Vor dem Hintergrund von mehr als 75.000 Meldungen von NS-Raubkunst fordert die Beratende Kommission NS-Raubkunst mehr Kompetenzen, die Stärkung der Opfer und ein Bundesgesetz, das der Verantwortung, die der deutsche Staat als Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches trägt, gerecht wird.
Vor 20 Jahren wurde die Beratende Kommission NS-Raubgut von Bund, Ländern und kommunalen Spitzenverbänden eingesetzt. Dieser rechtspolitische Akt war eine Konsequenz aus der Teilnahme der Bundesrepublik Deutschland an der Konferenz in Washington am 3. Dezember 1998. An der Konferenz mit dem Titel »Washington Conference on Holocaust-Era-Assets«, zu Deutsch »Washingtoner Konferenz über Vermögenswerte aus der Zeit des Holocaust«, nahmen 44 Staaten – darunter die Bundesrepublik Deutschland – teil und verabschiedeten elf Grundsätze, mit deren Hilfe die teilnehmenden Staaten die Suche, das Auffinden und die Restitution von NS-Raubkunst wieder aufnehmen und auf ihre jeweiligen staatlichen Agenden setzen sollten. Madeleine Albright, ehemalige Außenministerin der USA, fasste ihr Verständnis von historischer Verantwortung zum Abschluss der Konferenz so: »Wir können alles in unserer Macht stehende tun, um Dunkelheit durch Licht, Ungerechtigkeit durch Fairness, Unwahrheit durch Wahrheit zu ersetzen.« In diesem Sinne ist der Kern der Washingtoner Grundsätze die Aufforderung, »gerechte und faire« Lösungen zu finden.
Obwohl bis zur Einsetzung der Beratenden Kommission NS-Raubgut fünf Jahre vergingen, war dies doch eine direkte Konsequenz der in Washington verabschiedeten Grundsätze, deren Nummer 11 bestimmt, dass die Staaten dazu »aufgerufen« werden, »alternative Mechanismen zur Klärung strittiger Eigentumsfragen« zu schaffen. Entsprechend heißt es in dem Gründungspapier, der »Absprache zwischen Bund, Ländern und kommunalen Spitzenverbänden zur Einsetzung einer Beratenden Kommission im Zusammenhang mit der Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturguts, insbesondere aus jüdischem Besitz«, dass die Beratende Kommission eine »Mediation« anbiete für den Fall, dass die Parteien dies »wünschen«.
Auf ihrer ersten Sitzung am 14. Juli 2003 wählten die berufenen acht Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens Jutta Limbach, die frühere Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts der Bundesrepublik Deutschland, zu ihrer Vorsitzenden. Ihr Vertreter wurde Thomas Gaehtgens, weitere, zum Teil hochkarätige Mitglieder waren der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker, Günther Patzig, Dietmar von der Pfordten, Reinhard Rürup und Ursula Wolf. Die ehemalige Präsidentin des Deutschen Bundestages, Rita Süssmuth, war von Anbeginn an Mitglied der Beratenden Kommission, und sie ist es auch heute noch. Seit 2016 gehören der Kommission zusätzlich zwei jüdische Mitglieder an, sodass die Kommission heute zehn Mitglieder zählt.
Die Beratende Kommission arbeitet auf der Grundlage der Washingtoner Grundsätze und Nachfolgevereinbarungen, der »Gemeinsamen Erklärung« von Bund, Ländern und kommunalen Spitzenverbänden sowie einer sogenannten Handreichung in ihrer jeweils aktuellen Fassung und einer Verfahrensordnung. Keine dieser Grundlagen entfaltet eine rechtsnormative Kraft. Zwar benennt die Handreichung grundlegende Voraussetzungen, bei deren Vorliegen von NS-Raubkunst auszugehen ist, sie ist aber kein Gesetz, sondern sogenanntes Soft Law und damit kein verbindliches Regelwerk.
