Fast ein Jahr ist es her, da kehrte der Krieg in die Ukraine zurück. Seitdem begleiten uns die Bilder von Tod und Zerstörung. Ein Ende ist nicht in Sicht. Von diesem ersten Kriegsjahr wird man keine Bilanz ziehen wollen. Denn das zweite Jahr könnte noch schlimmer werden.
Der Osten des Landes ist über weite Strecken verwüstet, die Kräfte der Menschen dort schwinden; die Arsenale werden beängstigend leer, und die jüngsten Nachrichten von der Front klingen bitter. Hält die Ukraine weiter durch? Wann kommt die Frühjahrsoffensive der Russen? Das sind die einfachen Fragen, die viele umtreiben.
Auch das hehre Bild der Ukraine hat in den letzten Wochen gelitten; das Bild einer Nation, die tapfer für unsere Werte kämpft. Die elende Korruption ist wieder zurückgekehrt. Sie war wohl nie wirklich verschwunden. Dieses düstere Bild ließe sich weitermalen. Die Allianz der Unterstützer im Westen hat Risse bekommen. Und es lässt sich mit keiner Rhetorikverstecken, dass es auch im westlichen Verteidigungsbündnis knirscht. Zu Beginn dieses Krieges rückten alle zusammen, aber die alten Gegensätze sind nicht vergessen. Und unser Land steht wieder am Pranger.
Deutschland tut viel, aber es tut vielen immer noch nicht genug. Der Leopard wird plötzlich zum Gamechanger – und wahrscheinlich ist er es auch. Er ist das demonstrative Signal an Putin geworden: Der Westen sieht dem Untergang der Ukraine nicht tatenlos zu.
Das muss man sich alles vor Augen halten, um den Stoßseufzer zu verstehen, als der Weg plötzlich frei wurde für die neue Panzerkoalition. Selbst der notorische Nörgler an Deutschland, der frühere Botschafter Andrij Melnyk hat noch in der Nacht des Bekanntwerdens, auf Twitter ein jubelndes Halleluja gerufen, um dann sofort den Wunschzettel weiterzuschreiben, dass die Ukraine als Nächstes noch eine starke »Kampfjet-Koalition« braucht. Genau das, wovor die Kritiker immer warnen. Wir werden in den kommenden Wochen sehen, wie abschüssig das Gelände geworden ist.
Man rieb sich freilich die Augen in dieser Nacht und fragte sich, was da plötzlich geschehen ist. Kurz zuvor schien gar nichts zu gehen; und dann ging alles ganz schnell. War das die große Panzerwende, wie ein Nachrichtendienst umgehend schrieb? Ein »deutsch-amerikanischer Doppelwumms«, um in der Sprache des Kanzlers zu bleiben? Manche Kollegen feuerten in dieser Nacht schon los, da war die Entscheidung noch nicht einmal offiziell gefallen. Es ist faszinierend und verstörend zugleich, wie schnell die Deutungsmaschine zu rattern beginnt. Aus dem Zauderer Olaf Scholz wird unversehens der große Stratege, der selbst die Amerikaner in seinen Geleitzug zwingt. Kühlere Beobachter stellen bis heute die Frage, wer hier welchen Hund zum Jagen getragen hat. Denn dieser plötzliche Move, wie die jungen Leute sagen, könnte auch andersherum zu erklären sein. Die anderen westlichen Nationen haben einen Stuhlkreis um uns herum gebildet, und plötzlich waren wir Deutschen mit unserer deutschen Angst nicht allein.
Denn so ganz vergessen sind die davorliegenden Tage natürlich nicht, in denen man sich immer wieder die Frage stellen musste, was lähmt diesen Kanzler und wovor fürchtet er sich. Sein »sensationeller diplomatischer Erfolg«, wie die Kollegin der taz postwendend losposaunte, ist die eine Sicht auf die Dinge, die andere übersieht den Schaden nicht, der im westlichen Bündnis entstand. Deutschland traut sich wieder mal wenig und stellt sich lieber von hinten an.
Natürlich musste Scholz mit dem Widerstand in seiner Partei rechnen. Und der übliche Hinweis auf Helmut Schmidt und die Nachrüstung ist nicht fair. Denn es gab immer zwei Seelen in dieser Partei, und die waren sich selten einig. Mit den Trümmern ihrer Ostpolitik hadern die Sozialdemokraten bis heute, und sie tragen an ihrem pazifistischen Erbe schwer. »Frieden schaffen ohne Waffen« hieß die legendäre Parole. Sie hat in den Reihen der SPD wie in einer Zeitkapsel überdauert. Und ab und zu bricht sie auf.
