Wir in den westlichen Industriegesellschaften leben in einer Hochgeschwindigkeitswelt, aus der wir während der Urlaubstage auszubrechen versuchen, um die Unzumutbarkeiten dieser verrückten Welt hinter uns zu lassen. Gelingen solche Abstecher in die Kontrastwelten, dann sind Urlaube kleine Fluchten und zeitlich begrenzte Therapieversuche, durch die wir der von Jürgen Habermas so bezeichneten »Dreifachentzweiung des Ich« entgegenwirken: der Entzweiung mit der Natur, der Gesellschaft und sich selbst. Aber es toben während dieser Tage auch viele ihre individuellen Eigenheiten aus, denn Reisen und Urlauben gehören längst zur Ausgestaltung von Lebensentwürfen. Lebensstile – so der Soziologe Andreas Reckwitz – werden geradezu »kuratiert« und in der Wahl des Urlaubs das romantische Ideal der Selbstverwirklichung mit dem bürgerlichen, leistungsbezogenen Streben nach Status und Bildung zusammengeführt. Dahinter steckt als zentrale Antriebskraft nicht nur die Neugier, sondern auch die Jagd nach dem Schönen, dem Einzigartigen, nach Exotik, Genuss und Intensität – nach dem kleinen Glück als Lebenssinn.

Touristen wollen etwas erleben, das Besondere des Ortes erfahren, und die Destination muss Emotionen auslösen. Ein Erlebnis – das Zauberwort der Tourismusindustrie – wird ein solches, wenn die Menschen von einem Ereignis gefesselt werden und die Situation ein gefühlsbetontes Ergriffensein auslöst. Ein Erlebnis bricht mit dem Alltag für eine bestimmte Dauer, hat einen Anfang und ein Ende, berührt, wird erinnert und höchst subjektiv bewertet.

Kern der Erlebnisinszenierungen ist die emotionale Aufladung der touristischen Dienstleistung durch ein oder mehrere Inszenierungsthemen. Besuche von Welterbestätten, der Kanäle von Venedig und Amsterdam, des barocken Salzburg, von Monumenten versunkener Welten wie dem Taj Mahal oder der Tempel von Angkor Wat, der Königsschlösser von Versailles oder Wien – sie entsprechen einer »Reise in die Zeit als Ort gesteigerter Empfindung«, wie das der Historiker Valentin Groebner nennt. Sie lösen die Versprechen von unverwechselbaren, einmaligen Erlebnissen bestens ein und werden von Besuchern deswegen überlaufen. Aber es entsteht Wertschöpfung, denn der Tourismus ist ein Milliardengeschäft.

Neubewertung des Ausgemusterten

Einmaligkeit versprechen auch Ritualhandlungen in Form von Bräuchen und Festlichkeiten im Jahresreigen, als Chiffren des gelebten kulturellen Erbes rücken sie zusehends ins Zentrum touristischer Aufmerksamkeit. Die fortschreitende Globalisierung hat dem Heimatlichen bzw. dem eigenen Umfeld eine erhöhte Wertschätzung verliehen. Kulturerbe wird daher definiert als Neubewertung des Obsoleten, des Gefährdeten, des Ausgemusterten oder gar Ausgestorbenen. Durch Inszenierung wird den betroffenen Dingen, Orten oder Praktiken ein zweites Leben eingehaucht. Heustadel in der Tiroler Berglandschaft – längst haben sie ihren ursprünglichen Zweck verloren – stehen heute als Zeichenträger für eine sommerliche, »intakte« Kulturlandschaft und auf diese Weise im Dienste des Tourismus.

