Über 20 Jahre war Volker Faigle Bordseelsorger auf Kreuzfahrtschiffen. Mit Ludwig Greven spricht er über die Bedürfnisse der Passagiere, nächtliche Gottesdienste für die Besatzung und anderes mehr.

Ludwig Greven: Wie sind Sie zum Kreuzfahrtseelsorger geworden?

Volker Faigle: Ein Kollege, zuständig für die Bordseelsorge im Bereich der evangelischen Kirche, sprach mich an. Er sei auf der Suche nach »weltoffenen und kommunikativen« Theologen für diesen besonderen kirchlichen Dienst. Die Evangelische Kirche in Deutschland entsendet in der Regel für zwei bis vier Wochen Pfarrerinnen und Pfarrer, die von ihren jeweiligen Landeskirchen für diesen ehrenamtlichen Dienst freigestellt werden. Die Passage ist jedoch frei. Zögerlich habe ich damals zugesagt. Heute kann ich sagen, dass ich Bordseelsorge als wertvollen kirchlichen Dienst lieben und schätzen gelernt habe.

Hatten Sie selbst vorher schon einmal eine Kreuzfahrt gemacht?

Nein, die Welt der Kreuzfahrten war mir bis dahin fremd. Jedoch habe ich schnell die Relevanz dieser auf den ersten Blick ungewöhnlichen Form der Seelsorge erkannt. Gerade auf Kreuzfahrtschiffen kommen Menschen rasch zur Ruhe, haben Zeit, über sich und ihr Leben nachzudenken. Sie suchen dann auch geeignete Gesprächspartner.

Gibt es auf vielen Kreuzfahrtschiffen Bordseelsorger?

Die Zahl der Reedereien und Reiseveranstalter, die Bordseelsorge in ihr Programm aufnehmen, ist überschaubar. Manche bieten dies das ganze Jahr über an. Andere nur zu Weihnachten und Ostern, da Festgottesdienste zu diesen Zeiten von den Gästen geschätzt und gerne besucht werden. Zu den Aufgaben zählen Gottesdienste, Andachten, Vorträge und das Angebot, für Gespräche bereitzustehen. Abwechselnd mit der Evangelischen Kirche beteiligt sich auch die Katholische Kirche an diesem Dienst. Dabei verstehen sich die Bordseelsorger in ökumenischem Geist als Vertreter beider Kirchen.

Ist es nicht merkwürdig, dass immer mehr Menschen die Kirchen verlassen, aber auf Kreuzfahrten Seelsorge Teil des Unterhaltungsprogramms ist?

Es ist in der Tat so, dass die Theologen auf dem Schiff zum Kreis der Bordkünstler zählen. Manche der »Künstlerkollegen« empfinden es zunächst ähnlich merkwürdig, eine Pfarrerin oder einen Pfarrer als Kollegen zu haben. Nach einem ersten Kennenlernen gelingt es jedoch erstaunlich oft, mit Musikern, Schauspielern, Sängern, Kunsthändlern oder Tanzpaaren einen Auftritt zu planen. Hier ist die kommunikative Kompetenz eines Bordpfarrers gefragt. Manchmal melden sich auch Gäste, die gerne bei den Gottesdiensten mitwirken. Viele kommen aus Tradition. Andere wiederum berichten, dass sie mit Kirche »nichts am Hut« haben oder aus der Kirche ausgetreten sind. Sie kommen dennoch, vielleicht weil sie Geborgenheit suchen oder schlicht nach etwas, das ihrer Seele guttut. Niederschwellige Angebote, fantasie- und liebevoll gestaltete Gottesdienste und persönliche Zuwendung wecken Interesse und sind der Schlüssel für Begegnungen.

Mir ist darüber hinaus wichtig, für die Schiffsbesatzung da zu sein. Ihr wird z. B. tief in der Nacht nach einem anstrengenden Arbeitstag ein englischsprachiger Gottesdienst angeboten, der immer guten Anklang findet. Mit der Zeit kennt man sich, redet bei verschiedenen Begegnungen miteinander. Dabei spielen oft das Heimweh und das Getrenntsein von den Familien zu Hause eine große Rolle.

