Bauen mit Altplastik, Bauen im Klimawandel oder Bauen als soziale Aufgabe – die Themen der diesjährigen Architekturbiennale in Venedig bilden den gegenwärtigen Diskurs in westlichen Gesellschaften treffend ab. Dass die Besucher der Lagunenstadt seit der offiziellen Eröffnung am 20. Mai in den über 60 Länderpavillons immer wieder mit Afrika konfrontiert werden, hängt vor allem mit der Generalkommissarin Lesley Lokko zusammen. Die in Schottland geborene Architektin und Romanschriftstellerin mit ghanaischen Wurzeln hat es möglich gemacht, dass erstmals die Hälfte der Teilnehmer aus Afrika oder der afrikanischen Diaspora stammen. Darüber hinaus ist Demas Nwoko, adeliges Familienmitglied des Oba von Benin, mit dem Goldenen Löwen für sein Lebenswerk ausgezeichnet worden. Der 88-jährige Nigerianer Nwoko und Onkel von König Ewuare II., dem neuen Eigentümer der restituierten Benin-Bronzen, war bislang in Europa nur einem kleinen Zirkel von Afrika-Experten bekannt. Mit der Ehrung nimmt sein Werk an der Schnittstelle zwischen Architektur und Kunst nun auch Einzug in die Baugeschichtsschreibung, deren Deutungshoheit bis heute in der Hand von westlichen Eliten liegt.

Theorie der afrikanischen Architektur

Dabei zeigt die Architekturbiennale fast nebenbei, dass Architekturtheorie tief in der Baukultur Afrikas verwurzelt ist. Der südafrikanische Pavillon etwa thematisiert das Erbe des nicht mehr existenten Nomadenvolks der Bokoni. Verstreut über 10.000 Quadratkilometer Grasland in Mpumalanga, 200 Kilometer östlich von Johannesburg, liegen die Ruinen dieser vorkolonialen Zivilisation, die bis ins frühe 19. Jahrhundert nachweisbar ist. Von besonderem architektonischem Interesse an dieser Stätte sind Felsritzungen, die Baupläne darstellen. Archäologen sind sich weitgehend einig, dass die Pläne nicht für den Bau bestimmt waren. Die Hirten fertigten diese Zeichnungen als Ausdruck ihrer Kultur und ihres Wissens. Nicht Schriftstücke, sondern Grundrisse geben Aufschluss über die soziale Ordnung.

Das Sprechen über Architektur – wesentlicher Bestandteil einer theoretischen Debatte – ist in Afrika Teil des kulturellen Gedächtnisses. Das Bauen der eigenen Behausung ist nicht nur für das Überleben notwendig, es spiegelt auch soziale Hierarchien und mannigfaltige Formen des Kunstwollens als selbstverständlichen und oft unbewussten Bestandteil des Lebens wider. So ist es auch zu verstehen, dass die informellen Siedlungen der rasant wachsenden Städte in Afrika die Architekturlabore der Zukunft sind. Begriffe wie Baustoffrecycling oder zirkuläres Bauen sind dort eine Voraussetzung, um mit knappem Budget überhaupt etwas bauen zu können. Das Bauen in urbanen Agglomerationen wird darüber entscheiden, ob die prognostizierten 400 Millionen zusätzlichen Stadtbewohner in Afrika bis 2050 einen Beitrag zu einer klimafreundlichen Entwicklung leisten werden. Akosua Obeng Mensah, eine in Accra tätige Architektin und Kollegin von Lesly Lokko am African Futures Institute (AFI), beziffert das zukünftige Bauen im subsaharischen Afrika mit drastischen Prognosen: »Etwa 80 Prozent der Bauten müssen erst noch errichtet werden.« Die vor zwei Jahren von Lokko gegründete Architekturschule in der ghanaischen Hauptstadt hat ihren Lehrbetrieb nach britischem Curriculum bereits aufgenommen. Der besondere Fokus der Architekturbiennale auf Afrika sichert nun auch dem AFI eine höhere Bekanntheit.

