Roman Luckscheiter & Zsuzsanna Aszodi

Kulturelle Vielfalt und künstlerische Freiheit sind für Frieden, Sicherheit und die Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten unabdingbar. Aus dieser Überzeugung heraus hat die UNESCO 2005 ein Übereinkommen verabschiedet, mit dem sich die Weltgemeinschaft zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen verpflichtet. Da diese Konvention auf den Austausch von Ideen und auf die Interaktion zwischen den Kulturen abzielt, gerät leicht aus dem Blick, dass ein – bedauerlicherweise wachsender – Anteil der kulturellen Vielfalt in unseren Gesellschaften die Konsequenz von Zwang und Not ist, denen Künstlerinnen und Künstler in anderen Ländern ausgesetzt sind: Das Exil ist immer öfter die tragische Komponente kultureller Vielfalt.

Die UNESCO hat in diesem Jahr einen Bericht zur »Verteidigung der kreativen Stimmen« vorgelegt, der für ein stärkeres Bewusstsein für Kunstschaffende in Not wirbt. Mit Beginn des brutalen Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine hat sich die Relevanz dieses Appells mit besonderer Dringlichkeit gezeigt: Nicht nur wurde und wird das kulturelle Erbe im Krieg zerstört bzw. in Gefahr gebracht, sondern auch das Leben der Kunstschaffenden und die Infrastrukturen der lebendigen Künste. Viele der Kreativen aus der Ukraine haben ihre Ateliers, Bühnen und Netzwerke verloren.

Die Dramatik wurde in ganz Europa verstanden. Beeindruckend ist die Vielzahl der Förderprogramme und Unterstützungsangebote, die gerade in Deutschland innerhalb kurzer Zeit, sowohl von staatlicher Seite als auch durch zivilgesellschaftliches Engagement, geschaffen oder aufgestockt wurden. Die 2022 entstandene Dynamik der Hilfsbereitschaft ist ein guter Indikator für die Flexibilität, die Offenheit und die Solidarität des Kultursektors.

Zugleich stellt sich die Frage, inwiefern die geschaffenen Angebote den Bedarfen der Geflüchteten gerecht werden und wie sie zukünftig verbessert werden können – auch für geflüchtete Kulturproduzentinnen und -produzenten aus anderen Ländern. Als deutsche Kontaktstelle für das UNESCO-Übereinkommen zur Vielfalt kultureller Ausdrucksformen hat sich die Deutsche UNESCO-Kommission dieser Frage angenommen und zahlreiche Interviews sowohl mit gastgebenden Institutionen als auch mit ukrainischen Kunstschaffenden geführt. Befragt wurden 19 Institutionen und 20 Individuen. Das Ergebnis ist keine repräsentative Statistik; die in den Gesprächen mitgeteilten Erfahrungen weisen aber, auch im Abgleich mit dem UNESCO-Bericht, zuverlässige Symptomatik und Orientierung auf.

Spartenübergreifend wurde die Unterstützung insgesamt als sehr gut bewertet; gerade kleine Einrichtungen erwiesen sich als agil. Zugleich zeigte sich, wie wenig ausgeprägt die deutsch-ukrainischen Beziehungen im Kultursektor vor Ausbruch des Krieges waren. Die Notwendigkeit, sich verstärkt mit der Kulturszene in Osteuropa zu befassen, ist besonders deutlich geworden. Andersherum waren auch die Fördermöglichkeiten und rechtlichen Rahmenbedingungen in Deutschland kaum bei den Schutzsuchenden bekannt. Für den Erfolg der Angebote war nicht zuletzt deswegen ein Aufwand an Ressourcen für den Kontakt- und Vertrauensaufbau notwendig.