Mit welchen Anliegen kamen Passagiere zu Ihnen?

Oft bleibt es bei einem freundlichen Plaudern oder bei allgemeinen Themen über Gott und die Welt. Berichte der Enttäuschung über Erfahrungen mit der Kirche kommen ebenso zur Sprache wie persönliche Anliegen. Manche reden über Dinge, die angesichts des Alters noch zu ordnen sind. Die Bedeutung der Bordseelsorge schätze ich als hoch ein. Zu einem offenen Gespräch trägt auch die Tatsache bei, sich einem Seelsorger anvertrauen zu können, von dem man sich in wenigen Tagen nach Beendigung der Kreuzfahrt wieder verabschiedet.

Kamen Passagiere auch mit Glaubensfragen?

Die Bandbreite der Anliegen ist groß. Von dogmatischen Fragen wie der nach der Trinitätslehre bis zu Glaubenskrisen oder ganz praktischen Anliegen, wie die Sorge der Großeltern über ihre noch nicht getauften Enkelkinder.

Was unterscheidet die Situation an Bord vom Alltag in den Gemeinden?

Der Unterschied liegt meiner Meinung nach darin, dass sich Menschen in einer Urlaubs- und Ruhesituation befinden. Sie wollen ihre Zeit genießen und abschalten. Ständig negative Nachrichten von Krieg und anderen Problemen wenigstens eine kurze Zeit hinter sich lassen. Nicht wenige begleitet auch der Verlust eines Menschen durch Trennung oder Todesfall und die Erinnerung an frühere gemeinsame Reisen. Es ist eine besondere Situation, die auch Raum zum Reflektieren des eigenen Lebens gibt. Manche nehmen dann gerne die Gelegenheit wahr, den auf dem Schiff präsenten, bisher unbekannten Pfarrer sprechen zu können.

Bei den Begegnungen ist der Wunsch nach Verdrängung genauso zu respektieren wie der Wunsch, sich mit den eigenen Problemen auseinanderzusetzen. Wie tief das seelsorgerliche Gespräch geht, kommt immer auf die Situation an, es gleicht einer Gratwanderung.

Sie nehmen ihre Sorgen und Nöte also doch auf die Kreuzfahrt mit?

Viele Gäste haben sie in ihrem Reisegepäck. In der entspannten Situation der Kreuzfahrt werden sie von diesen nicht selten eingeholt. Das habe ich immer wieder erlebt. Nach den Gottesdiensten, einem Abendessen oder beim Nachmittagstee. Da kann es auch mal zu einem tiefgehenden Vieraugengespräch kommen.

Die Veranstalter reden nicht gerne darüber. Aber es ist bekannt, dass regelmäßig Passagiere auf Kreuzfahrten über Bord gehen, oft als Suizid: eine letzte schöne Reise, dann Schluss. Sind Menschen mit solchen Absichten zu Ihnen gekommen?

Es hat sich bewährt, dass ich mich zu Beginn jeder Reise beim Schiffsarzt vorstelle, um die Bereitschaft zu signalisieren, zur Stelle zu sein, wenn »Not am Mann« ist. Auch über diese Schiene kam es vor, dass Gäste an den Bordpfarrer vermittelt wurden. Suizide und andere Todesfälle kommen vor, aber lange nicht so häufig, wie oft kolportiert wird. Einen Suizid habe ich an Bord noch nicht erlebt, das Thema war auch nie Gegenstand in den Gesprächen. Todesfälle werden auf dem Schiff diskret behandelt, um bei den Passagieren keine Spekulationen oder gar Verstimmungen hervorzurufen. Bei Todesfällen auf dem Schiff habe ich die Hinterbliebenen in enger Kooperation mit dem Kapitän und der zuständigen Gästebetreuung begleitet und eine mögliche Aussegnung angeboten. Dieser Dienst wird sowohl von den Hinterbliebenen als auch vom Reiseveranstalter sehr geschätzt.

Vielen Dank.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 10/2023.