Gesellschaften sind vielfältig – das waren sie vermutlich schon immer. Ausdifferenziert haben sich aber sowohl die Zugänge und Möglichkeiten, Gesellschaften zu beschreiben, als auch die Notwendigkeit, hierdurch Antworten auf den kontinuierlichen Wertewandel und die künftigen Herausforderungen zu finden.
Die herkömmliche Einteilung der Gesellschaft in Sozialschichten (über Beruf, Einkommen, Bildung) oder die Zielgruppendefinition nach gängigen soziodemografischen Variablen verlor bereits nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend an Erklärungskraft und Trennschärfe. Die Prozesse der Modernisierung sowie insgesamt steigender Wohlstand in den industrialisierten Gesellschaften erweiterten die Gestaltungsspielräume der Menschen. Parallel dazu führte die beschleunigte Individualisierung zu einer Schwächung traditioneller Bindungen sowie zur Notwendigkeit, neue Zugehörigkeiten zu finden. Soziale Milieus stellen diese Art der mehr oder weniger selbst gewählten und freiwilligen Vergemeinschaftung dar. Ein besonders bekanntes Modell sind dabei die Sinus-Milieus, vor über 40 Jahren vom SINUS-Institut entwickelt und seither kontinuierlich an die Veränderungen in der Gesellschaft angepasst. Sie fassen Menschen mit ähnlichen Werten und einer vergleichbaren sozialen Lage zu »Gruppen Gleichgesinnter« zusammen.
Über den Milieuansatz ist es möglich, Einblicke in Motive und Verhaltensweisen der Bevölkerung zu gewinnen, um sie so besser verstehen und erreichen zu können. Im Unterschied zu themenspezifischen Segmentierungen, z. B. Mediennutzertypologien, Produktsegmentierungen, rückt der Milieuansatz den Menschen und das Bezugssystem seiner Lebenswelt ganzheitlich ins Blickfeld. Das Modell der Sinus-Milieus liefert entsprechend einen 360-Grad-Blick auf den Zusammenhang von Alltagsästhetik, normativer Grundorientierung und themenspezifischen Einstellungssyndromen. Es werden dabei alle wichtigen Erlebnisbereiche empirisch untersucht, mit denen Menschen in ihrem Alltag zu tun haben.
Aktuell umfasst das Sinus-Milieu-Modell für Deutschland zehn Milieus, die in ihren Wertorientierungen, Präferenzmustern und Handlungslogiken für unterschiedliche Branchen und Themenfelder beschrieben werden. Das Milieu-Modell ist repräsentativ für die deutschsprachige Wohnbevölkerung ab 14 Jahren, d. h. ebenso für Menschen mit Migrationsgeschichte. Datenbasis sind sowohl breit angelegte Repräsentativbefragungen als auch ethnografische »Tiefenbohrungen«, Fokusgruppen oder Zukunftswerkstätten in verschiedenen sozialen und kulturellen Settings. Zudem sind die Milieus in ein Informationssystem eingebettet und laufen in vielen großen Konsum- und Medien-Panels mit, sodass in der Analyse auf milieukorrelierte Datenbestände zurückgegriffen werden kann.
Soziale Milieus erweitern die Sozialstrukturanalyse somit um die ganz wesentliche kulturelle Dimension. So gibt es beispielsweise zwar durchaus nach Bildung oder Einkommen differenzierte Zugänge zum Thema »Nachhaltigkeit«. Die Einbeziehung der grundlegenden Werthaltungen und kulturellen Lebensformen differenziert aber die zugrunde liegenden Motive und eröffnet Wege der kommunikativen Erreichbarkeit. In ähnlicher Weise gilt dies für alle Themen des Alltagshandelns, z. B. auch der Frage der politischen Präferenzen.
Exemplarisch sei die Milieulogik anhand milieuspezifischer Freizeitpräferenzen in fünf der zehn Milieus kurz verdeutlicht. Ein ausgeprägtes Interesse an Kultur als Teil der Freizeitgestaltung sowie als Bestandteil der persönlichen Identität und sozialen Positionierung finden wir zum einen in den statushöheren Milieus, aber auch in den progressiv- und unterhaltungsorientierten Gruppen. Konservativ-Gehobene leben das Selbstverständnis des klassischen, konservativen Establishments. Ihre Schlüsselwerte sind zum einen Pflichtbewusstsein, Zielstrebigkeit und Verantwortung gegenüber sich und der Gesellschaft. Lebensstilistisch zeigen sie eine Vorliebe für das Edle, Vornehme, Kultivierte, für Harmonie und Ebenmaß. Distinktion und Kennerschaft sind die dominanten alltagsästhetischen Merkmale. In der Freizeit stehen neben familiären Unternehmungen daher auch gesellschaftliche und kulturelle Aktivitäten auf dem Programm. Milieutypisch ist das starke Interesse an Hochkultur und Kunst (Theater, Oper, klassische Konzerte, Museen, Galerien, Kulturreisen) sowie Hobbys mit hohem Sozialprestige (z. B. Golf, Segeln).
