Die Situation der Kulturpolitik in Deutschland gibt Anlass zur Sorge. Die Zunahme antisemitischer, kolonialer, misogyner, queerfeindlicher und rassistischer Anschläge, Drohungen und Gewalttaten weist zum einen darauf hin, dass Hass und menschenverachtendes Gedankengut in den Gesellschaften in Deutschland tief verankert sind. Zum anderen zeugt der kulturpolitische Umgang mit diesen Formen der Degradierung von beängstigender Unkenntnis der deutschen bzw. christlich-abendländischen Geschichte der Ausgrenzung.

So wende ich mich mit großer Dringlichkeit an alle demokratischen kulturpolitisch agierenden Menschen. Die Verkürzungen und polaren Zuschreibungen, welche die kulturpolitische Öffentlichkeit derzeit beeinträchtigen und die Arbeitsweisen demokratischer Kulturinstitutionen maßgeblich erschweren, geben extremistischen Strategien großen Aufwind. Denn sie erschaffen Stereotypisierungen, einfach zu bedienende Freund-Feind-Muster und favorisieren eine Beschränkung der Per spektive auf das vermeintlich »Eigene«, in welcher das »Andere«, wenn, dann nur als Objekt der Abgrenzung einen Platz hat.

Die Versuche der deutschen Kulturpolitik der letzten Jahrzehnte, Dialoge, bottom-up-orientierte Öffnungsprozesse, kulturelle, soziale und gesellschaftliche Multiperspektivität und verantwortungsvolle Erinnerungskulturen zu fördern, scheinen innerhalb weniger Monate wie weggefegt. Es wäre fatal, diese demokratischen Freiräume von Kunst- und Kulturschaffen zugunsten einer polar aufgeladenen Debatte, die vor allem von einzelnen radikalen Gruppierungen angeheizt wird, aufzugeben. Ich möchte den Ernst der Lage anhand einiger Beobachtungen der letzten Monate erläutern.

Ignoranz historischer Verknüpfungen und Mangel an Reflexion der Geschichte

In Bezug auf die Diskussionen, die in der Öffentlichkeit geführt werden, fällt auf, dass selten historische Verknüpfungen und Zusammenhänge verschiedener Formen von Degradierungen aufgedeckt werden. Dabei reicht allein ein kurzer Blick auf die Geschichte des christlichen Abendlandes aus, um festzustellen, dass diese von Beginn an von antijudaistischen Praktiken durchzogen ist, die immer wieder zu unterschiedlichen Pogromen, Hetzen und Gewalttaten führten. Der Begriff »Rasse«, so zeigen es Forschungsarbeiten u. a. von Hendrik Cremer (2008) und Antje Sommer (1984), wurde im Europa des 15. Jahrhunderts genutzt, um »christliches« von »jüdischem« Blut abzugrenzen. Ab dem 16. Jahrhundert wurde er auf Menschen außereuropäischer Kulturen übertragen und somit in eine koloniale Strategie übersetzt. Die deutsche Kolonialzeit hält vielerlei Beispiele brutaler Praktiken des menschenverachtenden Rassismus und rassenideologischer pseudowissenschaftlicher Versuche bereit, die wiederum im Antisemitismus aufgegriffen wurden und zu der unfassbaren Grausamkeit des Nationalsozialismus führten.

Die historische Verknüpfung dieser Degradierungen, die zum Teil auf weitere Gruppen wie Frauen, Homosexuelle, Menschen anderer ethnischer Gruppen und Menschen mit Behinderung angewendet wurden, verfolgt nicht das Ziel, all ihre Formen und Ausprägungen gleichzusetzen. Doch sticht in der historischen Kontextualisierung ein Grundmechanismus ins Auge, der heutzutage wieder wirkungsmächtiger zu werden scheint. Um eine künstlich erschaffene, aber angeblich natürlich erscheinende Homogenität zu suggerieren, wird das »Andere« konstruiert, welches oftmals ausgegrenzt, verteufelt, gedemütigt oder gehasst wird.

