heute können wir zwar immer noch nicht sagen, ob es den Trojanischen Krieg so gegeben hat und wann er stattgefunden haben könnte. Aber wir wissen dank Schliemanns Ausgrabungen, dass mykenische Keramik, die die angreifenden Griechen auch genutzt haben, deutlich oberhalb der Schicht mit dem Schatz gefunden worden ist. Schliemann ist mithilfe anderer Archäologen noch zu Lebzeiten auf dem Weg zu dieser Erkenntnis gewesen.
Nicht der Trojanische Krieg, sondern erst Schliemann habe, so ein häufig genutztes Bonmot, Troja zerstört. Damit wird auf den großen Graben angespielt, mit dem Schliemann den Hügel von Troja in zwei Hälften teilte. Ja, so würde heute niemand ausgraben, aber ein Suchschnitt würde heute auch noch angelegt werden. Schliemann ist der Erste, der sich einen prähistorischen Siedlungshügel vornahm, er machte am Anfang viele Fehler, am Ende seiner Lebenszeit hat er unter Hinzuziehung sachverständiger Kollegen das Verständnis für die Schichtenfolge, die Stratigraphie, entwickelt, und bis heute sind die damals getroffenen grundlegenden Einteilungen gültig.
Dieser Blick auf die vorschnellen Urteile zu Schliemann zeigt, dass wir allen Grund haben, uns mit diesem Forscher zu beschäftigen. In der heutigen, durch strenge Ausbildungswege gekennzeichneten archäologischen Welt ist er eine Provokation. Wie kann ein Privatier mit eigenem Geld ohne Förderprogramme oder staatliche Mittel einfach so ein Fach grundlegend umkrempeln? Was ist die Grundlage für diese enorme Schaffenskraft und diese Rastlosigkeit? Wie würden wir heute mit einer solchen von außerhalb des Faches kommenden Tatkraft umgehen? Zweifellos hat sich die Welt enorm geändert. Giganten wie Rudolf Virchow konnten gleich mehrere Disziplinen prägen und den Menschen in seiner Gesamtheit mit medizinischer Forschung, ethnologischen Vergleichen und archäologischen Erkenntnissen in den Blick nehmen. Sie waren von Wissensdurst angetrieben und kümmerten sich um kleinste Gegenstände, nicht nur um Gold und Kunstwerke. So sind die archäobotanischen Proben, die verkohlten Getreidekörner, die Rudolf Virchow zusammen mit Heinrich Schliemann einsammelte und die noch heute in der von Heinrich Schliemann geschenkten Berliner Sammlung »Trojanischer Altertümer« verwahrt werden, die vielleicht eindrucksvollsten Zeugnisse dieser von Forschungsgeist und Wissensdurst angetriebenen Epoche.