Über Jahrhunderte dominierte auf dem Gebiet des heutigen Usbekistan, dem Herzen der Seidenstraße, nur eine Wohntypologie: die Lehmhütte in der Mahalla. Als das russische Reich Turkestan in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kolonisierte, führten die neuen Macht haber den gebrannten Ziegel als Standard für Baukonstruktionen ein. Noch radikaler war der Wohnungsbau in der Sowjetunion: Die Plattenbauweise veränderte ganze Landschaften und Städte. In Taschkent wurde diese Dominanz des Betons befeuert durch einen radikalen Umbau zu einer sowjetischen Musterstadt. Dies erfolgte nach einem Erdbeben, das 1966 über 300.000 Menschen obdachlos machte. Weil die nichtrussischen Geschichtsbücher das Wort »rekonstrukzija« fälschlicherweise mit »Rekonstruktion« übersetzten, verklärt sich die Stadthistorie bis heute. Denn der Begriff bedeutet weit mehr als einen Wiederaufbau. Der »Umbau« (russ.: rekonstrukzija) bezeichnet vor allem eine in der Spätmoderne verfolgte Stadtentwicklungspolitik, bei der über Generationen gewachsene Stadtviertel aus dem Plan radiert und durch anonyme Neubaugebiete ersetzt wurden. Diese Strategie existierte in beiden konkurrierenden Systemen, in Ost und West. Der entscheidende Unterschied war allerdings, dass der Staat in sozialistischen Ländern das Monopol zur Planung und Umsetzung sowie alleinigen Zugriff auf Grund und Boden innehatte. Während an westlichen Universitäten das Fach Stadtsoziologie erblühte und sich als Kritik an Flächensanierung und Großsiedlung etablierte, suggerierte die kommunistische Propaganda den vielgeschossigen Wohnungsbau als alleinige Alternative zum traditionell gewachsenen Altstadtquartier. Als die UdSSR 1991 in 15 Einzelstaaten zerbrach, lebten drei Viertel der damals zwei Millionen Taschkenter in seriellen Wohnbauten.

Diversifizierung des Wohnungsbaus

Lange dauerte es, bis sich die Architekten in der usbekischen Hauptstadt von dem baukonstruktiven Diktat der Betonplatte emanzipiert hatten. Durch die Privatisierung des staatlichen Wohnungsbestands in den frühen Neunzigerjahren konnte sich kein dynamischer Immobilienmarkt wie in westlichen Staaten entwickeln. Die Bewohner sind zwar Eigentümer der eigenen Wohnung, haben aber keinen Anteil am Grundstück, den sie beispielsweise zur Aufnahme einer Hypothek als Sicherheit hinterlegen könnten. Dieses Schicksal teilt Usbekistan mit anderen ehemaligen Sowjetrepubliken wie etwa mit der Ukraine, wo die internationale Gemeinschaft seit Kriegsbeginn nicht nur Strategien für den tatsächlichen Wiederaufbau zerstörter Häuser, sondern auch für den wohnungswirtschaftlichen Umbau des Einzeleigentums in Gemeinschaftseigentum entwickelt.

Im Gegensatz zur Ukraine verfügt Usbekistan neben dem sowjetischen Wohnungsbestand aber noch über ein weiteres baukulturelles Erbe: verwinkelte Altstadtviertel mit ein- bis zweigeschossigen Strukturen und über Generationen gewachsen. Doch diese Inseln des sozialen Zusammenhalts sind bedroht. Schon seit der Sowjetzeit müssen sie Neubauten weichen, zunächst den seriellen Plattenbauten, heute den rasant wachsenden Wohnkomplexen mit bis zu 16 und mehr Geschossen. Seit Shavkat Mirziyoyev 2016 in Usbekistan die Präsidentschaft seines Langzeit-Vorgängers Islam Karimow übernommen hat, boomen die Immobilienprojekte in Taschkent. Überall in den orientalischen Nachbarschaften nagen die Baustellen der neuen Wohnkomplexe an den Mahallas und zerstören nicht nur vernakuläre Bausubstanz, sondern vor allem auch Sozialstrukturen. Unter dem Deckmantel des privatisierten Wohnungsmarkts bedienen die Projektentwickler eine zunehmende Nachfrage in der inzwischen drei Millionen Bewohner zählenden Metropole, die nach Plänen des Präsidenten binnen einer Generation ihre Bevölkerung um weitere zwei Millionen steigern soll. Ambitionierte Pläne für Neu-Taschkent sind derzeit in Arbeit. Hinter verschlossenen Türen arbeiten seit Sommer 2023 die Teams von Foster and Partners (London), OMA (Rotterdam) und Meinhardt (Singapur). Im Südosten Taschkents sollen rund um den zweiten innerstädtischen Flughafen 20.000 Hektar klimaneutral als Smart City neu bebaut werden.

