Astana ist binnen einer Generation zu einer Millionenmetropole in der kasachischen Steppe angewachsen. Möglich gemacht hat das ein autoritäres Staatsmodell, das mit einer Mischung aus Neoliberalismus und Neosozialismus ein beispielloses Tempo in der Stadtentwicklung vorgibt. Schon immer ist der Ort ein Spielball imperialistischer und autokratischer Politik. Seit 1961 hat das ursprünglich von russischen Truppen gegründete Militärlager fünf Mal seinen Namen geändert. Erinnerte der frühere IATA-Code TSE an die 30-jährige Periode, als die Stadt in Südsibirien »Tselinograd« hieß, so erinnert das heutige Kürzel NQZ an ein dreijähriges Intermezzo, als Astana zu Ehren seines ersten Präsidenten von 2019 bis 2022 »Nur-Sultan« genannt wurde. Wer offizielle Vertreter Kasachstans auf dieses Namens-Wirrwarr ansprach, erhielt als Antwort den einstudierten Vergleich mit der US-amerikanischen Hauptstadt Washington und ihrem gleichlautenden ersten Präsidenten. Astana hat davon profitiert, dass Kasachstan seit den 1990er Jahren zu einem wichtigen Lieferanten fossiler Energie aufgestiegen ist und aus dessen Verkauf den größten Teil seines Staatshaushalts finanziert. Die Stadt hat – unabhängig von der architektonischen Qualität seiner Bauten – dazu beigetragen, dem Staat ein Gesicht zu geben.

 

Prototyp der Eurasischen Stadt

Kasachstan ist ein Vielvölkerstaat zwischen Europa und China. Die heutigen Grenzen sind das Ergebnis einer kolonialen Planung Moskaus, die die umherziehende Steppenbevölkerung zu vorbildlichen Sowjetmenschen umerziehen wollte. Was an baulicher Infrastruktur entstand, war russisch geprägt: gesichtslose Plattenbauten und sowjetmoderne Infrastruktur zweiter Klasse – anderenorts wie in Taschkent oder Bischkek weit ambitionierter realisiert. Die Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Architektur in Kasachstan wirft deshalb unweigerlich Fragen auf: Welchen Beitrag kann ein junger Staat mit ursprünglich nomadischer Kultur zur Architekturgeschichte des 21. Jahrhunderts leisten? Wie kann der Prototyp einer kasachischen Stadt aussehen, wenn vorherige Generationen außer Grabmälern und Sakralbauten kaum bauliche Relikte hinterlassen haben? Inwieweit belegt das Planen und Bauen im autokratisch regierten Kasachstan die These, dass großmaßstäbliche Projekte kurzfristig nur in politischen Systemen umgesetzt werden können, die das westliche Demokratieverständnis ignorieren?

Um Antworten zu erhalten, lohnt der detaillierte Blick auf Astana und seine Geschichte von einem Vierteljahrhundert. Im Jahr 1997 hatte das Parlament den Hauptstadtumzug vom südlichen Almaty in den Norden des Landes beschlossen. Im Jahr 2017 war Astana Gastgeber der Weltausstellung. Damit ergab sich 20 Jahre nach der Ernennung zur Hauptstadt der Republik Kasachstan die Gelegenheit, der internationalen Gemeinschaft die kasachische Interpretation einer Stadt des 21. Jahrhunderts zu präsentieren. Für dieses globale Medienereignis ließ der damalige Staatspräsident Nursultan Nasarbajew seine Kapitale herausputzen. Vom Japaner Kisho Kurokawa ließ er einen Masterplan für eine metabolisch wachsende Stadt erstellen. Und Astana wuchs rasant. Die Expo stellte für die Nationenbildung zwischen Sibirien und dem Syrdarja einen vorläufigen Höhepunkt dar. Zwei Jahre später dankte Nasarbajew als Staatspräsident ab.

