Beirut ist eine geschundene Stadt. Noch immer steht uns die verheerende Explosion von fast 3.000 Tonnen Ammoniumnitrat im Beiruter Hafen von August 2020 vor Augen, bei der über 200 Menschen getötet und große Teile der Stadt verwüstet wurden. Darunter auch das berühmte Sursock-Museum, Libanons älteste unabhängige Kultureinrichtung. Nach knapp drei Jahren konnte das Museum jetzt wieder öffnen, nach intensiven Restaurierungsarbeiten, unterstützt von Frankreich, Italien und der UNESCO mit mehr als 3 Millionen US-Dollar. Es ist ein Wunder und ein Zeichen der Hoffnung in einem langen Niedergang von politischer und wirtschaftlicher Dauerkrise. Das Sursock-Museum war seit Jahrzehnten ein Anker für die Kulturszene. In den 1960er Jahren fand jährlich eine offene Ausstellung mit Werken von im Libanon lebenden und arbeitenden Künstlern statt, die zeigte, welch bedeutendes Zen trum für Kunst die libanesische Hauptstadt ist. »Es ist ein wunderschöner Moment der Heilung für diejenigen, die miterlebt haben, wie dieses Museum zerstört wurde. Es ist ein Symbol für Beirut und für den Fort bestand des kulturellen Lebens«, sagte die Direktorin Karina El Helou.

Kunst und Kultur haben für den Libanon eine zentrale Bedeutung, deshalb ist auch die zeitgenössische Kunst so wichtig für die Gesellschaft. Wegen der vielen nationalen und religiösen Identitäten scheint es aber kaum eine Gemeinsamkeit zu geben, die den Libanon zusammenhält. Da sind zum einen die tiefen historischen Wurzeln der Phönizier, Osmanen und Araber. Das Land hat heute offiziell 18 anerkannte Religionen und jede dazugehörige Gruppe prägt ihr eigenes Narrativ. Mindestens jeder Fünfte im Libanon ist heute ein syrischer Flüchtling. Das Misstrauen ist groß, die Machtbalance äußerst fragil. Die religiösen Identitäten sind mehr als eine Gruppenbildung. Sie sind als Konfessionalismus eine fest gefügte Staatsform, die den Machthabern ihre Macht sichert. Das gesamte staatliche Gebilde beruht mit dem Abkommen von Taif 1989 auf den im Bürgerkrieg herausgearbeiteten konfessionellen Machtverhältnissen. Um das Gemeinwohl des Libanon haben sich die verantwortlichen Akteure wenig gekümmert. Nach Beendigung des Bürgerkriegs gab es für alle Kriegsherren eine Generalamnestie und sie fanden Zugang in staatliche Positionen. Es herrschte so etwas wie Straflosigkeit in den Folgejahren für Attentate und kriminelle Machenschaften. Auch die Schuldigen für die Explosion sind noch nicht gefunden. Die Bürger dürfen viel, aber sie dürfen die Machtverhältnisse nicht infrage stellen, also über die Schuld sprechen. Die Vergangenheit bleibt offiziell in weiten Teilen unaufgearbeitet.

Die Geschichte des heutigen Libanon ist eine Geschichte mit unendlich vielen Untergeschichten. Unter diesen Umständen ist es nicht verwunderlich, dass es bis heute in den Schulen kein libanesisches Geschichtsbuch gibt, das die Geschichte des Libanon seit der Unabhängigkeit von Frankreich 1943 bis heute dokumentiert. Zeitgenössische Kunst, wie sie die Krisen, Konflikte der Gegenwart in Bildern analysiert, wird heute maßgeblich von libanesischen Künstlern eingesetzt, um die » Blocklogik« zu sprengen und geschichtliche Zusammenhänge herzustellen. Sie schaffen Zugänge zur Geschichte. Erfahrungen von Flucht, Lager, Exil, Verarmung, libanesischer Bürgerkrieg, Massaker, fragile Städte sind die Themen. Wenn Künstler sich zum Bürgerkrieg äußern, dann in persönlichen Schicksalen und Erfahrungen. Natürlich ist das dann auch der Vorteil kultureller Formate, die künstlerisch darstellen können, was wissenschaftlich oder gesellschaftlich nicht offiziell aufgearbeitet werden darf. Kunst hat eine enorme Verantwortung bei der Bildung von Narrativen wahrgenommen und besonders die junge Generation orientiert sich daran. Die unabhängige Kunstszene im Libanon ist überproportional groß und international bedeutend. Trotzdem ist zu bedenken, dass Kunst in diesem Kontext selten »unschuldig« ist. Sie wird zur Deutungshoheit von z. B. historischen Ereignissen von allen Lagern eingesetzt. So hat nahezu jedes politische Lager seine eigene kulturelle Infrastruktur – Museen, Kulturzentren usw.

Zwei herausragende Beispiele für die Rolle der Kunst als Fundus der Erinnerung sind zwei umfangreiche Archive – die »Arab Image Foundation«, eine unabhängige Institution mit modernen Nutzungsmöglichkeiten von etwa 500.000 Fotos, Bildern und Dokumenten, zusammengestellt von Künstlern und Wissenschaftlern in den letzten 25 Jahren, und »UMAM D&R« informiert über die Zukunft durch umfangreiche Sammlungen zur Geschichte des Libanon: Dokumente, Bücher, Filme, Magazine, Zeitungen usw. UMAM ist zugänglich für jedermann mit spezifischem Interesse, es initiiert eigene Veranstaltungen und es konzentriert sich darüber hinaus auf Vermittlungsaspekte, durch Kunst neue Zielgruppen zu erreichen und offene Lern- und Kooperationsgemeinschaften zur Erinnerungskultur zu bilden. Der Wiederentdeckung dieser Stadt der Künste war eine grandiose Ausstellung 2022 im Gropius Bau in Berlin gewidmet, »Beirut and the Golden Sixties«, kuratiert von Sam Bardaouil und Till Fellrath, den jetzigen Direktoren des Hamburger Bahnhofs, Museum für zeitgenössische Kunst, in Berlin. Deutlich wurde die unglaublich produktive Epoche Beiruts über drei Jahrzehnte seit der Unabhängigkeit 1943, insbesondere die 1960er Jahre mit der freien und kreativen Kunst- und Literaturszene, dann der Absturz durch den 15 Jahre dauernden Bürgerkrieg ab 1975, der gekennzeichnet war durch die zunehmende Politisierung und Ideologisierung der Kunst, durch grauenvolle Themen des Krieges und des Leidens, aber auch der Utopien. Die Explosion im Hafen 2020 setzte dann den Schlusspunkt. Die Ausstellung vermittelte real die Bedeutung der Beiruter Kunstszene. Zugleich hatte sie auch eine symbolische Bedeutung. Viele der Künstler leben inzwischen im Ausland. Die existenzbedrohenden Krisen, die kriegerischen Auseinandersetzungen und der wirtschaftliche Zusammenbruch lösten einen permanenten Exodus aus. Die libanesische Kunstszene lebt noch, aber immer weniger im Libanon. Viele der emigrierten Künstler leben in Berlin, eine kulturelle Diaspora ist hier entstanden.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 7-8/2023.