Allein der Blick auf die Wahlkampfplakate der AfD zeigt, dass diese Partei jenes Muster nutzt. Andere ethnische Gruppen oder Stimmen, welche die Mechanismen der Degradierung entlarven, werden nach tradierter Taktik als Gefahr für die Gemeinschaft und ihre homogene Kultur stereotypisiert. Dabei reproduziert sie nicht nur historische Dichotomien, sondern lädt diese je nach politischer Zielsetzung mit anderen polar ausgerichteten Metaphern auf. Während der Wahl zum EU-Parlament 2019 warb sie mit rassistischen Bildern, welche an die antisemitische Propaganda des Nationalsozialismus erinnerten. Hinter der Umgestaltung historischer Feindbilder steckt ein perfides System. Da die AfD dem Postkolonialismus Antisemitismus vorwirft, gleichzeitig für Ausgrenzung außereuropäischer Kulturen eine nationalsozialistische Bildsprache verwendet, wird deutlich, dass sie kein Interesse an kritischer geschichtlicher Reflexion und Aufklärung hat, sondern vielmehr historische antidemokratische Dichotomien für die eigene Freund-Feind-Ideologie reproduziert.

Ähnliche Taktiken sind in extremistischen Bewegungen weltweit zu erkennen. Auch hier werden Zugehörigkeitsstrukturen über die Konstruktion des »Anderen« geschaffen, und es wird oftmals auf historische Feindbilder zurückgegriffen. Der Terror der Hamas richtet sich gegen die Demokratie Israels und die jüdische Bevölkerung als das bereits in der Geschichte konstruierte »Andere«. Da rüber hinaus werden progressive Teile der palästinensischen Bevölkerung, insbesondere diejenigen, welche Bildung und Gleichberechtigung von Frauen unterstützen und patriarchale Strukturen aufbrechen wollen, attackiert.

Dichotomisierung, Polarisierung und Verengung auf die »eigene Perspektive«

Ohne Hamas und AfD auf eine Ebene zu setzen, fällt im Vergleich doch auf, dass sich hinter den jeweiligen extremistischen Strategien ein ähnliches Muster verbirgt. Der Hass richtet sich sowohl gegen Gruppen, die mit Rückgriff auf historische dichotome Schemata als »Feind« konstruiert werden, als auch auf Gruppen, welche tradierte Machtstrukturen befragen. Sowohl in den Gender- und den Postcolonial Studies als auch in vielen künstlerischen Arbeiten werden diese Formen der Reflexion und Dekon struktion angewendet. Kein Wunder, dass extremistische Gruppen stets versuchen, diese Räume zu kontrollieren oder gar zu eliminieren.

Auch kulturpolitische Stimmen aus demokratischen Lagern sind vor derlei gefährlichen dichotom strukturierten Mustern nicht gefeit. In den meisten kulturpolitischen Auseinandersetzungen der letzten Jahre tritt ein polarer Grundgestus zutage. Die eigene Erfahrung, Identität, Geschichte, sexuelle Orientierung, Hautfarbe, Kultur, Religion, Verortung, das eigene Geschlecht und Gender werden oftmals von denen anderer abgegrenzt und insofern exkludiert, dass nur diejenigen, die dieses Spezifikum teilen, den Diskurs gestalten dürfen. In vielen Fällen erscheint dies sinnvoll, solange dieser Akt als Mittel dient, historische oder gegenwärtige Ausgrenzungsmechanismen sichtbar zu machen und Ungleichheiten aufzuzeigen. Allerdings führen diese Formen der Polarisierung zwischen der Besonderheit der eigenen Erfahrungen in Abgrenzung zu denen anderer, wenn sie nicht hinreichend reflektiert werden, zu weiteren Degradierungen.

