Mit der DDR verschwand auch der Plattensee«, schrieb die ungarische Schriftstellerin Noémi Kiss in ihrer Erzählung »Honeckerschlappen«. Weiter: »Als junges Mädchen konnte ich kaum erwarten, bis es Sommer war und wir zum Plattensee fuhren. Nicht nur, weil ich baden wollte, im Schlamm wühlen, am Steg angeln. Sondern weil ich dann die deutschen Mädchen treffen würde. Die deutschen Mädchen kamen im Wartburg oder im Trabant. Genau wie wir, mit fünf Kilo Kartoffeln auf dem Dach, weil am Plattensee das Gemüse teurer war, wegen der Deutschen. Sie kamen jedes Jahr, und wir wurden zusammen groß. Den ganzen Sommer spielten wir, im Bikini, im Unterhemd, in schlabbrigen Trainingsanzügen und Turnhosen oder auch nackt, denn für die deutschen Mädchen war das normal. Sie bekamen einen Busen, und immer noch lagen sie ohne Bikini am Strand. Ungezwungen, glücklich, laut waren sie. (…) Im Wasser spielten wir mit den Deutschen, denen wir dann Jahre später von Budapest aus halfen, über die Grenze in den Westen zu kommen.«
Ja, der Plattensee, im Ungarischen: Balaton, war das sommerliche Sehnsuchtsziel vieler in der DDR. Man traf alte Bekannte aus Dresden und Schwerin, lernte neue kennen aus Amsterdam oder Linz. Tauschte Gedanken aus und Adressen. Die anderen wollen wissen, ob dieser Urlaub für Ostler auch so preiswert sei wie für sie? Nein! Campingurlauber aus der DDR erkannte man unter anderem daran, dass sie zur Abendbrotzeit ihre kleinen 90-Pfennig-Wurstdosen auf den Tisch brachten: Blutwurst, Leberwurst, Jagdwurst, Mortadella. Die Auswahl zwischen vier Sorten überschaubar, Restaurantbesuche waren kaum möglich. Viele trafen sich am Balaton mit ihren Verwandten aus Westdeutschland, die einen sehr günstigen Umtauschkurs hatten. Besonders beliebt war der deutsch-deutsche Zeitungstausch: Westdeutsche Camper brachten Stapel von Magazinen und Wochenzeitungen mit. Vom Spiegel bis zur Frau im Bild konnte man in die Abgründe bundesdeutscher Zeitungswirklichkeit tauchen. Die Vorstellung, dabei frei und unbeobachtet zu sein, erwies sich als irrig.
1996 fand ich bei Einsicht in meine Stasiakte minutiös aufgelistet, mit wem ich mich wann am Balaton unterhalten und welche Zeitungen ich mir von wem ausgeborgt hatte, sogar, mit wem ich abends Pálinka getrunken hatte.
Höhepunkt der Ferien war ein Kurztrip nach Budapest, dem Paris des Ostens. Dort kaufte man das eine oder andere Paperback westdeutscher Verlage, Nivea-Creme oder Kleidung aus kleinen, privaten Schneidereien, die in den Höfen der prächtigen Budapester Gründerzeithäuser angesiedelt waren.
Wer privat an die »Riviera« der DDR-Urlauber reisen wollte, d. h. ans Schwarze Meer nach Bulgarien, musste für einen Urlaub über das DDR-Reisebüro tief ins Portemonnaie greifen oder die landschaftlich reizvollen Campingplätze mit Stehklo ansteuern. Da DDR-Urlaubsziele (mit vernachlässigbaren Ausnahmen) nur in eine Himmelsrichtung führten, waren die Ferienmöglichkeiten begrenzt. Polen und die Tschechoslowakei gehörten zu den bereisten Ländern. Böhmerwald und Tatra, Prag oder Krakau versprachen eindrückliche Landschaft, überraschende Einsichten und in beiden Städten eine scheinbar unerschöpfliche Verbindung von Poesie und Musik. Viele DDR-Familien blieben jedoch im Land. Die Möglichkeiten eines privaten Urlaubs waren begrenzt. Das Reisebüro verfügte über eine vergleichsweise geringe Zahl an Ferienhotels. Privatquartiere wurden streng reglementiert, in besonderer Weise die an der Ostseeküste. Dort regelte das DDR-Grenzgesetz, dass Einheimische nur an Verwandte vermieten durften. Und so mancher gute Freund eines Küstenbewohners mutierte zum »Großcousin« oder bekam die Garage »schwarz« vermietet. Zu den Verboten gehörte auch die Tour mit dem eigenen Boot auf der Ostsee. Trotzdem endete mancher Ostseeurlaub mit nächtlicher »Republikflucht« per Boot. Deshalb holten wohl Grenzsoldaten Luftmatratzen-Schwimmer, die sich verdächtig weit vom Strand entfernt hatten, sofort zurück.