Neue Wohntypologien

Wer heute durch die Stadt läuft, macht überraschende Entdeckungen. Das Wohnungsangebot auf dem Immobilienmarkt ist weitaus diversifizierter als noch vor zehn Jahren. Die rege Bautätigkeit in Taschkent hat in den vergangenen Jahren neue Wohntypologien entstehen lassen oder altbewährte neu interpretiert. Sie bedienen zwar nur das Luxussegment, tragen aber dazu bei, dass Taschkent international wieder als ein Ort für experimentelle Architektur entdeckt wird. Auf den ersten Blick wenig spektakulär mögen mehrgeschossige Wohnbauten wirken, die nach wie vor die wichtigste Typologie geblieben sind. Doch im Gegensatz zu den standardisierten Wohnungsbauserien aus den Sechziger- bis Achtzigerjahren, etwa die Serien 1-T SP, UZ-500 oder 148, planen die Architekten heute individuelle Grundrisse samt ikonischer Fassaden. Ein junges Büro mit dem programmatischen deutschen Namen DER PLATTENBAU hat seit 2020 zahlreiche industriell vorgefertigte Wohnkomplexe gebaut, die teilweise dem Massenwohnungsbau der späten Sowjetzeit entsprechen. Aber im Portfolio befindet sich auch der Wohnkomplex Nur an der vielbefahrenen Abdulla Kadiri ko’chasi. Dem Trend des usbekischen Immobilienmarkts folgend, haben die Architekten Raisa Doroshina und Anwar Kamalitdinov die einfachen Fassaden der Blockteile in futuristische Volumen verwandelt. Die Balkone, die das Gebäude umhüllen, sind das wichtigste formgebende Element. Das polygonale Design der in jedem Geschoss unterschiedlich dimensionierten Balkonplatten wirft Schatten und verändert seine Gestalt während des Tageslichts. Der Komplex besteht aus drei Gebäuden, die zwischen 9 und 16 Geschosse zählen. Fertiggestellt wurde er im vergangenen Jahr mit Betonelementen, die ein neu gebautes Plattenbauwerk im Süden Taschkents produzierte. Ausgestattet ist das DSK Binokor mit Produktionsanlagen des baden-württembergischen Maschinenbauers Vollert.

Ebenfalls mit einer polygonal geformten Fassade macht das Wohnhaus Do’stlar auf sich aufmerksam. Bei diesem achtgeschossigen Gebäude im innerstädtischen Quartier Z-5 mit seiner dreidimensionalen Schachbrettfassade handelt es sich um das architektonisch markanteste Wohnhaus, das in Taschkent seit der Unabhängigkeit entstanden ist. Was diesen Dreisektionsbau des Architekten Bahrom Muzaffarov so besonders macht, ist seine kubistische Fassade, die luxuriöse Eigenschaft, dass alle 48 Wohnungen durchgesteckt sind, also Tageslicht aus zwei gegenüberliegenden Himmelsrichtungen erhalten, und um einen gemeinschaftlich zu nutzenden Dachgarten erweitert sind. Die Stahlbetonskelettkonstruktion ist mit Hohlblockziegeln ausgefacht. Die Erker, die wie ein versetztes Band um das gesamte Gebäude laufen, weisen einen Winkel von 37 Grad auf, der eine brandschutzzulässige Balkontiefe von 1,45 Meter erlaubt. Der Name »Do’stlar« bedeutet in der usbekischen Sprache »Freunde« und bildet die Bewohnerstruktur ab. Denn für diese 2019 eröffnete homogen belegte Wohnanlage hatte der Investor – einer Baugruppe vergleichbar – sein soziales Netzwerk aktiviert.