So wird in auffallend vielen kulturpolitischen Äußerungen der letzten Monate der Fokus auf eine bestimmte Perspektive reduziert. Eine große Zahl rezenter politischer, aktivistischer, identitätspolitischer, kultureller und künstlerischer Statements eint, dass sie den spezifischen Kontext einer bestimmten Gruppe favorisieren. Diese Fokussetzung ist einerseits wichtig, da sie die Möglichkeit bietet, den vielseitigen Gruppen der Gesellschaft einen Raum der Kontextualisierung zu bieten. Andererseits drohen diese spezifischen Sichtweisen mittels polarer Mechanismen seitens extremistischer Strategien gegeneinander ausgespielt zu werden, wenn es ihnen nicht gelingt, auch die Perspektiven anderer einzubeziehen.

In der Öffentlichkeit wird Formen der besonnenen Reflexion und der multiperspektivischen Verhandlung jedoch kaum Raum geboten. Politische und mediale Debatten dulden keinen Verzug, die Kulturpolitik muss jedoch lernen, diesen und das Recht darauf einzufordern. Als Mitglied einer Universität ist mir dieser Freiraum des zeit- und ressourcenaufwendigen Nachdenkens, Debattierens und Reflektierens grundrechtlich zugesichert. Meine Erfahrungen in der Lehre und Forschung als Inhaber eines UNESCO-Lehrstuhls verdeutlichen, wie wichtig diese Freiräume für die regionale, nationale und internationale Kulturpolitikwissenschaft sind, die, um den Dingen auf den Grund zu gehen, viele Stimmen einbeziehen, Annahmen regelmäßig befragen, Ambiguitäten aushalten, Fehler und Irrtümer zugeben und die Einseitigkeit der eigenen Perspektive anerkennen und international zur Debatte stellen muss.

Appell an die Kulturpolitik: Besonnenheit statt Hetze, Freiraum statt Beschränkung

Das Grundgesetz gesteht die Freiheit der Wissenschaft ebenso der Kunst zu. Ich möchte hier an die deutsche Kulturpolitik, insbesondere an die zuständigen Ministerinnen und demokratischen Abgeordneten in den Parlamenten appellieren: Schützen und fördern Sie die demokratischen Freiräume von Kunst und Kultur regional, national und international. Anstatt das Budget der auswärtigen Kulturpolitik zu kürzen und diese strategisch allein für die eigene Wirtschafts- und kurzfristige Sicherheitspolitik zu nutzen, sollten langfristig Ressourcen in das Erschaffen dieser Frei- und Denkräume weltweit investiert werden. Anstatt als Akteurin einer polar geführten Debatte aufzutreten und Kulturinstitutionen und Kunstschaffenden mit Klauseln und Auflagen das Leben zu erschweren, sollte die inländische Kulturpolitik die Debattenräume ihrer demokratischen Kunst- und Kulturschaffenden stärken, ihren In stitutionen vertrauen und sie vor dem Einfluss und der Hetze extremistischer Gruppierungen schützen. Die Kunstfreiheit darf beileibe nicht grenzenlos sein, das haben die letzten Monate gezeigt, doch lassen sich rote Linien nicht von oben herab ziehen. Sie benötigen gemeinsame Diskussionen, den Versuch aller Beteiligten, auch die Perspektive anderer einzunehmen, Geschichte zu reflektieren und eben nicht allein das vermeintlich »Eigene« zu favorisieren.

Das Ansinnen, »Kultur in ihrer Vielfalt« als Staatsziel zu verankern, geht in diese Richtung. Die Debatte hat sich jedoch primär auf die Frage konzentriert, ob Kunst und Kultur aufgrund der Länderhoheit überhaupt in der Bundespolitik verankert sein sollten. Indessen scheint die Frage sinnvoller, ob die gegenwärtige Situation der Kulturpolitik nicht darauf deutet, dass der Schutz vielfältiger Perspektiven, der Raum, die Ressourcen und die Zeit, die diese benötigen, nicht doch und unbedingt grundrechtlich verbürgt sein sollten, was der Zusatz »in ihrer Vielfalt« womöglich vermag. Demokratie braucht diese Orte des künstlerischen Freiraums und der besonnenen kulturpolitischen Debatte, um extremistischen Strategien entgegenzutreten, auch das lehrt uns ein historisch-kritischer Blick auf die Kulturpolitiken des deutschen Kolonialismus und Nationalsozialismus.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 4/2024.