Die Hamburgerin Tina Uebel hat ihre Passion, das Reisen, auch zu ihrem Beruf gemacht. Als Schriftstellerin veröffentlichte sie unter anderem ihren Reisbericht »Nordwestpassage für 13Arglose und einen Joghurt«. Zudem ist sie als freie Journalistin und Literaturveranstalterin tätig. Jürgen König spricht mit ihr über Reisen, die einen selbst verändern – denn war es sonst überhaupt eine Reise?

Jürgen König: Frau Uebel, diese Lust, unterwegs zu sein – woher kommt sie?

Tina Uebel: Meines Erachtens ist sie angeboren. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemals nicht reisen wollte. Meine Barbie-Puppen – die waren immer am Amazonas, in den Polargebieten. Ich finde es sehr schön, dass die deutsche Sprache das Wort Fernweh kennt, denn es ist tatsächlich ein Weh, wenn ich lange nicht gereist bin. Ich weiß nicht, woher es kommt.

Könnte man also, in Anlehnung an Loriot, sagen: Ein Leben ohne Reisen ist möglich, aber sinnlos?

Ich habe sehr gute Freunde, die müssen nicht reisen. Das habe ich intellektuell schon verstanden. Aber wenn mir jemand sagt: »Reisen interessiert mich nicht so«, dann hört sich das emotional für mich so an, als ob jemand sagt: »Ach, atmen, das ist nicht so mein Ding.«

2010 sind Sie von Hamburg über Serbien und Bulgarien, die Türkei und den Iran, über Turkmenistan, Usbekistan und Kasachstan zum Goethe-Institut nach Shanghai gefahren – mit dem Zug bzw. mit sehr vielen Zügen. Sie hätten auch fliegen können, lehnten das aber ab, aus Klimaschutzgründen?

Ja, auch, ich fliege nicht gerne. Aber vor allem, weil ich Bahnfahren toll finde! Ich unterhalte mich so gern mit Menschen. Wenn es beim Bahnfahren nicht diese entsetzlichen Großraumabteile gibt, sondern diese schönen traditionellen kleinen Abteile, da hat man halt immer Kontakt.

Eine solche Reise vorzubereiten stelle ich mir sehr aufregend vor.

Oh ja. Man kriegt ein Visum nur, wenn man ein Flugticket vorweist. Ein Flugticket hatte ich nicht, da musste ich mit der Bahn Ein- und Ausreise belegen. Die Ausreise muss man wiederum belegen mit dem Visum vom nächsten Land, aber die gaben das erst, wenn du das davor schon hattest. Und dann die Bahnverbindungen! Da gibt es Gott sei Dank Bahnfahrt-Freaks im Internet, die auch die abwegigste Route noch beschreiben. Aber teilweise wurden die Bahntickets erst eine Woche vorher verkauft, und der Zug fuhr auch nur einmal die Woche. Das dann alles zusammenzubasteln war aufreibend, aber natürlich auch relativ lustig.

Hätten Sie nicht einfach die Transsibirische Eisenbahn nehmen können?

Schon, aber wegen schwerer Überbirkung kam das nicht infrage. Tagelang das gleiche Bild vor dem Abteilfenster! Ich mag es, Landesgrenzen zu sehen und wie sich Kultur und Landschaft graduell verändern – und diese Erfahrung war dann wirklich fantastisch. Es war komischerweise gar nicht so weit. Die meisten Leute denken, ich habe zwei Monate nur in der Bahn gesessen. Nein, hauptsächlich war ich vor Ort. Ich habe mir Dinge angeguckt, und da dachte ich oft: Mensch, sie sieht so groß aus, die Welt, und ist doch so klein. Im Grunde ist Shanghai auch nur ein Vorort von Hamburg.

Wie gehen Sie mit möglichen Gefahren um? Ist Unvorhersehbares Teil des Unternehmens?

Ja, unbedingt. Ich möchte schon, dass es mich fordert. Dass ich lerne und über mich selbst hinauswachsen muss. Ich war als Kind und Jugendliche sehr, sehr schüchtern. Ich musste dann erst mal lernen: So geht das nicht, so kannst du nicht reisen. Ich mache immer Langwanderungen in den Alpen. Die Alpen sind einer der schönsten Orte auf Erden. Dort dann auch allein zu sein und zu wissen, wenn ich mich in die »Scheiße« hineinreite, muss ich halt auch wieder rausreiten! Wenn man von einer Reise zurückkommt und man ist immer noch genau derselbe, dann war es nicht wirklich eine gelungene Reise.

Was braucht man, um den Herausforderungen standhalten zu können?

Ich glaube, eine der allerwichtigsten Fähigkeiten des Reisenden muss Humor sein. Und auch Selbstironie, man sollte sich auch dann über sich selbst freuen können, wenn man plötzlich dasteht wie der größte Depp. Ich finde, eines der schönsten Dinge beim Reisen ist: Dass man dann bemerkt, wenn man dasteht und nichts begreift, wie wahnsinnig viele Leute einem ständig helfen wollen, also geradezu überbetüdeln, das finde ich wunderbar. Viele Leute haben Angst vorm Reisen, wo ich dann immer denke – ja, es gibt natürlich die Tunichtgute, aber auf einen Tunichtgut kommen wahrscheinlich 98 Menschen, die sich dumm und krumm machen, um dem doofen Touristen, der in der Gegend rumsteht, irgendwie weiterzuhelfen. Und das ist wunderschön.