Als besonders relevant erwiesen sich in den Interviews diejenigen Angebote, die zur Sicherung der Grundbedürfnisse beitragen, also für physische und finanzielle Sicherheit, Unterkunft, Schul- oder Kitaplätze für Kinder und die Zugänge zu einem sozialen Umfeld schaffen. Aber auch die Möglichkeit, rasch wieder Zugang zu Ausstellungs- und Auftrittsgelegenheiten oder zur Projektarbeit zu haben, war essenziell. Als erfolgreich wurden diejenigen Angebote empfunden, die inhaltliche, räumliche und zeitliche Freiräume schufen, statt Vorgaben zu machen. Die Bürokratie nannten sowohl die Kulturträger wie auch die Kulturmachenden als größte Herausforderung für die erfolgreiche Durchführung von Unterstützungsprogrammen. Die erforderlichen Prozesse in Behörden und Administration standen diametral den spezifischen Bedarfen der Menschen in Not und dem Charakter der Angebote entgegen: Residenzprogramme etwa sind oft zeitlich eng befristet, Sprachkenntnisse reichen nicht aus für deutschsprachige Antragsformulare, künstlerische Arbeit erfordert Mobilität über den Meldeort hinaus. Unsere Empfehlungen zielen bei diesem Punkt auf ortsunabhängige Fördermöglichkeiten, auf fremdsprachliche und digitale Angebote der Behörden und auf konkrete Ansprechpersonen, die mit den spezifischen Belangen von Kulturmachenden aus dem Ausland vertraut sind.

Ein zweiter Schwerpunkt der Herausforderungen, der sich in den Interviews ergab, ist der Mangel an Deutschkenntnissen und die Belastung durch Traumata, die eine besondere Begleitung der Geflüchteten durch die gastgebenden Institutionen erfordert. Während es in den größeren Schutzprogrammen entsprechende Komponenten der psychologischen Hilfe und des vereinfachten Zugangs zu Sprach- und Integrationskursen gibt, sind insbesondere die kleineren Einrichtungen darauf angewiesen, dass künftig standardisierte und zentrale Angebote geschaffen bzw. ausgebaut werden.

Gleiches gilt auch für den dritten Schwerpunkt der Herausforderungen: Ob Beratung, Information oder Vermittlung – vieles ist in den Monaten der pragmatischen und raschen Unterstützung von den gastgebenden Institutionen jeweils aus eigener Kraft geleistet worden. Hier läge ein hoher Effizienzgewinn in der Einrichtung einer zentralen Koordinierungs- und Anlaufstelle, die Kompetenzen, Wissen und Beispiele guter Praxis bündelt und vermittelt. Entsprechende Webseiten der einschlägigen Institutionen und Mittlerorganisationen, vom Goethe-Institut über ifa bis zu den Ländern, sind hierfür hilfreiche und gut zugängliche Bausteine.

Wie aber steht es um die dauerhafte Tragfähigkeit der Schutzprogramme? Anderthalb Jahre nach Kriegsausbruch stößt man bereits auf »Page not found«-Ergebnisse. Wir dürfen die Aufmerksamkeit für die Lage der Künstlerinnen und Künstler aus der Ukraine nicht verlieren und vielmehr verstetigen, was sich mit dem großen Solidarisierungsschwung 2022 aufgebaut hat. Die Erfahrungen, die der Kultursektor in diesem Kontext unter erhöhtem Druck gemacht hat, kommen der Unterstützung von Kulturmachenden im Exil generell zugute – und gewährleisten einen nachjustierten Blick auf den Schutz kultureller Vielfalt.

In den Interviews mit den Künstlerinnen und Künstlern wurde deutlich, dass sie ihre Exilerfahrung auch als eine große Chance für den Wissenstransfer, für ihre berufliche und künstlerische Weiterentwicklung und für neue Kooperationen betrachten. Die Formen der Zusammenarbeit, die sich jetzt ergeben haben und weiter ergeben, sollten als Keimzelle für eine umfänglichere Zusammenarbeit mit Osteuropa auch auf Ebene der kulturellen Institutionen genutzt werden. Den Schutz und die Förderung der kulturellen Vielfalt auch über einen adäquaten Umgang mit Kunstschaffenden im Exil zu gewährleisten ist eine Daueraufgabe.

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Unterstützung für geflüchtete ukrainische Kulturmachende: Lesen Sie die Ergebnisse und Empfehlungen eines Interviewprojektes der Deutschen UNESCO-Kommission hier.

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Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2023.