Einen wesentlichen Anteil an dieser neuen Identität hat bis heute die Architektur der Hauptstadt, die allgegenwärtig nicht nur den öffentlichen Stadtraum bestimmt, sondern längst zu einem Symbol der präsidialen Macht Nasarbajews in der Steppenrepublik avanciert ist. Kaum eines der allgegenwärtigen Präsidentenporträts, die in der Tradition europäischer Hofmalerei als Auftragsarbeiten angefertigt wurden, verzichtete auf die bildgewaltige Darstellung zeitgenössischer kasachischer Architektur. Die ikonischen Bauten haben einen hohen Wiedererkennungswert, schmücken Schokoladenverpackungen oder sind Thema in Kinder- und Schulbüchern. Eine besondere Rolle in der Bildpropaganda spielen die Neubauten Astanas, allen voran der Baiterek-Turm, der von Nasarbajew persönlich skizziert worden sein soll. Überhaupt zeigt die Verquickung von Baukunst und Staatsmacht deutliche Parallelen zu politischen Modellen, in denen sich ein Führer der Nation durch bauliche Tatsachen ein Denkmal für die nächsten Generationen schafft. Darin unterscheidet sich Nasarbajews Reich nicht von den benachbarten Republiken Turkmenistan und Usbekistan. Nasarbajews Nachfolger, der ehemalige Diplomat Qassym-Schomart Toqajew, trat 2019 ein schweres Erbe an. Die Planung und der Umbau des sowjetischen Akmolinsk zu einem kasachischen Astana wird immer mit Nasarbajew verbunden bleiben. Einen politisch folgenschweren Fehler beging Toqajew im Januar 2022, als er russische Truppen einen Monat vor deren Einmarsch in der Ukraine ermächtigte, scharf auf Demonstranten in Almaty zu schießen und dort über 150 Tote in Kauf nahm.

 

Hauptstadtplanung als Wirtschaftsmotor

Kasachstan, eine Generation nach der Unabhängigkeit – das bedeutet ein Land, das sich wie seine zentralasiatischen Nachbarn noch immer in einem Transformationsprozess befindet. Der Wandel umfasst den Umbau einer gesamten Gesellschaft auf dem Weg von eurem 150 Jahre lang fremdbestimmten und nicht sesshaften Volk zu einem emanzipierten Staatsgebilde auf dem internationalen Parkett. Diese soziokulturelle und politische Neuorientierung wird begleitet von einem deutlich veränderten Erscheinungsbild der Städte, bei dem die Architektur zum zentralen Symbol der Modernisierung avanciert. Überraschenderweise hat sich diese architektonische Renaissance bislang weitgehend ohne einen internationalen Diskurs über die Typologie der Eurasischen Stadt vollzogen. Wenn es also gelingen soll, Kasachstan in den internationalen Kontext des Planens und Bauens einzubinden und damit über die Fachöffentlichkeit hinaus einen weißen Fleck auf der Landkarte zu füllen, muss eine Debatte über diese neue Stadttypologie geführt werden, die sich von Minsk im Westen und Jekaterinburg im Norden, Aschgabat im Süden und Krasnojarsk im Osten erstreckt – auch wenn sich das aufgrund des russischen Angriffskriegs derzeit politisch unkorrekt anfühlt.

Laut Kurokawa unterscheide sich Astana, wie er in einem Interview 2001 betonte, ohnehin von den bis heute umstrittenen Hauptstadtplanungen des vergangenen Jahrhunderts, zu denen das südamerikanische Brasilia, das australische Canberra und das nordindische Chandigarh gehörten. Denn diese, so erläuterte der Japaner, basierten auf einer architektonischen Großform, deren starres Bild von Dynamik sich nicht weiterentwickeln könne. Zu dominant und formal seien seinerzeit die Entwürfe von Niemeyer oder Le Corbusier gewesen, als dass man sie den Anforderungen der jeweiligen Epoche hätte anpassen können.