Deshalb stimmt es auch nicht, von einer Zeit vor und einer Zeit nach diesem Krieg zu sprechen. Man sollte besser vom schmerzhaften Nebeneinander reden; die einen sterben, und die anderen schauen glücklicherweise von Weitem nur zu. Man muss sich inzwischen die Zeitpunkte notieren, an denen man schreibt. Denn fast täglich erschüttern uns andere Bilder. An jenem Tag waren es die einer verzweifelten Mutter, die den Schmerz über den Tod ihres Sohnes in die Welt hinausschrie. Auch die aufgerissene Wohnung bleibt mir vor Augen. Man spürt noch Leben darin und sieht es nicht mehr.
Und doch erstaunt mich der heitere Mut dieser jungen Soldaten. Sie gehen hinaus an die Front und sterben; und sie haben den Mund voller Erde, für die sie gefallen sind. Es ist ein archaischer Tod, für den es bei uns kaum Verständnis gibt. Das konnte man an jenem missglückten Silvester-Selfie von Frau Lambrecht sehen. Vielleicht war es nur unbedacht, vielleicht auch nicht. Es ist zur Travestie auf das Kriegsgeschehen geworden.
Jeder Krieg ende am Verhandlungstisch, heißt es. Aber was meint das für ein Land, bei dem es nicht um Sieg oder Niederlage geht, sondern um seine Vernichtung. Mein Schweizer Kollege Andreas Rüesch, der zu den besonnensten Beobachtern in diesem Krieg gehört, hat einer Verhandlungsoption widersprochen. Mit Putin, so schrieb er kürzlich in der NZZ, werde es einen Verhandlungsfrieden kaum geben. Ich fürchte, dass man ihm zustimmen muss. Dieser Krieg, der einen so entsetzlichen Anfang nahm, wird kein gütliches Ende finden. Und ich lese kopfschüttelnd, wie leichtfertig das Gegenteil häufig behauptet wird.
Erst jüngst hat der bekannte Rechts-philosoph Reinhard Merkel ein ius ex bello, also die Pflicht zu verhandeln, für die Ukraine in Anschlag gebracht. Aber was soll das für die Opfer anderes bedeuten, als sich den Tätern zu fügen. Trotzdem sind solche Debatten wichtig. Niemand weiß doch, wohin dieser Krieg wirklich führt. Und niemand hat einen richtigen Plan. Das macht uns doch so beklommen.
Ich habe dieser Tage eine Dokumentation auf ZDFzoom gesehen über junge ukrainische Menschen im Krieg. Über Anton, den Lehrer, der seinen Kindern das Rappen beibringt; die Fotografin Valeria, die lustige Videos über ihr Leben im Bunker dreht. Und Uliana, die Architektin. Ihr Lebensgefährte fiel im Sommer schon an der Front. Aber Weinen, sagt sie, werden wir später. Weinen werden sie erst nach dem Krieg.
Die Zeit, die danach kommt, wenn die Waffen endgültig schweigen, wird die vielleicht noch größere Bewährungsprobe sein. Es wird eine Zeit des Erzählens werden; die jungen Autoren stehen bereit. Es wird viel zu dokumentieren geben. Die Ukraine hat eine große fotografische Tradition. Das Land wird seine Kunstschätze retten müssen, seine Museen wiederaufbauen, die Kirchen, Theater. Aber das sind nur die äußeren Hüllen für den Umgang mit einer Erfahrung im Krieg, die grundstürzend war. Wie beginnt man ein Leben von vorne, wie reflektiert man es in der Kunst. Und wie überwindet man die kulturellen Verhärtungen, die nur noch ein Denken zuließen in den Kategorien Freund oder Feind.
Wir Beobachter werden auch dieses Mal überrascht sein. Die Kunst war nie verschwunden aus diesem Land. Die Musik spielte einfach weiter und eine junge Generation tritt hinaus in die Welt. Es mag zum jetzigen Zeitpunkt makaber klingen. Aber dieser Krieg hat die Grenzen durchstoßen und eben nicht nur an der östlichen Front. Diese junge Ukraine wird wie ein Haus ohne Fenster und Türen sein. Man kann hindurchblicken, aber auch wieder hinaus. Die postsowjetische Welt, die auf die Zeiten des Kommunismus folgte, geht in diesem Land unter Schmerzen zu Ende. Wir brauchen dann keine Panzer mehr schicken, nur unsere Bereitschaft, die Ukraine wirklich ankommen zu lassen, in einem freien Europa, für das sie gekämpft und sich geopfert hat. Es soll kein auftrumpfendes Europa sein, sondern eher ein leises. Und die Ukraine darf nicht zum waffenstarrenden Frontstaat werden. Der Krieg, so schrecklich er im Augenblick ist, bringt uns auch näher zusammen.