Kolumbien ist aus dem Windschatten globaler Politik herausgetreten und erlebt zugleich wichtige Schritte zur Friedenskonsolidierung. Noch im Sommer 2016 wurde Kolumbien laut UNHCR als das Land mit den meisten Fluchtbewegungen weltweit eingestuft. 6,9 Millionen Menschen befanden sich auf der Flucht, vor allem durch Binnenwanderung, ausgelöst durch den bewaffneten Konflikt von Guerilla, paramilitärischen Gruppen, kriminellen Banden, teils forciert durch den Drogenhandel.

Im Juni 2022 wurde in Kolumbien mit Gustavo Petro ein linksgerichteter Präsident, der vormals selbst Mitglied einer Guerillagruppe war, gewählt. Petros erklärtes Ziel ist es, das durch bewaffnete Gruppierungen, soziale Ungleichheit und alltägliche Korruption gebeutelte Land zu reformieren und über Einigung mit den verbliebenen kleineren Guerillas und bewaffneten Banden einen »vollständigen Frieden«, auf Spanisch »Paz Total«, zu erreichen.

Dieser Friedensprozess wird nicht nur politisch und sozial gestaltet, sondern auch – und das nicht nur nebenbei – durch kulturelle und künstlerische Initiativen. So gilt ein Schwerpunkt der Erinnerungsarbeit und der künstlerischen Aufarbeitung von gesellschaftlichen Prozessen. Erinnerungsorte wie anonyme Massengräber werden ins Bewusstsein gebracht, Zeitzeugen äußern sich in Gesprächsreihen in Dialogform zu den gewalttätigen Auseinandersetzungen und deren Bewältigung. Die Interviews sind durch ihren Performance-Charakter sehr wirkungsvoll und über eine interaktive Plattform öffentlich zugänglich. Außerdem ist das Zeitzeugenmaterial in den Bericht der Wahrheitskommission eingeflossen.

Die kolumbianische Kunstorganisation Más Arte Más Acción wurde vom indonesischen Kollektiv ruangrupa ausgewählt, um als Teil des »lumbung-Netzwerkes« an der documenta 2022 in Kassel teilzunehmen. Schwerpunkt des Programms waren zivilgesellschaftlich-künstlerische Prozesse sowie die Vorstellung des Abschlussberichts der Wahrheitskommission. Einen wichtigen Beitrag zum Aussöhnungsprozess des Landes leistet auch das Theater Mapa Teatro. Seit der Gründung spiegeln seine Stücke immer auch die gesellschaftspolitische Situation Kolumbiens und des Subkontinents wider. 2018 hatten die Leiter Heidi und Rolf Abderhalden die Goethe-Medaille unter dem Motto »Leben nach der Katastrophe« erhalten. Nach dem Abzug bewaffneter Gruppen aus ländlichen Gebieten und den schwer zugänglichen Amazonasregionen wurden die Schäden von Fauna und Flora der letzten Jahre sichtbar. Durch ein eigenes Mentorenprogramm werden die Aufarbeitungsprozesse indigener und afrokolumbianischer Gemeinschaften begleitet. Eine der Mentorinnen ist die kolumbianische Kulturlandschaftsökologin Brigitte Baptiste. Fotos des brasilianischen Fotografen Sebastião Salgado zeigen die geschundene Umwelt, aber auch die Schönheit der Natur und in Porträts die entwurzelten Menschen.

Die Bibliotheken in Kolumbien tragen als Räume zur Verbreitung von Kunst und kritischem Wissen in besonderer Weise zum Ziel des dauerhaften Friedens bei. Bogotá hat ein beispielhaftes Netz von öffentlichen Bibliotheken, darunter architektonische Juwelen, vor allem im armen Süden der Stadt, die ein Kriterium waren für die Auszeichnung Bogotás mit dem Goldenen Löwen auf der Architekturbiennale in Venedig 2006. Das Bibliotheksnetz in Bogotá umfasst derzeit 128 Leseorte, darunter auch Fahrbibliotheken. Die Nationalbibliothek von Kolumbien hat beispielsweise die Verbreitung des Friedensabkommens, der Erinnerung an den Konflikt und des Berichts der Wahrheitskommission im gesamten Land durch didaktische, literarische und kritische Aktivitäten gefördert.