Über das Bauen sprechen, nicht schreiben

Architektur wird im subsaharischen Afrika an etwa 100 Schulen unterrichtet, gemessen an einer Bevölkerung von über 900 Millionen Menschen eine geringe Zahl. Aber die Verantwortung von qualifizierten Architekten am Planen und Bauen liegt im einstelligen Prozentbereich. Das Gros der Gebäude entsteht durch Bauleute, die ohne Plan und nur mit dem verfügbaren Material arbeiten. Auch sie sprechen über Konstruktion und Raum, ohne je eine akademische Ausbildung genossen zu haben. Wenn es also eine afrikanische Theorie der subsaharischen Architektur gibt, dann können ihre Wurzeln nur in mündlichen Überlieferungen liegen. Zwar bilden außerafrikanische Beschreibungen des Bauens in Afrika ein Grundgerüst. Doch um eine breite Akzeptanz zu erreichen, muss eine solche Architekturtheorie von afrikanischen Autoren aufgestellt werden. 1997 vermochte der heute in Südafrika lehrende Architekturprofessor Nnamdi Elleh mit seiner Monografie »African Architecture. Evolution and Transformation« so etwas wie den Beginn einer innerafrikanischen Debatte auszulösen. Elleh strukturierte das Erbe der afrikanischen Architektur in drei Bereiche: das indigene Erbe, das aus der

Menschheitsgeschichte und dem Klimawandel hervorgegangen ist; das Erbe des eurozentrischen Kapitalismus, der den Afrikanern durch den europäischen Kolonialismus aufgezwungen wurde; das religiöse Erbe durch Christianisierung und den Dschihad. Dass es bislang noch nicht gelungen ist, eine umfassende Theorie der zeitgenössischen afrikanischen Architektur zu verschriftlichen, zeigt einmal mehr, dass der kulturelle Wissenstransfer in Afrika anderen Regeln als denen der westlichen Welt folgt.

Was für die Architektur gilt, das gilt ebenso für die Debatte über die Stadt. Die angolanische Architektin Ângela Mingas befasst sich in ihren Arbeiten mit dem Begriff der Urban Semiotics, einer Lesart von Stadt durch Zeichen, Symbole und deren soziale Wirkung. Die Hochschullehrerin kritisiert besonders den urbanen Diskurs über informelle Siedlungen der rasant wachsenden Städte Afrikas: »Wir haben nicht einmal eine Terminologie, um über diese Art von Städten zu sprechen. Wir müssen die Kultur und unsere Sprache neu bewerten, um Worte zu finden, die beschreiben, was vor uns liegt.« In ihren Seminaren in Luanda versucht Mingas gemeinsam mit den Studierenden die urbanen Phänomene zu beschreiben, denen Politiker und Planer ohnmächtig gegenüberstehen. Zugleich ist ihre Arbeit ein wertvoller Beitrag, das Sprechen und Schreiben über die gestaltete Umwelt weiterzuentwickeln und der jungen Generation ein Vokabular für das spätere Berufsleben mitzugeben. »Wir versuchen, eine Form der Urbanität zu erfinden, die auf der Bantu-Philosophie basiert.«

Einen anderen Ansatz für die Formulierung einer Theorie der afrikanischen Architektur liefert der US-amerikanische Ethnomathematiker Ron Eglash, der in den Mustern und Ornamenten afrikanischer Kulturen Algorithmen erkennt, die auf der Wiederholung von Fraktalen basieren. Die geografischen Muster zeichnen sich durch ihre immer kleiner werdenden Maßstäbe aus, wie es Eglash etwa in einer Siedlung in Sambia nachgewiesen hat und als typisch für das subsaharische Afrika definiert. »In Europa und Amerika sehen wir oft Städte, die in einem Rastermuster mit geraden Straßen und rechtwinkligen Ecken angelegt sind. Im Gegensatz dazu neigen traditionelle afrikanische Siedlungen dazu, fraktale Strukturen zu verwenden: Kreise von Kreisen kreisförmiger Behausungen, rechteckige Mauern, die immer kleinere Rechtecke umschließen, und Straßen, in denen sich breite Alleen zu winzigen Fußwegen mit auffälligen geometrischen Wiederholungen verzweigen. Diese einheimischen Fraktale sind nicht auf die Architektur beschränkt. Ihre rekursiven Muster finden sich in vielen unterschiedlichen afrikanischen Designs und Wissenssystemen wieder.«