Sich selbst mit Ironie zu sehen, die Freundlichkeit anderer zu erfahren und auch zuzulassen … Was lehrt einen das Reisen noch?

Eine Lehre ist sicherlich, Dinge zu hinterfragen. Einer meiner Lieblingssätze zum Reisen ist von Alexander von Humboldt. Er lautet sinngemäß, dass es nichts Bedrohlicheres gibt als die Weltanschauung von Menschen, die die Welt nicht angeschaut haben. Ich glaube, als Reisender weiß man, woanders kann es alles anders sein. Man lernt Toleranz. Man lernt, dass man je nach Kultur auf Menschen stößt, die wunderbare Menschen sind und dann aber plötzlich Ansichten haben, die den Selbstverständlichkeiten unserer Kultur total zuwiderlaufen. Deswegen sind sie nicht schlecht und keine Ungeheuer, sondern sie sind einfach in ihrer Kultur aufgewachsen. Man lernt, dass man Menschen viel komplexer beurteilen muss.

Sie haben als Crewmitglied auf einer Segelyacht die legendäre Nordwestpassage durchquert, also vom Atlantik aus den amerikanischen Kontinent durchs Nördliche Eismeer umrundet, und darüber das Buch »Nordwestpassage für 13 Arglose und einen Joghurt« geschrieben. Darin heißt es: »Einer der vielen ebenso reizvollen wie furchteinflößenden Aspekte des Reisens ist, sich unter fremden Menschen (…) neu erfinden zu müssen (…). Vor einer jeden Reise bin ich nicht nur gespannt auf die Welt und die Menschen, die ich entdecken werde, sondern auch neugierig und beunruhigt darüber, wer ich sein werde.« Welche Erfahrungen haben Sie mit diesem »sich selbst neu erfinden« gemacht?

Sehr gute. Es ist tatsächlich so, dass ich das Gefühl habe, dass ich beim Reisen ganz und gar ich selbst bin. Reisen ist auch eine Kunst. Ich kann das gut, weil ich gut mit Menschen umgehen kann, und das ist für mich beim Reisen wichtiger als Weltkulturerbe abzuhaken. Ich kann mich über Dinge, die schieflaufen, meistens wunderbar amüsieren; wenn ich mich auf den Weg mache, habe ich das Gefühl, mein eigentliches Ich kommt heraus.

Ist es für Sie wichtig, allein zu reisen? Reist man allein anders?

Es ist natürlich schwierig, jemanden zu finden, der auf einer Wellenlinie schwimmt, wo man sich gut ergänzt. Ich habe, Gott sei Dank, einen Reisegenossen gefunden, mit dem ich seit 20 Jahren reise, und das funktioniert hervorragend. Aber ich reise auch gerne allein. Das ist tatsächlich etwas, wo man einfach noch viel offener ist, wo viel mehr Begegnung stattfindet. Dann gibt es die Sachen, wo man einen Guide braucht, weil man sonst völlig verloren ist, weil es gar nicht anders geht, auch die Organisation vor Ort. Einige Sachen gehen nur in Gruppen – das finde ich wirklich schwierig. Ein »Vollhonk« in der Gruppe kann die ganze Sache zerschießen, in der Außenwirkung wird die Gruppe entsprechend ganz anders wahrgenommen. Da wird nicht mehr differenziert, auch wenn die anderen sich zu benehmen wissen. Das tue ich wirklich sehr, sehr ungern.

Das Schreiben über das Reisen – wann findet es statt? Vor, während, nach der Reise?

Ich schreibe sehr, sehr detailliert Reisetagebuch, weil mein Gedächtnis unterirdisch schlecht ist. Eine Reise lebt nicht nur von diesen spektakulären Momenten, sondern dieses Gesamtkunstwerk Reise lebt auch von so viel kleinem Scheiß, den man so gerne vergisst. Running Gags, einen Song, den man gehört hat. Running Gags sind ganz, ganz wichtig, wenn man mit jemandem zusammen reist. Musik, Kleinkram, alles das, was man vielleicht hinterher nicht mehr erinnern würde. Das heißt, dass ich alles wirklich sehr, sehr, sehr intensiv aufschreibe. Es ist auch eine Menge Arbeit, und wenn ich irgendwo bin, wo ich mit der Hand schreiben muss, habe ich hinterher immer eine Sehnenscheidenentzündung.

Wie nehmen Sie Abschied von so einem »Gesamtkunstwerk Reise«?

Ach, ich liebe auch Hamburg sehr, ich bin hier verwurzelt, es ist meine Stadt, mein Heimathafen. Ich habe meistens nicht so wahnsinnig viel dagegen, nach Hause zu kommen. Es gibt aber Ausnahmen, ich habe schon zweimal echt geheult, als eine Reise zu Ende war, weil ich sie nicht enden lassen wollte. Es gibt so intensive Begegnungen. Zeit läuft anders auf Reisen. Das ist manchmal furchtbar schwierig.

Welche Reiseträume gibt es?

Viele! So möchte ich noch mal länger in die Mongolei zurück, das war eine der Reisen, wo ich hinterher geheult habe, weil ich nicht wieder wegwollte. Aber es gibt so vieles. Ich war z. B. noch nie im Baltikum. Also, es müssen nicht immer die ganz fernen Dinge sein. Die Welt ist überall so interessant und faszinierend. Wahrscheinlich selbst in Hannover …

Vielen Dank.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 10/2023.