Im Verlauf ihres 20-jährigen Bestehens hat die Beratende Kommission in 23 Fällen Empfehlungen abgegeben. In zwölf Fällen hat sie die Rückgabe empfohlen, davon in drei verbunden mit einer Auflage. In vier weiteren Fällen hat die Kommission zwar empfohlen, das Werk in der betroffenen Kultureinrichtung zu belassen, aber den Anspruchstellenden eine Entschädigung zu zahlen.
Die Empfehlungen der Beratenden Kommission haben von Anfang an für viel Aufsehen gesorgt und werden im In- und Ausland als wegweisend angesehen. Sie beeinflussen maßgeblich die Entscheidungsfindung von Museen und ihren staatlichen oder kommunalen Trägern sowie den Kunstmarkt. Vor allem aber haben sie eine wichtige Signalfunktion für die Opfer und deren Nachfahren. Denn die Empfehlungen zu bestimmten Fallkonstellationen ermutigen die Opfer, in ähnlich gelagerten Fällen Ansprüche anzumelden.
Aber warum gab es in den 20 Jahren des Bestehens der Beratenden Kommission nur 23 Empfehlungen, wenn gleichzeitig davon ausgegangen werden muss, dass sich bis heute Zigtausende geraubter Kunstobjekte noch immer in öffentlichen Einrichtungen befinden und also nicht zurückgegeben worden sind? Allein in der deutschen Lost-Art-Datenbank, die internationale Such- und Fundmeldungen von NS-Raubgut listet, finden sich über 75.000 Einträge, mehrheitlich Suchmeldungen der Opfernachfahren. Darüber hinaus gibt es weitere ungezählte Fälle von NS-Raubkunst. Für sie fehlen bis heute die benötigten Hinweise oder Erkenntnisse, um einen Eintrag bei Lost Art veranlassen zu können.
Die geringe Anzahl von Empfehlungen der Kommission beruht darauf, dass die Opfer und deren Nachfahren nur dann vor die Kommission ziehen können, wenn die kulturgutbewahrende Einrichtung einer Anrufung der Kommission zustimmt. Diese sogenannte beidseitige oder auch gemeinsame Anrufung ist bereits in dem erwähnten Gründungspapier geregelt. Dort heißt es: Es werde eine »unabhängige Beratende Kommission gebildet, die im Bedarfsfall gemeinsam angerufen werden kann«.
Dieses Erfordernis der beidseitigen Anrufung der Beratenden Kommission ist fast von Beginn an Anlass für Ärger seitens der Opfer und ihrer Nachfahren gewesen. In der Konsequenz bedeutet diese Konstruktion nämlich, dass die Opfer keinen Anspruch auf Klärung der Restitutionsfrage hinsichtlich eines umstrittenen Werkes haben. Oder, anders formuliert, die Museen und andere öffentlichen Einrichtungen, die Kulturgut verwahren, können ein Vetorecht gegen eine Klärung vorbringen.
Traurige Berühmtheit hat in diesem Kontext der Fall »Madame Soler« erlangt, ein Gemälde von Pablo Picasso aus der sogenannten Blauen Periode, das heute den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen gehört. Früherer Eigentümer war die Familie Mendelssohn-Bartholdy. Seit nunmehr über zehn Jahren verweigert das Museum mit Zustimmung der Bayerischen Staatsregierung und des Bayerischen Landtags die Teilnahme an dem Verfahren mit der Begründung, es handele sich bei dem Kunstwerk nicht um Raubkunst. Die Klärung, ob das Kunstwerk als Raubkunst anzusehen ist, wäre aber gerade die Aufgabe der Kommission und nicht der von dieser Feststellung betroffenen Institution.