Wäre Kulturerbe nur die Unterschutzstellung des Gefährdeten, des Ausgemusterten, das damit vor dem Vergessen bewahrt wird, so würde man Traditionen und bewährten Lebenspraktiken aber nicht gerecht werden. Kulturerbe ist nicht reduzierbar auf Inszenierungen, die einem bestimmten touristischen Zweck dienen und als Aufführung besonders pittoreske oder spielerische Aspekte eines kulturellen Zusammenhangs herausgreifen und vermarkten. Vielmehr bilden manche die Fundamente kultureller Ordnung, wirken wie »Schnüre vom Himmel« als Schutzgeister des Neuen. Wahrnehmung, Emotionalität und Erinnerung sind wesentliche Komponenten in der Konstruktion touristischer Erlebnisse. Touristen reisen Bildern nach, imaginären Geografien, die sie über die Sozialisation, über Mythen und Erzählungen erworben haben und zu Sehnsüchten sowie Erwartungen wurden. Im Tourismus wird den Gästen somit ein Theaterstück vorgespielt. Österreicher, Bayern, Südtiroler und Schweizer bieten auf der Vorderbühne eine Inszenierung mit stereotypen Alpenbildern, von denen man annimmt, dass die Gäste daran Gefallen finden, weil sie als typische Bilder im Umlauf sind und ihre Wiedererkennung eine Befriedigung verschafft.

Echt oder nicht echt? Wen interessiert das?

Die Handlungslogik der theatralen Geste orientiert sich an der gekonnten Darstellung – aus dem Ritual wird ein Schauspiel. Der Grat zwischen dem Echten, dem lebensweltlich Bedeutsamen, und der Bühnenfassung ist schmal, wie auch die Aufgabe, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen, d.h. der sensible wie verantwortungsbewusste Umgang mit dem kulturellen Erbe, eine enorme Herausforderung darstellt.

Kaum eine Region kommt heutzutage ohne ihr eigenes Kultursommer-Festival aus, keine Alm, auf der neben Kühen oder Schafen nicht auch Wanderer aus Wuppertal oder Groningen der Sennerin über die Schulter schauen, kein Auftritt einer Trachtenkapelle, bei der nicht die Smartphone-Kameras der Weltenbummler im Dauereinsatz stehen. Wie für uns die Tänze der Massai oder der Schamanen im Himalaya, sind für die Gäste aus China, Philadelphia oder Westfalia die Aufführungen in den touristifizierten Alpendörfern der pure Exotismus. Fronleichnamsprozession, Goldhaubengeschwader, Hengstauf- und Kuhabtrieb, Fingerhakeln, Samson tragen und Hundstoa-Ranggeln – alles Augen-und-Ohren-auf-Erlebnisse! Volkskundler wie Konrad Köstlin stellen sich die Frage, ob es nicht dem Tourismus zu verdanken sei, dass der eine oder andere Brauch noch existiert, denn die bunten volkskulturellen Bräuche machten ohne den Tourismus ja kaum noch Sinn: »Lokale Selbstfeier braucht ihr Publikum, braucht Resonanz. Tourismus und Volkskultur gehören zusammen, sind Zwillinge.«

Klingt ein wenig provokant, aber das Leben auf dem Land hat sich verändert und damit auch die Lebensweisen. Viele bäuerliche Kleinbetriebe wurden im Laufe der letzten 50 Jahre zu touristischen Dienstleistern im Nebenerwerb, weil weder die Felderträge noch die Agrarförderung zum Überleben ausreicht. Mit dem Tourismus entstand die Erlebnisraumbewirtschaftung, die Heimische, Gäste und Landschaft in einen Dienstleistungszusammenhang stellt. Im Salzburger Land etwa versteht es die Bevölkerung ganz gut, Kulturerbe und Tourismus in funktionierende Lebenserwerbsstrategien einzubinden. Mit Bedacht geplant und betrieben wird daraus eine vernünftige, durchaus lukrative, auf die begrenzten lokalen Ressourcen und Gegebenheiten Rücksicht nehmende Form des Wirtschaftens. Als solche hat sie Einfluss auf das alltägliche Leben, prägt sie die Lebensformen und die Rituale der Interaktion. Die positive Verknüpfung von Modernität bzw. angemessenem Mit-der-Zeit-Gehen und Lokalität findet ihren Niederschlag in Ansätzen von integraler Regionalpolitik. Wo das gelingt, führt Regionalkultur nicht zu einer lediglich aus historischen Versatzstücken und Erinnerungszitaten bestehenden Markenartikel-Identität, sondern wird zur gelebten Besonderheit, die einen Teil der Attraktivität der Region ausmacht.