Bis auf ein im Stadtgrundriss verankertes Band der Regierungsbauten verzichtete Kurokawa gänzlich auf starre Gestaltungselemente. Zugleich lieferte er ein ideologisches Konzept, das der bloßen Hauptstadtidee des kasachischen Präsidenten – sie war aufgrund seiner alleinigen Entscheidung immer wieder in die Kritik geraten – substanziellen Inhalt verlieh: Denn anders als viele seiner Wettbewerbskollegen stülpte Kurokawa der neuen Hauptstadt keine künstliche Form über. Vielmehr entwickelte er eine Strategie, wie man der Stadt unter anderem ein neues Wasser- und Abfallmanagement verpassen könnte – mit dem Ergebnis, dass dank japanischer Finanzhilfe zunächst die Kanalisierung Astanas modernisiert wurde. Darüber hinaus sollte das Mikroklima, das im Jahresverlauf immerhin durch bis zu 80 Grad Temperaturunterschied gekennzeichnet ist, durch ein großflächiges Aufforstungsprojekt modifiziert werden. Stolz beziffert das Nationalmuseum die Zahl der seit 1998 gepflanzten Bäume auf 9,6 Millionen.

 

Stadt der zwei Geschwindigkeiten

Astana, bis zur Jahrtausendwende ein eher unbedeutender Ort an der Bahnstrecke zwischen Moskau und Almaty, ist heute eine Stadt der zwei Geschwindigkeiten. Während Teile der Bevölkerung in ihren ländlichen Datschen noch immer dem jahreszeitlichen Alltag der Selbstversorgung nachgehen, zeugen die Bagger von nicht mehr aufzuhaltender Urbanisierung und dem politischen Wunsch einer schnellen Erneuerung. Welchen Bedeutungswandel die Kapitale in den kommenden Jahren erleben wird, haben die Bewohner bereits erfahren dürfen. Seit der künstlichen Verbreiterung des Esil liegt Astana an einem Fluss, dessen Breite von bis zu 200 Metern den hauptstädtischen Strömen Seine, Themse oder Donau gleichkommt. Doch bei genauerem Hinsehen entpuppt sich dieser mehr als flacher See denn als mächtiger Strom. Denn der sonst schmale Fluss, der sich durch die sumpfige Region schlängelt, wird im Stadtgebiet lediglich aufgestaut. Immerhin besitzt Astana seitdem eine Uferpromenade, wie sie für die eurasischen Städte an Ob, Wolga und Ural so typisch ist.

Die rege Bautätigkeit in Astana hat eine traditionelle kasachische Typologie in Form moderner Architektur sichtbar werden lassen: runde Plätze mit einem meist runden Gebäude in ihren Zentren. Überall auf dem Stadtplan sind solche Geometrien erkennbar, im großen Maßstab rund um den Präsidentenpalast, im mittleren Maßstab rund um zwei der drei neuen Moscheen und im kleinen Maßstab in Gestalt von Zirkus, Schule oder Einkaufszentrum. Diese verstreuten Kreise in der Steppe sind keineswegs neobarocke Kompositionen, wie sie oft abfällig bezeichnet werden. Es sind schlicht neue Interpretationen der runden Jurte, die von einer Koppel umgeben ist, in der die Pferde ihre Kreise ziehen. Vor diesem Hintergrund ist Astana besonders stolz, dass sie sich von Norman Foster mit dem Urban Entertainment Center »Chan Schatyr« die weltweit größte Zeltkonstruktion hat bauen lassen. Oft wird der Kreis auch als Schanyrak, als Krone einer Jurte, in modernen Baukonstruktionen als Gestaltungselement verwendet. Dass viele Gebäudefassaden mit Ornamenten verziert sind, hat ebenfalls seinen Ursprung in der nomadischen Baukultur: Dort schmücken Teppiche die kahlen Innenwände und schützen zugleich vor den extremen Temperaturen. Für europäische Augen mag das alles fremd wirken. Aber für die Neubürger Astanas, die größtenteils aus Dörfern in die Hauptstadt ziehen, ist die symbolische Architektur ein erster Ankerpunkt, um sich in der Fremde zu Hause zu fühlen. Auch das mag ein Grund sein, warum in die Neubauten so viel Symbolik hineininterpretiert wird, dass es westlichen Ohren fast schon zu viel ist. Aber neue Typologien brauchen neue Bauten, um sich entfalten zu können.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 3/2024.