Charakteristisch für das Postmaterielle Milieu ist der Wunsch bzw. das Streben nach einer besseren und gerechteren Welt mit mehr kulturellem Pluralismus und Diversität, mit mehr Nachhaltigkeit, Umwelt- und Naturschutz. Handlungsleitend ist dabei eine selbstbewusst-liberale Grundhaltung: Weltoffenheit und Toleranz sind in dieser Gruppe Leitmaximen. Die Freizeitgestaltung folgt einer »epikure ischen« Grundhaltung: Man hat ein Faible für subtile Genüsse und legt großen Wert auf Ästhetik, Bildung und Kultur (von Kleinkunst über anspruchsvolle Popkultur bis klassische Hochkultur). Zentral dabei ist das Streben nach Welt- und Selbsterkenntnis durch Partizipation am Fremden. Performer verstehen sich als moderne Elite mit Macher-Mentalität. Die milieutypische Effizienz- und Wettbewerbsorientierung korrespondiert mit dem Streben nach Selbstverwirklichung und einem intensiven Leben. Daher suchen Performer auch in ihren Freizeitaktivitäten He rausforderungen und intensive Erfahrungen, insbesondere in Form von Trend-, Prestige- und Extremsportarten. Viele Performer haben einen Avantgarde-Anspruch hinsichtlich Konsum, Designpräferenzen und Lebensart und zielen dabei auf Wirkung, Selbstpräsentation und Meinungsführerschaft. Sie sind Prototypen kultureller Omnivores und sowohl im Bereich klassischer Hochkultur, Jazz, aber auch aktueller popkultureller Szenen unterwegs und in der Club-Sphäre bestens vernetzt.
Typisch für Expeditive ist eine nonkonformistische, risikoakzeptierende Grundhaltung. Sie sind offen für alles, wollen Grenzen durchbrechen, neue Herausforderungen annehmen und auf unkonventionellen Wegen neue Lösungen finden. Viele sehen das Leben als Spiel – und die ganze Welt als ihre Bühne. Sie verstehen sich als mental, kulturell und geografisch mobil und zukunftsoptimistisch. Die meisten haben großes Interesse an Musik, Kunst und Kultur. Dabei bevorzugen sie das Unkonventionelle abseits des Mainstreams und üben sich in postmodernen Kulturtechniken (Remix, Bricolage und Sampling). Analog dazu fokussieren sie in ihrem Konsumverhalten die Auswahlkriterien Neuheit, limitierte Verfügbarkeit und Extravaganz. Wichtig ist ihnen die demonstrative Distanz zum Massengeschmack.
Konsum-Hedonisten verstehen sich als lässige Lebenskünstler, die den Alltag packen, im Job funktionieren, in der Freizeit Spaß haben und alle Fünfe gerade sein lassen. Der Wunsch ist groß nach einem intensiven Leben im Hier und Jetzt mit viel Fun & Action, spontanem Konsum und Luxus. Freizeit gilt vielen im Milieu als der eigentliche Lebensraum, in dem man zielstrebig und mit viel Verve spezielle Interessen verfolgt (von Mangas bis Motorsport). Für den Lebensstil der Konsum-Hedonisten ist ein ausgeprägter Profilierungsdrang charakteristisch. Entsprechend besteht in dieser Gruppe eine hohe Konsumneigung, besonders bei Unterhaltungselektronik, Games, Musik, Multimedia, Kleidung, Ausgehen und Sport.
Fazit
Ein differenzierter Blick auf Gesellschaft birgt Chancen und Herausforderungen. Wird die Bevölkerung in Gruppen untergliedert, werden Unterschiede sichtbar und Menschen vermeintlich in die vielbeschworenen »Schubladen« unterteilt. Differenziertheit und damit das Thematisieren von Unterschieden und Gemeinsamkeiten schafft aber erst das Sichtbarmachen und Verstehen von Vielfalt. Angesichts der drängenden Zukunftsherausforderungen ist zudem relevant, wie sich diese Beziehungen und Verhältnisse angesichts neuer Konfliktlagen über die Zeit wandeln. Das Sinus-Milieu-Modell wird daher kontinuierlich an die soziokulturellen Veränderungen in der Gesellschaft angepasst. Zwar bleiben die milieukonstituierenden Merkmale, die Wertorientierungen der Menschen auch in turbulenten Zeiten relativ konstant. Dennoch hinterlassen gesellschaftliche Entwicklungen z. B. durch technische Neuerungen, Digitalisierung und Turbulenzen in Form von Krisen und geopolitischen Konflikten tiefgreifende Spuren in der Milieustruktur.
Aktuell – das ist ein Novum – geht die soziokulturelle Dynamik von der Mitte der Bevölkerung aus. Waren es bislang neue Treiber und Werte (Umweltschutz, digitale Innovativität, neue Arbeitswelten), die neue Milieus entstehen ließen, bevor diese in den Mainstream »sickerten«, haben wir es zur Zeit mit dem Phänomen eines sich auflösenden bürgerlichen Selbstverständnisses in der Mitte der Gesellschaft zu tun.
Was trennt uns? Was hält uns zusammen? Gerade die genaue Kenntnis über Allianzen, Brücken und Strahlkräfte zwischen sozialen Milieus ist für gegenseitiges Verstehen von nicht zu unterschätzender Bedeutung und für die Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts in Krisenzeiten essenziell.
Der Beitrag stützt sich mit Blick auf die Methodik und Darstellung der Sinus-Milieus teils wörtlich auf Abschnitte in dem Buch: Barth, B. et al. (Hg.) (2023): Praxis der Sinus-Milieus. Gegenwart und Zukunft eines modernen Gesellschaftsmodells.