Das permanente Misstrauen gegenüber den eigenen Landsleuten vertrug sich schlecht mit dem Prestigeobjekt »Hotel Neptun« im Ostseebad Warnemünde, mit dem die DDR auch im Bereich Tourismus Welt- und Westniveau beweisen wollte. Ins Leben gerufen hatte es Walter Ulbricht. Der 19-stöckige Bau wurde von der schwedischen Firma SIAB in Strandnähe errichtet und im Juni 1971 eröffnet als ein Hotel, in dem nur mit Devisen bezahlt werden konnte. Locken wollte die DDR den betuchten Westurlauber. Doch nach der Entmachtung Walter Ulbrichts kam es anders. Sein Nachfolger Erich Honecker versprach »Wohltaten fürs Volk«, und das »Neptun« öffnete auch den Werktätigen die Tore. 80 Prozent der Hotelkapazität durften nun für FDGB-Urlauber, kurz für Freier Deutscher Gewerkschaftsbund, bereitgestellt werden. Dass in ausgesuchten Zimmern Mikrofone und Kameras installiert waren, um über die deutsch-deutschen Kontakte informiert zu sein, hätte man ahnen können.
Vielleicht auch deshalb praktizierten die Zelter eine ganz andere Form des Urlaubs; 1954 zählte die DDR-Statistik 10.000, 1959 schon 172.000 und 20Jahre später eine halbe Million Campingfreunde. Sie wähnte sich frei jeder Kontrolle.
Während der acht Wochen Sommerferien waren besonders beliebte Campingplätze allerdings überlaufen, außerdem war ein Zeltschein nötig, um überhaupt sein wasserdichtes Stoffhaus aufschlagen zu dürfen. Das Anstehen dort nach Brötchen, Bier oder Eis und die gewöhnungsbedürftigen Sanitäranlagen schreckten die Zelter nicht ab.
Wem all das zu umständlich oder zu teuer war, wer keinen privaten Rückzugsort in die eigene »Datsche«, ein Grundstück mit eigenem Garten- oder Wochenendhaus hatte, bewarb sich um einen Platz in den preiswerten, aber einfachen FDGB-Ferienheimen. Die Ferienkommissionen der Betriebe entschied nach einem Punktesystem, wer fahren durfte und wer nicht. Urlaub im FDGB-Heim war beliebt, obwohl es sich um einen Massenurlaub mit geregelten Essenszeiten und organisiertem Spaß handelte. Ein Sieben-Tage-Urlaub im Harz kostete 1960 17,50 Mark. Aufenthalte an der Ostsee waren etwas teurer, und man musste eine beträchtliche Punktzahl aufweisen, um für einen solchen Platz infrage zu kommen. Für besonderes gesellschaftliches Engagement gab es auch besondere Reisemöglichkeiten. Beispielsweise Betten in Interhotels und Kajüten auf den FDGB-Schiffen »Völkerfreundschaft« oder »Fritz Heckert«, die ihren Namen 1959 dem KPD-Gründungsmitglieds Fritz Heckert verdankte, der zu Lebzeiten mit Walter Ulbricht befreundet war und von den DDR-Offiziellen als Held verehrt wurde. In den 1980er Jahren kam die »Arkona« dazu, das »Traumschiff für Arbeiter und Bauern«.
Inzwischen kann man ohne Punktzahl an die Ostsee reisen. Vermutlich zu einem höheren Preis. Auch ans Schwarze Meer oder an den Balaton fahren die einst dorthin Reisenden gelegentlich noch.
»Der ungarische See ist zu einem globalisierten Touristenzentrum geworden, glitzernd und funkelnd, Wellnesshotels, Jachthäfen und gewaltige Einkaufszentren entstehen. Auf dem deutschen Campingplatz schlagen die Holländer und Dänen ihre Zelte auf. Für sie mähen und gießen die Ungarn jetzt das Gras«, resümierte Noémi Kiss am Ende ihrer Erzählung.