Bereits bei der Konferenz in Berlin im Jahr 2018 zum 20. Jahrestag der Washingtoner Grundsätze war die nicht mögliche einseitige Anrufung Thema. Die frühere Staatsministerin Monika Grütters verkündete vor rund tausend Teilnehmenden, dass künftig alle Museen, die vom Bund mit Mitteln für die Provenienzforschung unterstützt würden, verpflichtet seien, jedem Antrag von Nachfahren auf Anrufung der Beratenden Kommission zuzustimmen. Diese Vorgabe allerdings ist bislang heute nicht wirklich umgesetzt. Faktisch läuft das auf ein Vetorecht der übergroßen Mehrheit der kulturgutbewahrenden öffentlichen Einrichtungen hinaus. Aus Sicht der Opfer und deren Nachfahren ist das unzumutbar und unangebracht; sie können ihre Anliegen nicht vor die Kommission bringen und klären lassen, sofern die öffentlichen Einrichtungen nicht einverstanden sind.
2023: Memorandum
Aus Sicht der Beratenden Kommission sind ihre Stellung, vor allem aber die Grundlagen ihrer Arbeit insgesamt reformbedürftig. Daher haben die zehn Mitglieder der Beratenden Kommission NS-Raubgut einmütig ein Memorandum verfasst, das sich an die Politik wendet. Im Zentrum steht die Kritik, dass das Fehlen einer gesetzlichen Grundlage für eine Institution, die im Land der Täter über die Rückerstattung von NS-verfolgungsbedingt abhandengekommenen Kulturgütern zu befinden hat, unangemessen und ungenügend ist. Es fehlt ein klares Bekenntnis der Politik in Gestalt rechtlich verbindlicher Vorgaben für die Aufarbeitung der bis heute nicht restituierten Raubkunstfälle. Allein auf der Basis eines förmlichen Bundesgesetzes können die drei grundlegenden Forderungen an ein angemessenes und hinreichendes Restitutionsrecht erfüllt werden: 1. Die einseitige Anrufbarkeit der Kommission, 2. die Bindungswirkung ihrer Entscheidungen und schließlich 3. die Möglichkeit, Restitutionsverfahren auch dann einzuleiten, wenn die Kulturgüter sich in privater Hand befinden. Aus der Beratenden Kommission muss – auf gesetzlicher Grundlage – eine entscheidende Kommission werden.
Der gegenwärtige Regelungszustand in Fragen der Restitution NS-verfolgungsbedingt entzogener Kulturgüter ist nach alledem höchst unbefriedigend. Die Mängel sind systembedingt, weil Bund, Länder und Kommunen es sich vor gut 20 Jahren relativ leicht gemacht und auf eine gesetzliche Regelung verzichtet haben. Diese muss jetzt dringend nachgeholt werden, damit im In- und vor allem auch im Ausland die Kritik verstummt, dass die Bundesrepublik Deutschland nicht hinreichend in der Lage und auch nicht wirklich willens ist, das NS-Unrecht im Hinblick auf die Kulturgüter angemessen wiedergutzumachen. Diese Kritik ist aus der Sicht der Beratenden Kommission deshalb besonders misslich, weil sie die bisherige Arbeit der Beratenden Kommission insgesamt zu diskreditieren geeignet ist, obwohl die Leistungen der Kommission in den letzten zwei Jahrzehnten im Rahmen der vorgegebenen systembedingten engen Grenzen durchaus als erfolgreich und effektiv zu bewerten sind.
Auf der Veranstaltung zum 20-jährigen Bestehen der Beratenden Kommission am 14. September dieses Jahres im Jüdischen Museum in Berlin kündigte die Staatsministerin für Kultur und Medien, Claudia Roth, an: »Wir wollen eine einseitige Anrufung der Kommission ermöglichen.« Wenige Wochen später, am 11. Oktober, berichtet Frau Roth in einer Pressemitteilung: »Ich freue mich darüber, dass wir uns heute auf einen gemeinsamen Reformweg verständigen und wichtige gemeinsame Prinzipien verabreden konnten. Hierzu zählt für mich insbesondere die Frage der einseitigen Anrufbarkeit.« Ob und wie diese Ankündigung umgesetzt werden wird, bleibt aber völlig offen. Deutlich ist aber schon jetzt: Es bleibt leider höchst zweifelhaft, ob sich die Politik für eine gesetzliche Regelung des Restitutionsrechts einsetzen wird.