Hoch hinaus und auf dem Boden geblieben

Seit dem Erfolg des Do’stlar-Gebäudes hat sich der Projektentwickler zu einem der wichtigsten Akteure auf dem usbekischen Immobilienmarkt gemausert. Die von Murad Buildings entwickelte und Ende 2023 eingeweihte Immobilie »NestOne« beansprucht gleich mehrere Superlative: Sie ist der erste Wolkenkratzer in Usbekistan, das höchste Wohngebäude und zugleich das zweithöchste Hochhaus in Zentralasien überhaupt. Als Planer verantwortete die türkische Firma Özgüven Architecture den Entwurf. Der Komplex besteht aus drei Blöcken mit 7 bis 20 Geschossen für Geschäftsräume und zwei Blöcken mit 23 und 51 Geschossen für Wohnungen. Der zentrale Turm ist 267 Meter hoch. Das Projekt ist als eine Stadt in der Stadt konzipiert, die hochwertige Wohnungen, Büros und öffentlich nutzbare Räume vereint: Geschäfte, Restaurants, Spielplätze, Wintergarten, Erholungs- und Sportbereiche. In der 48. und in der 52. Etage befinden sich Aussichtsterrassen und ein Restaurant, von denen aus man einen atemberaubenden Blick auf Taschkent und die Ausläufer des Tienschan-Gebirges genießen kann. Das Großprojekt ist jedoch auch aufgrund anderer Aspekte wegweisend. Wegen des Erdbebenrisikos in der Nähe der zentralasiatischen Bergregionen und des weichen Bodens in Taschkent galt lange Zeit so etwas wie ein Wolkenkratzer-Tabu in der usbekischen Hauptstadt. Die sowjetischen Behörden stellten hohe Anforderungen an das Bauen in seismisch aktiven Zonen in der gesamten UdSSR. Die Städte blieben hinsichtlich ihrer Bebauungsstruktur niedrig. Für die Planung eines über 200 Meter hohen Turms mussten daher neue Richtlinien erlassen werden, die die Behörden auch in Usbekistan nicht über Nacht genehmigen. Ohne die Flexibilität auf Planer- und Behördenseite, die Planung, Genehmigung und Ausführung parallel in einem laufenden kooperativen Verfahren ermöglichte, hätte dieser erste wirkliche Wolkenkratzer in Usbekistan wohl kaum errichtet werden können. Das Gebäude wurde so konstruiert, dass es sogar Erdbeben der Stärke 9 der Richterskala standhalten kann.

Im Maßstabsvergleich zu NestOne in Tashkent City wirken die fünf Stadthäuser in der Bog’tepa 5-do’kon wie ein Puppenhaus. Die aus Buchara stammenden Architekten haben die traditionelle Mahalla neu interpretiert und Aufmerksamkeit erlangt. Der Blogger Alexander Fedorov etwa kommt zu der Einschätzung: »Während die traditionelle Wohnarchitektur in Usbekistan niedriggeschossig bleibt, gelingt es Bobir Klychev und Farrukh Shadmanov, sich mit der Viergeschossigkeit an urbane Bedingungen anzupassen.« Auf dem Grundstück sind fünf Häuser kompakt angeordnet, von denen jedes zwei Varianten des Grundrisses mit wechselnder Anordnung aufweist. Der Entwurf berücksichtigt klimatische Besonderheiten, wie etwa die hiesigen heißen Sommer. Die Fassade des Hauses und die Haupträume sind auf der Nordseite zum Hof ausgerichtet, sodass die großen Fenster vor direkter Sonneneinstrahlung geschützt sind. Auf der Südseite – zur Straße hin – befinden sich schmale, von Mauerwerk umschlossene Fenster, die als Sonnenschutz dienen und Sichtschutz sowie Sicherheit bieten.

Die Stadthäuser sind neben dem Do’stlar-Gebäude ein Geheimtipp für innovativen Wohnungsbau in Taschkent. Beiden Projekten ist gemein, dass es den Architekten gelungen ist, traditionelle Wohnformen ins 21. Jahrhundert zu übertragen – ohne internationalen Vorbildern nachzueifern. Ein Manko bleibt jedoch, dass die baukulturelle Szene in Usbekistan noch zu sehr von staatlichen Akteuren dominiert wird, sodass unabhängige Stimmen in einer so wichtigen Debatte über das zeitgenössische Bauen marginalisiert werden. Allerdings organisiert sich die Zivilgesellschaft zunehmend in den sozialen Netzwerken und verschafft sich dort ein Publikum. Hinzu kommen freiberufliche Stadtführer, die teilweise bei Facebook oder Instagram über Fangemeinden in fünfstelliger Zahl verfügen. Sie tragen wesentlich dazu bei, dass auch alternative Interpretationen der Architektur in Taschkent Gehör finden.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 4/2024.