Vom Begriff zum Denksystem

Will man also eine afrikanische Architekturtheorie formulieren, sollte man zunächst fragen: Welche Begriffe verwenden die Menschen in Afrika, wenn sie über Architektur sprechen? Bei den über 2.000 in diesem Kulturraum gesprochenen Sprachen könnte dies zu einer Antwort von kaum zu erfassender Komplexität führen – und eher zu einem sprachwissenschaftlichen Kompendium als zu einer architekturtheoretischen Bestandsaufnahme. Wer die Diskussionen über afrikanische Architektur aufmerksam verfolgt, wird jedoch schnell eine Liste der immer wieder genannten Schlagwörter zusammenstellen können. Diese Begriffe sind häufig sozialen oder politischen, aber nur selten architektonischen oder stadtplanerischen Ursprungs: Partizipation, Kolonialismus, Armut. Selbst eine Bezugnahme zum Bauen macht daraus noch keine Architekturtheorie. Dennoch sind diese Begriffe sowie eine Erfüllung der ihnen innewohnenden Forderungen mit dem Planen und Bauen eng verbunden. Die Partizipation der Bevölkerung beginnt schon beim Planungsprozess von Nachbarschaften, und Projekte können durch eine frühzeitige Beteiligung der späteren Nutzer erfolgreich realisiert werden. Der Kolonialismus hat ein baukulturelles Erbe hinterlassen, das je nach Lesart als Mahnung und Erinnerung an die Unterdrückung und das Leid dienen kann, unter dem Banner des »Neuen Kolonialismus« aber auch eine Provokation widerzuspiegeln vermag, die durch Großprojekte ausländischer Investoren hervorgerufen wird. Und Armut lässt sich unter anderem durch den Bau von bezahlbarem Wohnraum bekämpfen. Charakteristisch für die Gespräche über Architektur in Afrika sind aber auch Begriffe wie Gemeinschaft und soziales Bedürfnis. Mit ihnen ist der Ort gemeint, an dem der Mensch sein soziales Wesen entwickelt: die Feuerstelle, wo er mit seinen Mitmenschen Essen zubereitet, die ihn nachts wärmt und vor Wildtieren schützt.

In der »necessitas«, zu Deutsch: Notwendigkeit, sah schon Vitruv den Ursprung des menschlichen Bauens. Seine drei Anforderungen an die Architektur »firmitas, utilitas, venustas«, zu Deutsch: Festigkeit, Nützlichkeit, Schönheit, finden sich als Parameter in weltweit jeder Baukultur wieder. Doch in der afrikanischen Diskussion um Architektur spielen diese Begriffe kaum eine Rolle – obwohl sie in der afrikanischen Baukunst viel offensichtlicher zutage treten als etwa in der westlichen Architektur. Diese Beobachtung unterstreicht die These, dass das indigene Bauen auf dem afrikanischen Kontinent so eng mit dem täglichen Leben verflochten ist, dass sich keine Sprache oder gar ein komplexes Denksystem darum gebildet hat. Dies mag mit der Schlichtheit der Bauten zusammenhängen, die zwar alle Anforderungen an die Architektur erfüllen, aber aufgrund ihrer ephemeren Bauweise einem permanenten Ausbesserungsprozess unterliegen. Fast immer dominiert die Konstruktion das äußere Erscheinungsbild. Die funktionale Anordnung der Hütten in einem Gehöft und die Räume an sich entsprechen dem Mindestbedarf an Platz. Und jeder Volksstamm beherrscht die Kunst, seine Bauten zu dekorieren.

Vielleicht wäre es dienlich, für eine Theorie der indigenen Architektur in Afrika andere Parameter zu benennen, als dies für die europäische und für die islamische Architektur möglich ist. Die Gesetzmäßigkeiten und die Harmonie von Natur und Kunst, wie sie der afrikanischen Architektur attestiert werden können, ließen sich wohl mit dem Begriff der Ästhetik beschreiben. Könnten also eine Ästhetik des Schutzes, eine Ästhetik der Kultur und eine Ästhetik des Wissens eine Grundlage bilden? Diese Sichtweise ginge von sozialen Gruppierungen aus – Familie, Gleichaltrige, Berufskollegen –, also vom Menschen, nicht von der Baukonstruktion. Es könnte ein Weg sein zu einer stärkeren Emanzipation der afrikanischen Kultur. Der von Lesley Lokko inszenierte Auftritt bei der Architekturbiennale Venedig mag ein Anfang sein, wenn er nicht nur afrikanischen Eliten vorbehalten bleibt.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 06/2023.