Die Buchmesse in Bogotá verzeichnete 2023 eine Rekordzahl von 600.000 Besucherinnen und Besuchern. Regionale und lokale Messen in Medellín, Cali und Barranquilla oder literarische Veranstaltungen wie das »Hay Festival Cartagena« zeigen das Interesse und die Bedeutung der Schriftkultur für das Land. Die kolumbianische Literatur hatte mit Gabriel García Márquez oder Marvel Moreno große Namen der Weltliteratur. Sie erlebt aber erneut einen Boom mit international beachteten Autoren, die die heutige Situation der Drogenkriege, der Auftragsmorde und der literarischen Aufarbeitung der aktuellen gesellschaftlichen Prozesse zum Inhalt haben. Jorge Franco, Pedro Badrán, Mario Mendoza und Juan Gabriel Vásquez sind besonders auch bei den jungen Lesern sehr populär. Eine starke Verlagsindustrie mit unabhängigen Verlegerinnen und Verlegern wie Giuseppe Caputo, Pilar Quintana und Tomás González finden in der hispanoamerikanischen Welt wachsende Anerkennung und erreichen auch das Interesse von Übersetzungen in andere Sprachen.

Zu Deutschland bestehen langfristige Beziehungen im kulturellen Bereich. Das Goethe-Institut in Bogotá wurde vor 67 Jahren eröffnet. Seitdem haben unzählbar viele Programme den deutsch-kolumbianischen Dialog beflügelt. Der Sprachkursbereich hatte durch seine innovativen Formate beeindruckende Zahlen von Kursteilnehmerinnen und -teilnehmern. Aber auch die Bereitschaft, sich aktiv an den gesellschaftspolitischen Prozessen zu beteiligen, hat dem Institut große Anerkennung und Sympathie verschafft. Das betraf Themen wie Opferentschädigung, Versöhnung, Frieden oder Erinnerungskultur. Es ist auch jetzt wieder engagiert bei den Mentorenprogrammen, der Presse- und Meinungsfreiheit und den Fachkräfteprogrammen. Das Thema Fachkräftegewinnung spielt aktuell aufgrund des neuen Einwanderungsgesetzes in Deutschland eine besondere Rolle. Hier kann auf der bisherigen Spracharbeit und Vorintegration aufgebaut werden. Aber auch das Interesse an grünem, in Kolumbien produziertem Wasserstoff ist deutlich ins Blickfeld deutscher Politik gerückt. Im Juni 2023 hat Außenministerin Annalena Baerbock Kolumbien besucht, um die neuen Kooperationsfelder zu besprechen. Im Rahmen dieses Besuches hat sie der Vizepräsidentin Francia Márquez den UNIDAS-Preis in Cali überreicht – ein Preis des deutsch-lateinamerikanischen Frauennetzwerkes, dessen Schirmherrin sie ist.

Ein weiterer aktueller Bezug war die Rückgabe zweier Masken an die Gemeinschaft der Kogi durch das Ethnologische Museum Berlin an den kolumbianischen Präsidenten Gustavo Petro anlässlich seines Deutschlandbesuches am 16. Juni 2023 im Beisein des Bundespräsidenten. Frank-Walter Steinmeier hatte die Kogi 2015 und 2017 in der Sierra Nevada selbst besucht. Die Masken waren 1915 im Rahmen einer Forschungsreise des damaligen Direktors des Völkerkundemuseums erworben worden. Da es sich um Objekte mit rituellem Bezug und auch heute noch großer sakraler Bedeutung für die Kogi handelt, hat sich die Stiftung Preußischer Kulturbesitz zur Rückgabe entschlossen. Der Komplex Provenienz der afrokolumbianischen und indigenen Bevölkerung in Kolumbien wird ein wichtiges Arbeitsfeld bleiben.

Der 250. Geburtstag von Alexander von Humboldt und dessen Lateinamerikareise vor 220 Jahren waren 2019 Anlass, die langen und engen Beziehungen zwischen Deutschland und Kolumbien zu würdigen und ihnen einen neuen Impuls zu geben, sowohl bei den kulturellen Beziehungen als auch bei den Zukunftsthemen wie Klimawandel, Ökologie und Zivilgesellschaft.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2023.