Dicke Atlanten, Reisebeschreibungen, Bildbände all dies habe ich schon immer gerne gewälzt, lasse mich inspirieren und schwelge darin, doch mal nach A oder B zu reisen. In der Realität bin ich, ehrlich gestanden, ein ziemlicher Reisemuffel. Die Planung, das Studieren möglicher Reiseorte, das Abwägen und nicht zuletzt das genaue Erkunden der Vor- und Nachteile faszinieren mich am meisten. Von der Reise selbst halten mich sehr oft die langen Wege, womöglich noch in einem viel zu engen Flugzeug ab. Manchmal reise ich einfach beim Schauen durch das kleine Teleskop auf meinem Balkon, vom Jupiter über den Saturn direkt in den Orionnebel.
Doch auch als Reisemuffel war ich schon zweimal auf der anderen Seite der Welt in Australien und hatte das Privileg, viele Länder in Europa und den Nahen Osten bereisen zu dürfen. Die Möglichkeit zu reisen für (fast) jedermann besteht noch nicht sehr lange. Über einen langen Zeitraum hinweg war das Reisen den höheren Ständen oder Gesellschaftsschichten vorbehalten. Die Kavaliersreisen der jungen Adeligen, in denen sie andere Lebenswelten kennenlernen und sich »Hörner abstoßen« sollten, waren eine Form des Reisens. Eine andere die Künstlerreisen. Legendär ist Goethes (1749-1832) »Italienische Reise«. Goethe besuchte den Sehnsuchtsort damaliger bildender Künstler und Schriftsteller. Diese Reise eröffnete ihm neue Welten, und sein Stil veränderte sich nachdrücklich. Er steht mit dieser Reise in einer Tradition der Bildungsreise, die in der Literatur im bürgerlichen Realismus vom Bildungsroman aufgegriffen wurde. Egal, ob Gottfried Kellers (1819-1890) »Grüner Heinrich« oder Adalbert Stifters (1805-1868) »Nachsommer«, um nur zwei Beispiele zu nennen, stets sind es die Reisen und die dabei gesammelten Erfahrungen, die die Protagonisten zum Mann werden lassen. Sie ähneln damit in gewisser Hinsicht den mittelalterlichen »Artus-Romanen«, in denen es um die Reifung des Protagonisten geht. Egal, ob »Erec« oder »Iwein«, ob »Parzival« oder »Tristan«, stets stehen die Helden vor der Aufgabe, ihren angestammten Sitz zu verlassen, eine »Aventuire« zu bestehen, geläutert und gereift zurückkehren. Ähnlich dem listigen Odysseus, der erst nach zehnjähriger Fahrt verbunden mit zahlreichen Abenteuern von der siegreichen Schlacht um Troja zurückkehrte. Ganz anders Theodor Fontanes (1819-1898) »Wanderungen durch die Mark Brandenburg«. Sie erschließen den Nahraum von Berlin. In Fontanes Romanfiguren wird der Unterschied männlicher und weiblicher Lebenswelten am Reisen und damit der Welterschließung deutlich. Man denke nur an Effis Furcht vor dem Chinesen in »Effi Briest«. Madame de Stael (1766-1817) ist ein Gegenbeispiel. Sie bereiste Deutschland. Ihr Buch »Über Deutschland«, das im napoleonischen Frankreich verboten war, zeigt ein idealisiertes Deutschlandbild. Eine andere Form der Reiseliteratur schuf Annemarie Schwarzenbach. Sie bereiste beispielsweise Persien und Afghanistan. Ihre Fotografien und schriftstellerischen Berichte legen Zeugnis von der Faszination ab, die diese unbekannten Welten auslöste. Konnte Annemarie Schwarzenbach (1908-1942) als Industriellentochter ökonomisch abgesichert reisen, machte sich Friedrich Gerstäcker (1816-1872) als »Abenteurer« auf den Weg. Im Jahr 1837 reiste er erstmals in die Neue Welt und schlug sich mit verschiedenen Arbeiten durch. Besonders sagte ihm das Leben als Jäger zu, bei dem er die Weiten des seinerzeit in Europa noch weitgehend unbekannten Kontinents durchstreifte. Zurückgekehrt nach Deutschland veröffentlichte er 1843 seine ersten Werke und begründete damit seinen schriftstellerischen Erfolg. Dank dieses Erfolgs konnte er weitere Reisen nach Nord- und Südamerika bis nach Australien antreten. Ganz anders Karl May, in dessen Werk Reisen eine immense Rolle spielen, der aber selbst nie einen Fuß in die beschriebenen Welten setzte. Weder war er in Nordamerika, wo seine Romane rund um Winnetou und Old Shatterhand spielen, noch im wilden Kurdistan. Seine Beschreibungen entspringen der Literatur und vor allem seiner Fantasie.
Die Literatur ist reich an Beispielen von Fernweh und der Entdeckung unbekannter Welten. Dabei geht es sehr oft zum einen um die Beschreibung der wahrnehmbaren neuen Umgebung und zum anderen um die innere Entdeckungsreise, um das Finden von sich selbst. Mit Büchern wie »100 Gramm Wodka«, »Tel Aviv – Berlin« oder »König der Hobos« verbindet Fredy Gareis (geb. 1975) den Reiz des Abenteuers mit persönlichen Erlebnissen auf moderne Weise.
Doch nicht nur in der Literatur spielt Reisen eine wichtige Rolle. Das Reisen spiegelt sich ebenso in der Fotografie, in Zeichnungen oder Bildern. Künstler, die im 18. und 19. Jahrhundert auf Reisen gingen, hielten das Erlebte nicht nur in Worten, sondern ebenso in Zeichnungen und Bildern fest, oder sie brachten Exponate von ihren Reisen mit, die heute auf ihre Provenienz untersucht werden. Ein besonderer Reisender darf in diesem Kontext nicht unerwähnt bleiben: Alexander von Humboldt (1769-1859). Seine Reisen nach Süd- und Nordamerika sowie Zentralasien waren keine Abenteuer-, sondern Forschungsreisen. Humboldt ging dabei bis an den Rand seiner körperlichen Belastbarkeit.
Mit dem Fernsehen entstanden neue Formen von Reisen und Gattungen. Die Reisereportage, sei es mit dem Zug oder anderen Verkehrsmitteln, ist eine eigenständige Form. Legendär sind für mich persönlich nach wie vor die Reportagen von Gerd Ruge (1928-2021), Fritz Pleitgen (1938-2022) oder auch Klaus Bednarz (1942-2015), in denen nicht nur Landschaften, sondern ebenso Menschen und Lebensweisen vorgestellt wurden. Das Besondere daran ist, dass sie nicht die Reisenden, sondern die Reise in den Mittelpunkt stellten.
Für den Kulturbereich nicht außer Acht zu lassen sind ferner die Städtereisen, die von einem Miteinander von touristischen Zielen und Kulturgenuss geprägt sind.
Fernweh scheint ein Lebensgefühl von Menschen zu sein. Bei den einen ist es so stark, dass sie tatsächlich in die Ferne ziehen müssen, bei den anderen reichen ein mitreißendes Buch, Fotos oder Filme – oder der Blick durchs Teleskop. Egal, zu welcher Kategorie Sie gehören, lassen Sie sich auf den nächsten Seiten mitnehmen auf Reisen.
Ich danke dem Kultur- und Reisejournalisten Jürgen König, der uns auf die Idee gebracht hat, das Reisen zum Schwerpunkt dieser Ausgabe zu machen, und der uns intensiv beraten hat.