Die Liste der lebendigen Traditionen – von der UNESCO als immaterielles Kulturerbe und als schützenswert definiert – ist in den Alpenländern bunter als anderswo, weil die alpine Topografie über die Jahrhunderte eine besonders reichhaltige Diversität hervorgebracht hat. Darunter sind jene Konventionen, Anleitungen zum Handeln, Wissen im Umgang mit der Natur, Handwerkstechniken, aber auch darstellende Künste und soziale Praktiken zu verstehen, die sich auf altes Wissen berufen, aber für aktuelle Herausforderungen sehr wohl noch Antworten und Lösungen parat haben.

Rituale wie das Historienspiel der Landshuter Hochzeit 1475 oder Krampusläufe haben nicht nur eine hohe gemeinschaftsbildende Bedeutung für die lokale Bevölkerung, sondern auch Relevanz für den Tourismus. Feste sind deshalb so attraktiv, weil sie das Spielerische am Ritual farbenfroh und vielgestaltig akzentuieren. Damit bieten sie auch einen preiswerten Rohstoff für touristische Angebote im Sinne einer polternden Erlebniskultur. Erinnert der Massentourismus eher an derb volkstümliche mittelalterliche Feste, Stichwort Oktoberfest, so führen Kultur- und Bildungsreisen über den eigenen Horizont hinaus. Gelingt die Begegnung mit der anderen Kultur, führt dies vielleicht sogar zu einer neuen Weltsicht.

Mit den rituellen Feiern hat der Tourismus gemeinsam auch die Verwandlung, das Spiel, das Vergnügen, die im Kontrast zum Ernst des Lebens stehen. Die Urlaubsdestination wird zu einem Gegenraum, der für die erlittenen Niederlagen des Alltags entschädigt, zu einer Heterotopie, einem Ort des Glücks ohne Echtheitsanspruch, wo die Utopie des guten Lebens zur Realität wird oder werden sollte.

Das Bäuerliche im Sonntagsgewand

Dass die Inhalte der alten Volkslieder, die Trachtenkapellen, die Holzschnitzereien, das meiste, was als Volkskultur bezeichnet wird, mit der heutigen Wirklichkeit nur noch peripher übereinstimmt und häufig extra für den zahlenden Gast aufgetischt wird, ist sowohl den Einheimischen wie den Gästen bewusst. Die Qualität eines »stimmigen Produktes« bemisst sich somit in einem Interaktionsprozess mit den Zielgruppen. Am deutlichsten sichtbar wird dies in der Kulinarik. Beim Essen hat sich die regionale Küche als räumliche Besonderheit mit »Echtheitscharakter« durchgesetzt, und beim Wein garantieren geografische Herkunftsangaben schon lange das spezifische Terroir und damit Hochwertigkeit von Körper, Harmonie und Abgang.

So hart und fremd die bäuerliche Lebenswelt den Gästen auch scheinen mag, im Tourismus gibt es die ländlich-bäuerliche Kultur nur im Sonntagsgewand, in romantisierendem bzw. nostalgischem Zusammenhang. Ohne Inszenierung geht es gar nicht, weil der Alltag der Bereisten kein attraktives Produkt per se darstellt. Nicht ihre Normalität interessiert die Gäste, sondern die Buntheit der kulturellen Formen, ihre Besonderheiten, ihr an der Natur und mit Tieren ausgerichtetes Leben, ihr Exotismus – und das in einer choreografierten Form. Die facettenreiche Ikonografie der Sehnsuchtslandschaft Alpen bildet die Erlebnis-Software für Erholungs- und Abenteuersuchende. So trägt sie dazu bei, zielgruppengenaue Angebote zu entwerfen und die Betten des postmodernen Tourismus zu füllen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 10/2023.